Ein bürokratisches Monster
VON HANNA GUSKOWSKI
Das geplante QS-Verfahren für die ambulante Psychotherapie wird gegen den Widerstand aller großen psychotherapeutischen Berufs- und Fachverbände vorangetrieben. Der Nutzen des Verfahrens ist unklar – doch es gibt massive Risiken für die Versorgung.
Am 15. August 2022 wurde der Abschlussbericht des Instituts für Qualität und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) zum Fragebogen zur Patientenbefragung veröffentlicht. Dieser Fragebogen soll künftig im Rahmen des gesetzlich beschlossenen Qualitätssicherungsverfahrens (QS-Verfahrens) in der Psychotherapie eingesetzt werden.
Bereits acht Monate (!) vorher war er fertiggestellt worden. Anfang Dezember 2022 gaben dann alle großen psychotherapeutischen Berufs- und Fachverbände eine gemeinsame Stellungnahme zu diesem vom IQTIG entworfenen Fragebogen ab, die allerdings vernichtend war.
Hintergründe und Bewertungen
Das sich in Entwicklung befindende QS-Verfahren für die ambulante Psychotherapie sollte eigentlich spätestens zum 1. Januar 2023 implementiert werden.
Die Entwicklung dieses Verfahrens und das Datum des Inkrafttretens wurden auf Antrag des Spitzenverbandes der Krankenkassen 2018 im Plenum des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) beschlossen. Ein entsprechender Auftrag zur Umsetzung dieses Beschlusses wurde vom G-BA an das IQTIG übergeben. Dieses QS-Verfahren soll demnach einrichtungsübergreifend und sektorspezifisch sein, mit geeigneten Indikatoren zur Beurteilung von Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität sowie Mindestvorgaben für eine einheitliche und standardisierte Dokumentation enthalten, die eine Beurteilung des Therapieverlaufs ermöglichen.
Es war geradezu abzusehen, dass ein dermaßen komplexer Auftrag in dem geplanten Zeitraum nicht zu bewältigen sein würde. Tatsächlich ist die Einführung des QS-Systems nun für 2025 oder sogar erst 2026 geplant.
Dieses QS-Verfahren ist grundsätzlich als Teil der sog. “Datengestützten einrichtungsübergreifenden Qualitätssicherungsrichtlinie (DeQS-Richtlinie, seit Anfang 2019 in Kraft) konzipiert, wie alle QS-Verfahren im Gesundheitswesen, die z.Zt. existieren oder in Planung sind.
Die DeQS-Richtlinie gilt gleichermaßen für ärztliche, psychotherapeutische, stationäre und ambulante Behandlungen. Ihr Ziel ist es, durch objektive Messungen Vergleichbarkeit unter Behandlerinnen und Behandlern herzustellen, die erhobenen Daten im Netz zu veröffentlichen und so die Selbstbestimmung von Patienten bei der Wahl ihrer Behandlerinnen zu stärken. „Auffällige“ Behandler sollen identifiziert und sanktioniert, Qualität und Wettbewerb so gestärkt werden.
Die Richtlinie besteht aus einem allgemeinen Teil, in dem die Rahmenbedingungen für alle angegliederten QS-Verfahren beschrieben werden, u.a. wie Daten erhoben, verarbeitet, genutzt und übermittelt werden sollen, um Vergleichbarkeit unter Behandlerinnen herzustellen.
Diese gesammelten Daten sollen dann von so genannten Landesarbeitsgemeinschaften (LAGs) ausgewertet werden. Dort wird entschieden, welche Behandler als auffällig gelten und welche Sanktionen in Kraft treten sollen. Auch das Vorgehen bei der Bewertung von Auffälligkeiten wird in diesem allgemeinen Teil der DeQS-Richtlinie beschrieben.
