5/2023 5/2023

Trend zur »Turbo-Therapie«

Von Kerstin Sude

Führt der politische Druck auf die psychotherapeutische Versorgung dazu, dass kürzer behandelt wird? Es ist an der Zeit, die Notwendigkeit von Langzeittherapien klarer zu vertreten und zu begründen.

Eine Analyse von Abrechnungsdaten [1] der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) hat ergeben, dass Behandlungen mit Kurzzeittherapien zugenommen haben: Etwa 77 Prozent der Therapien wurden in Form einer Kurzzeittherapie von maximal 24 Sitzungen erbracht. (In der Vorgängerstudie [2] zu den Jahren 2009 bis 2012 waren es noch etwa 70 Prozent.)

Die Diagnosen offenbaren eine hohe Krankheitslast: Mit 49 Prozent hat fast die Hälfte der Patient:innen vier oder mehr gesicherte Diagnosen aus dem F-Kapitel der ICD-10 – Psychische und Verhaltensstörungen. Bei 37 Prozent sind es zwei oder drei Diagnosen. Komorbidität ist also die Regel.

Grundlage dieser von Ulrike Böker (Bundesverband der Vertragspsychotherapeuten / bvvp) und Gebhard Hentschel (Deutsche PsychotherapeutenVereinigung / DPtV) durchgeführten Analyse sind pseu­donymisierte Daten von 462.635 Versicherten, die 2018 mindestens eine Leistung im Rahmen der Richtlinienpsychotherapie erhielten.

Wichtig erscheinen mir die Ergebnisse der Studie, weil sie Trans­parenz schaffen. Anfang 2023 griff beispielsweise Karl Lauterbach wieder einmal den bei vielen Krankenkassenvertreter:innen und Politiker:innen beliebten Mythos auf, der durch ständige Wiederholungen nicht wahrer wird: „Psychotherapeuten behandeln bevorzugt leichte Fälle, und das auch noch viel zu lange …“ Wo kommt diese kognitive Verzerrung her?

Sowohl die Erfahrungen in unserer Gemeinschaftspraxis in Hamburg wie auch die von Kolleg:innen sowie eine ganze Reihe von empirischen Studien widerlegen seit langem und immer wieder dieses Vorurteil. Die eigentliche Frage ist: Warum haben Psychotherapeut:innen immer wieder und schon seit Jahren die Krankheitslast von Patient:innen in die Öffentlichkeit zu tragen und zu belegen?

In jeder psychotherapeutischen Praxis, die meine Kolleg:innen und ich kennen, werden sehr unterschiedliche Störungsbilder und Schweregrade behandelt. Es sind häufig schwere Fälle, und es ist an der Zeit, den Scheinwerfer stärker auf die Themen Bedarfe und auch Langzeittherapie (LZT) zu richten. Der politische Druck, der seit längerer Zeit ausgeübt wird, in der Tendenz schneller, kürzer, digitaler (ist das wirklich ökonomischer?) zu behandeln, führt offenbar schon jetzt dazu, dass Langzeittherapien weniger angewandt werden. Da sehe ich eine kritische Entwicklung. Es ist an der Zeit, die Notwendigkeit von Langzeittherapien klar(er) zu vertreten und zu begründen.

Bei der Anzahl an Therapieplatz-Anfragen, mit denen die Praxen überhäuft werden, insbesondere während und „nach“ der Pandemie, hat kein:e Psychotherapeut:in Interesse daran, länger als nötig Plätze „zu belegen“.

Möglicherweise könnte Karl Lauterbach in unserer interdisziplinären Praxis das Telefon während der „Telefonzeit“ bedienen, um sich einen besseren Eindruck zu verschaffen. Die Notwendigkeit, telefonisch abzusagen oder in der Kurzzeittherapie (KZT) I (direkt nach ca. 4 bis 5 Sitzungen) einen weiteren Antrag stellen zu müssen, frisst unsere Behandlungszeit, die hakelige Telematik verschlingt Zeit, die geplante „Qualitätssicherung“ wird weniger Therapiezeit, dafür jedoch mehr bürokratische Hürden bringen (vgl. KVH-Journal 2/2023). Dies, obwohl im Koalitionsvertrag der Bundesregierung aufgrund der zunehmenden Wartezeiten und psychischen Notlagen vereinbart wurde, Lösungen zur Verbesserung der psychotherapeutischen Versorgung zu finden. Zentral dafür wäre eine nachhaltige Reform der Bedarfsplanung. Die Behandlung psychischer Störungen sollte als anerkannte Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung selbstverständlich ausreichend vorgehalten und finanziert werden.

Wenn wir uns die Häufigkeit der gesicherten F-Diagnosen in der Studie anschauen, so dominieren affektive Störungen, neurotische wie auch Belastungs- und somatoforme Störungen. Diese erhobenen Diagnosen zeigen das, was wir täglich in der Praxis erleben: Patient:innen kommen nicht mit „Kleinigkeiten“, einer „leichten Niedergeschlagenheit“ oder „Seelenschnupfen“, warum auch? Erst nach Wochen, Monaten, oft Jahren seelischen Leidens, kaum erträglichen Symptomen, nach alternativen Behandlungsversuchen kommen sie in die psychotherapeutische Sprechstunde, um Hilfe zu suchen.

