2/2023 2/2023

Strukturelle Überlastung

Von Dr. med. Claudia Schwarting

Die außergewöhnliche Infektionswelle traf den kinderärztlichen Notdienst mit voller Wucht. Wie erlebte das eine Ärztin, die oft in der Notfallpraxis am Kinderkrankenhaus Wilhemstift Dienst tut? Ein Erfahrungsbericht.

Die kinderärztliche Versorgung ist in diesem Winter an ihre Grenzen gekommen. Mitte Dezember 2022 berichteten die Medien, dass Hamburgs Kinderkliniken einige ihrer Patienten ins Umland schicken mussten. In einem Brandbrief der Mitarbeiter des Kinderkrankenhauses Wilhelmstift an die Hamburger Sozialbehörde und an das Bundesgesundheitsministerium heißt es: Mehrmals wöchentlich könnten schwer erkrankte Kinder nicht aufgenommen werden, weil Pflegekräfte fehlen.

Bereits Ende Oktober hatten die Hamburger Kinderarzt-Praxen einen Brief an die KV und an die Hamburger Sozialbehörde geschickt und vor Versorgungsengpässen gewarnt. Um das System zu entlasten, richtete die KV Anfang 2023 in den Räumlichkeiten der Notfallpraxis Altona (Stresemannstraße) tagsüber eine kinderärztliche Infektpraxis ein.

Während der Corona-Pandemie waren die Kinder lange isoliert. Sie trugen Masken, hatten weniger Kontakte und kamen in geringerem Maß mit Viren oder Bakterien in Berührung. Nun erleben wir ein nachholendes Krankheitsgeschehen in sehr massiver, konzentrierter Form. Ich absolviere viele Dienste in der Notfallpraxis am Kinderkrankenhaus Wilhelmstift – und die Infektionswelle hat uns schwer zu schaffen gemacht. Pro Dienst arbeitet in der Regel eine Ärztin oder ein Arzt zusammen mit zwei Pflegekräften. Wir fangen an Werktagen um 19 Uhr (Mo, Di, Do), 14 Uhr (Mi) und 16 Uhr (Fr) an – und sollten eigentlich um 23 Uhr fertig sein. Doch bereits vor Öffnung der Notfallpraxis warten dutzende Menschen vor der Tür, und in den darauffolgenden Stunden kommen so viele hinzu, dass wir manchmal bis zwei oder drei Uhr morgens ohne Pause durcharbeiten.

Früher kamen auch mal Kinder mit Bagatellerkrankungen in die Notfallpraxis. Wir hatten Zeit, in Ruhe mit den Eltern zu sprechen, die oft einfach nur unsicher waren oder Fragen hatten. In diesem Winter habe ich den Eindruck, dass etwa die Hälfte der Kinder in der Notfallpraxis schwer krank ist – mit hohem Fieber, Atemnot oder starkem Erbrechen und Durchfall. Einige davon würde man gerne sofort ins Krankenhaus einweisen, doch es gibt nicht genug Betten.

Manchmal ist die Verständigung schwierig: Wenn Eltern und Kinder weder Deutsch noch Englisch sprechen, müssen wir per Handy-Übersetzer kommunizieren. Die Kinder haben auch mehr Angst, wenn sie nicht verstehen, welche Untersuchungen jetzt stattfinden werden.

Es gibt meinem Eindruck nach insgesamt mehr Kinder in Hamburg, die versorgt werden müssen. Ich schätze, dass etwa ein Viertel der Familien, die in die Notfallpraxis am Wilhelmstift kommen, keine feste Kinderarztpraxis hat. Die Eltern berichten, dass sie bereits zehn bis 20 Praxen angerufen haben. Überall bekamen sie zu hören: Es geht nicht, wir sind komplett überlastet und können keine weiteren Patienten aufnehmen. Als Notfall kann man in eine Kinderarztpraxis kommen, das ist klar. Niemand würde ein schwer krankes Kind einfach ablehnen. Doch die Eltern finden keine Kinderarztpraxis, die ihre Kinder dauerhaft aufnimmt und fest betreut.

Wenn die Eltern dann in die Notfallpraxis kommen, denken sie: „Nun bin ich mit meinem kranken Kind in der Klinik. Alles wird gut.“ Und dann heißt es: Es dauert mindestens fünf Stunden. Das Kind weint, ist müde und vielleicht hungrig.