Neben diesem allgemeinen Teil gibt es spezielle Teile, in denen die QS für einzelne Verfahren beschrieben werden. Bisher sind 15 solcher QS-Verfahren definiert worden. Drei davon betreffen sektorenübergreifende Bereiche, die übrigen zwölf ausschließlich den stationären Bereich. Bei allen geht es um ärztlich-somatische Themen, wie z.B. Nierenersatztherapie oder Vermeidung postoperativer Wundinfektionen.
In dieses System soll nun auch die ambulante Richtlinienpsychotherapie eingegliedert werden.
Das erste Problem
Hier zeigt sich bereits ein gravierendes Problem: Wie sollen in einem Bereich, in dem es um die Linderung von psychischem Leid geht, Leitkriterien wie Konkurrenz, Wettbewerb, Benchmarking und Sanktionen die Qualität der Behandlung steigern können? Solche Kriterien verkennen in eklatanter Weise die Situation und die Bedürfnisse psychisch kranker Menschen, sowie die Notwendigkeiten deren Behandlung.
Das zweite Problem
Erschwerend kommt eine weitere gesetzliche Regelung ins Spiel. In einer geradezu überfallartigen Aktion, ohne Absprache mit den betroffenen Berufsgruppen, nur wenige Tage vor der Verabschiedung des Psychotherapieausbildungsreformgesetzes (November 2019) und nach der Anhörung aller psychotherapeutischen Expertinnen zur Ausbildungsreform, fügte der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn einen kleinen Passus in eben dieses Gesetz ein, der inhaltlich nichts mit der Ausbildung zu tun hatte, dafür aber einen tiefen Eingriff in die bisherigen Bestimmungen zur Ausübung des psychotherapeutischen Berufs darstellte. Er legte in diesem Passus nämlich fest, dass „sämtliche Regelungen zum Antrags- und Gutachterverfahren aufzuheben“ seien, “… sobald ... ein Verfahren zur Qualitätssicherung eingeführt ...“ wurde, spätestens aber zum 31. Dezember 2022 (§ 92 SGB V).
Nun ist aber das Gutachterverfahren in der Psychotherapie dazu gedacht, Diagnose, Indikation, Umfang der Therapie, das geplante therapeutische Vorgehen, Prognose und Wirtschaftlichkeit dieser Planung für eine individuelle Patientin/einen Patienten zu begründen und gutachterlich zu überprüfen.
Entsprechend der gutachterlichen Empfehlung wird dann das beantragte Stundenkontingent von den Krankenkassen vorab genehmigt – oder auch nicht. Durch die damit verbundene Vorwegnahme der Wirtschaftlichkeitsprüfung wird ein festes Stundenkontingent, ein sicherer Zeitrahmen für Patienten geschaffen, in dem therapeutische Prozesse sich überhaupt erst entfalten können. Genau dieser sichere Rahmen, ein elementarer Bestandteil der Strukturqualität jedes Therapieverfahrens, soll nach dem Willen des ehemaligen Bundesgesundheitsministers nun also beseitigt werden.
Gutachterverfahren und DeQS-Verfahren haben also – wie beschrieben – völlig unterschiedliche Funktionen und Ziele. Eine Begründung für die gesetzliche Koppelung zwischen der Einführung eines DeQS-Verfahrens in die ambulante Psychotherapie und der Abschaffung des Gutachterverfahrens gibt es vom Gesetzgeber nicht. Offen gelassen wurde vom Gesetzgeber auch, von wem und wie stattdessen Stundenkontingente für Psychotherapien vergeben werden sollen.
Das aktuelle Ergebnis – Beharren auf einem bürokratischen Monster
Der Berg kreißte – aber leider gebar er in diesem Fall keine Maus, sondern ein bürokratisches Monster. Es sind in den zurückliegenden Jahren bereits zahlreiche grundsätzliche und immer hochkritische Resolutionen, Manifeste und Pressemitteilungen zu den DeQS-Verfahren verabschiedet worden: von Ärztinnen und Psychotherapeuten, von Berufs- und Fachverbänden, von Landes- und Bundeskammern, von der KBV-Vertreterversammlung. Auch die Vertreterversammlung der Hamburger KV hat eine entsprechende Resolution einstimmig verabschiedet.