Die Tatsache, dass es nicht ausreichend Behandlungsplätze gibt, haben wir Therapeut:innen gegenüber den Patient:innen zu verkünden, die Gesundheitspolitik hat die Auseinandersetzung mit dem Leid „verschoben“. Aber zur Heilung psychischer Erkrankungen gibt es keine „Turbo-Therapie“. Die Erkrankten benötigen Zeit, die Komorbiditäten müssen gesehen, erfasst und behandelt werden. Behandlungsstunden werden dem Krankheitsbild und den Erfordernissen individuell angepasst.

Der Fokus von Politik und Krankenkassen auf die KZT ist einerseits verständlich, versperrt manchmal jedoch die Sicht auf die therapeutischen Notwendigkeiten. Wie viele KZT mussten in eine LZT umgewandelt werden? Eine psychische Erkrankung trifft das Individuum in seiner Beziehung zu anderen, es bedarf, und dies kann nicht oft genug benannt werden, ausreichend Wissen, erfahrene Zuwendung und Zeit (…und nicht von Avataren), um beispielsweise neben der Psychopathologie, der Symptomatik auch die relevante, meist biografisch bedingte Erlebens-, Konflikt- und/oder Verhaltensebene zu erfassen und in die Genesung zu bringen.

Auch die übergeordnete therapeutische Beziehung braucht Zeit und Vertrauen, um sich zu entwickeln. Sie ist mit ein sehr entscheidender Faktor für einen positiven Verlauf von Psychotherapie, neben den individuell angewendeten Methoden/Verfahren. Nicht zuletzt spielt die Sicherheit bewilligter (Stunden-) Kontingente in der therapeutischen Beziehung eine grundlegende Rolle.

In dieser (therapeutischen) Allianz in Ruhe zu arbeiten, mag für einige Politiker:innen und Krankenkassenvertreter:innen zunächst befremdlich klingen, gleichzeitig dürfte es mit das Nachhaltigste sein, was wir auf der Heilungsebene kennen. Das wissen die Heilkundigen, und es ist empirisch belegt.

In der Krise zuzuhören, zu verstehen, mit geschultem Blick und Ohr (auch unbewusste) Verstrickungen, destruktive Muster anzusprechen, dies bedarf mehr als in der KZT möglich. Wie sonst kann Symptomlinderung, seelische Heilung, Selbstfürsorge, selbstwirksames Erleben bei depressiven, zwanghaften, schwer ängstlichen, somatisierenden, onkologisch und anders schwer erkrankten Patient:innen aktiviert werden?

Die KZT hat ihren Wert, hier mögen sich erste „Besserungen“ einstellen, vor allem Ressourcen und wieder Hoffnung aktivieren lassen, doch nicht selten spielen bei den psychischen Erkrankungen, die wir sehen, tieferliegende Aspekte wie schwerste biografische Ereignisse, emotionale Defizite, Traumata, tiefe Vernachlässigung, Misshandlung/Missbrauch, frühe, plötzliche Verluste etc. eine Rolle.

Eine solche Behandlung bedarf deutlich längerer Prozesse. Insofern ist mir wichtig, Menschen in ihrer psychischen Vulnerabilität und Krise gerade nicht das Paradigma von mehr Effizienz und Tempo überzustülpen. Die Qualität des Tuns in der Psychotherapie inklusive des ärztlichen Tuns liegt vielfach nicht im messbaren, sondern in oft unsichtbaren, nicht messbaren Reflexionsprozessen innerhalb des Raumes der Therapie.

Der immer stärkere Ökonomisierungsdruck im Gesundheitswesen (noch kürzer, schneller, effektiver …) verstärkt die Gefahr, psychisch Erkrankte zu verkürzt und damit langfristig nicht ausreichend wirksam zu behandeln. Nicht zuletzt bleibt es eine Frage des zugrundeliegenden Menschenbildes. Insofern ist dieser Kommentar ein ergänzender Blick auf die vorliegende KBV-Studie, ein Plädoyer zur Sicherung und Verteidigung von mehr Zeit und Reflexion für die Therapie, vor allem für die benötigten Langzeittherapien, insbesondere auch in der psychotherapeutischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen.

[1] Hentschel, Gebhard / Böker, Ulrike: Therapielängen bedarfsgerecht – Kurzzeittherapien überwiegen. DPtV Hintergrund 1.2023; https://www.dptv.de/fileadmin/Redaktion/BilderundDokumente/Wissensdatenbankoeffentlich/DPtVHintergrund/DPtV-Hintergrund_1.2023.pdf

[2] Multmeier, Jan / Tenckhoff, Bernhard: Autonomere Therapieplanung kann Wartezeiten abbauen. Dt. Ärzteblatt PP Ausgabe, März 2014, Seite 110; https://www.aerzteblatt.de/archiv/156403/Psychotherapeutische-Versorgung-Autonomere-Therapieplanung-kann-Wartezeiten-abbauen

KERSTIN SUDE
ist psychologische Psychotherapeutin in Hamburg und Vorsitzende der Landesgruppe Hamburg der Deutschen Psychotherapeuten Vereinigung (DPtV)