Zentrale Kritikpunkte sind u.a. der Paradigmenwechsel von berufsinterner Qualitätssicherung hin zu externer Kontrolle und Sanktionen; Konkurrenz, Wettbewerb und Effektivitätssteigerungen als leitende Kriterien in einem Bereich, der mit der ausschließlichen Orientierung an diesen Kriterien den Patientinnen und Patienten nicht gerecht werden kann; die überbordende Bürokratie bei fehlendem Nutzen für die Patienten (Stichproben erfüllen wissenschaftlich belegt den gleichen Nutzen wie Vollerhebungen, sind aber deutlich zeitsparender); die Ignoranz für bestehende Qualitätssicherungsinstrumente in der Psychotherapie (Intervision, Supervision, Arbeitskreise, Fortbildungen etc.). Leider änderte die Kritik bisher nicht viel am Inhalt der bisherigen DeQS-Systeme.
Das Ergebnis für die ambulante Psychotherapie bleibt erschreckend: Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sollen 100% (!) ihrer Therapien „datengestützt“ (d.h. mit noch zu konzipierender Software) dokumentieren. Diese Daten werden von den Praxen an eine Datenannahmestelle in der jeweiligen regionalen KV weitergeleitet, dort pseudonymisiert und über eine weitere Vertrauensstelle – nun komplett pseudonymisiert – an das IQTIG, die vom G-BA bestimmte Bundesauswertungsstelle, weitergeleitet.
Vom IQTIG werden diese Daten zusammengeführt mit Daten aus der Patientenbefragung (s.u.) und mit Sozialdaten der Krankenkassen, um dann in Bezug auf die definierten QS-Merkmale ausgewertet an die LAGs in den Regionen zurückgeschickt zu werden. Die LAGs werten diese Daten dann auf Auffälligkeiten von Behandlerinnen aus. Ziel s.o.: Qualitätswettbewerb, Benchmarking und Sanktionierung von sog. Low-Performern.
Patientinnen und Patienten sollen zusätzlich zu den Fragebögen, die sie vor, während und nach Ende der Therapie ausfüllen müssen, weitere Fragebögen zwei Monate nach Ende der Therapie ausfüllen. Dies sind die sog. Patientenfragebögen, die nun von allen großen psychotherapeutischen Berufsverbänden in ihrer gemeinsamen Stellungnahme vom Dezember 2022 scharf kritisiert wurden. (Der gesamte Bericht des IQTIG, inklusive des Patientenfragebogens, kann eingesehen werden unter https://iqtig.org/veroeffentlichungen/ambpt-patbefragung/)
Diese Kritik richtet sich zum einen auf die statistischen Fehlerquellen bzw. die fehlende Risikoadjustierung (die in der Tat sehr schwierig sein dürfte), die mit den geringen Fallzahlen und der fehlenden Vergleichbarkeit völlig unterschiedlicher Patientinnen in psychotherapeutischen Praxen zusammenhängen.
Zudem haben Befragungen erfahrungsgemäß nur einen geringen Rücklauf, dies reduziert die Fallzahl weiter. Welche Patientinnen sich an so einer Befragung beteiligen, dürfte ebenfalls sehr selektiv sein. Und was Patienten zwei Monate nach Abschluss einer Therapie noch über deren Anfang konkret und korrekt erinnern, ist ebenfalls zweifelhaft. Zusammengenommen lassen diese Faktoren keine statistisch validen Ergebnisse zu.
Diese invaliden Ergebnisse sollen dann aber die Grundlage für Sanktionen sein, wie z.B. Honorarkürzungen oder im schlimmsten Fall Zulassungsentzug.
Die Kritik richtet sich aber auch konkret gegen Inhalte und Formulierungen der 62 Items dieser Patientenfragebögen. Denn diese Items beziehen sich zu einem erheblichen Teil auf Aufklärung und Information zu Beginn der Therapie und entsprechen so mehr einer Checkliste, um die Einhaltung gesetzlicher Vorschriften zu kontrollieren. Das ist aber nicht die Aufgabe von QS-Instrumenten und lässt auch keine Aussage über die therapeutische Qualität einer Therapie zu. Viele Fragen sind negativ-suggestiv formuliert, so dass die Gefahr einer nachträglichen negativen Beeinflussung gegeben ist.
Die meisten Fragen lassen nur beschränkte Antwortmöglichkeiten zu, Patienten haben also gar nicht die Möglichkeit, ihre eigenen Erfahrungen aus der Therapie differenziert darzustellen. Und vor allem: Es fehlt der Nutzen! Sowohl für die Patientinnen und Patienten wie auch für die Therapeutinnen und Therapeuten.
Das QS-Modell, das zunächst spätestens zum 1. Januar 2023 eingeführt werden sollte, gekoppelt mit der Aufhebung des Gutachterverfahrens, soll nun aufgrund von notwendigen, vor allem technischen Nacharbeiten (im Wesentlichen der Entwicklung einer geeigneten Software) vermutlich erst zum 1. Januar 2025, möglicherweise auch erst 2026 eingeführt werden. Bis dahin läuft auch das bisherige Gutachterverfahren weiter.
Eine Ausweitung dieses sog. QS-Verfahrens auf Systemische und Gruppen-Therapie wird z.Zt. vom IQTIG vorbereitet, ohne erkennbare Berücksichtigung der vorliegenden inhaltlichen Kritik. Diese Ausweitung bzw. eine entsprechende Modifikation des Patientenfragebogens ist Teil der Nacharbeiten, mit denen das IQTIG vom G-BA beauftragt wurde.
Fazit
„Für zahlreiche der erhobenen Qualitätsmerkmale und Indikatoren konnte das IQTIG keine relevanten Qualitätsprobleme nachweisen. Auch konnte nicht dargelegt werden, inwieweit die Messung der vorgesehenen Indikatoren geeignet ist, eine Verbesserung der Versorgungsqualität zu bewirken.“ So stellt es die Bundespsychotherapeutenkammer in einer Resolution im Mai 2022 fest.
Durch das hier gewollte QS-System werden also mit viel finanziellem und bürokratischem Aufwand Lösungen für nichtexistierende Probleme gefunden, Behandlungskapazitäten vernichtet, therapeutische Prozesse nicht verbessert, sondern eher beeinträchtigt. Es werden Unmengen von Daten produziert, die man unter wissenschaftlichen Aspekten nur als Datenmüll bezeichnen kann, die aber im schlimmsten Fall justitiable Folgen haben sollen.
Die Frage, wie bzw. wodurch das Gutachtersystem ersetzt werden kann und wie weiterhin eine vorweggenommene Wirtschaftlichkeitsprüfung – auch ohne zwischengeschaltete Gutachterinnen – stattfinden kann, bleibt unbeantwortet.
Sämtliche psychotherapeutischen Berufs- und Fachverbände fordern, dass dieses „QS“-Modell, das über 40.000 Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sowie ihre Patienten betrifft, zunächst wenigstens erst einmal über fünf Jahre in einer Modellregion erprobt, evaluiert und modifiziert werden muss, bevor es flächendeckend eingeführt würde.
Kann die bisherige hohe psychotherapeutische Qualität so doch noch gesichert werden? Diese zentrale Fragestellung sollte im Mittelpunkt stehen und entscheidendes Kriterium für eine zukunftsfähige QS sein.
HANNA GUSKOWSKI
psychologische Psychotherapeutin in Eimsbüttel, Mitglied der Vertreterversammlung der KV Hamburg, bis Ende 2022 Sprecherin des Beratenden Fachausschusses Psychotherapie und Vorstandsmitglied der Landesgruppe Hamburg der DPtV