Warten Sie mal fünf Stunden mit einem kranken Kleinkind! Das ist ein Albtraum! Ich kann mir gut vorstellen, wie sich diese Eltern fühlen: beunruhigt, hilflos, und auch wütend. Die Stimmung ist gereizt, manchmal auch aggressiv.

Eigentlich gibt es am Klinik-Eingang eine Triage. Doch die Menschen können auch direkt in die Notfallpraxis kommen, ohne triagiert zu werden. Das kann zu unübersichtlichen und gefährlichen Situationen führen, weil wir nicht die Kapazitäten haben, um auch noch die Kinder in der Wartehalle zu begutachten und eine Behandlungsreihenfolge nach Schwere der Krankheit festzulegen, obwohl wir es natürlich versuchen.

Wir können nicht im Auge behalten, wie es den Kindern in der Wartehalle geht. Vor einiger Zeit warteten bei uns Eltern mit einem Baby, das mit RS-Viren infiziert war. Während der Wartezeit hatte sich sein Zustand dramatisch verschlechtert, was die Eltern gar nicht so bemerkt hatten.

Was müsste getan werden, um die Situation zu entschärfen?

  • Ich würde mir wünschen, dass zumindest im Winter während der Infekt-Saison immer mindestens zwei Ärztinnen oder Ärzte gemeinsam pro Schicht arbeiten. Außerdem sollte es Hintergrunddienste geben, falls jemand krankheitsbedingt ausfällt. Die Infektionswelle verschont auch Ärztinnen und Ärzte nicht, was durchaus zu Engpässen führen kann.

  • Die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte sind dazu verpflichtet, im Notdienst zu arbeiten. Man kann die Anzahl der Dienste aber nicht endlos steigern – zumal die Ärztinnen und Ärzte nach einem langen und anstrengenden Spätdienst wieder in ihrer eigenen Praxis arbeiten müssen. Deshalb würde ich mir wünschen, dass Ärztinnen und Ärzte ohne KV-Zulassung noch mehr Dienste übernehmen. Gäbe es mehr Kinderarztpraxen, so würden die Notfallambulanzen und Notaufnahmen entlastet werden.

  • Wenn der Dienst offiziell um 23 Uhr endet, sollten die Abläufe so organisiert werden, dass um 23 Uhr tatsächlich Schluss ist. Wir sind aber gehalten, alle Kinder, die zu diesem Zeitpunkt noch warten, zu versorgen. Ich habe schon Dienste erlebt, in denen um 23 Uhr noch 30 Kinder warteten, weshalb ich erst um vier Uhr morgens nach Hause kam. Das offene Dienst-Ende ist für die Ärztinnen und Ärzte und die Pflegekräfte ein Problem – aber auch für die Patienten. Die Gefahr, einen Fehler zu machen, wird größer, je müder man wird.

  • Ich würde mir eine personelle Ausstattung in der Notfallpraxis wünschen, die es ermöglicht, die Menschen in der Wartehalle im Auge zu behalten: Wie geht es den Wartenden? Verschlechtert sich ein Kind?

  • Es wäre hilfreich, wenn immer eine MFA oder eine Pflegekraft mit der Ärztin oder dem Arzt mitlaufen und mitschreiben würde. Zu den ärztlichen Aufgaben gehören nicht nur Diagnostik und Therapie, sondern auch das sofortige Schreiben eines Arztbriefes. Das dauert einige Minuten. Die Ärztin oder der Arzt könnten viel schneller arbeiten, wenn der Entwurf des Arztbriefes delegiert werden könnte.

Das ganze System der Pädiatrie steht derzeit unter Druck – die Notfallpraxen, die Kinderkrankenhäuser und die Kinderarztpraxen. Ich sehe eine reale Gefahr, dass Kinder an irgendeiner Stelle des Systems zu Schaden kommen. Wer ist dann verantwortlich? Die Ärztinnen und Ärzte, die aufgrund der strukturellen Überlastung einen Fehler machen?

In meiner Praxis klingelt zur Zeit das Telefon pausenlos. Kommen die Patienten telefonisch nicht durch, erscheinen sie ohne Termin in der Praxis. Wenn wir um 8.30 Uhr öffnen, stehen sie schon Schlange. Alle werden eingelassen, und wir triagieren: Ein Säugling oder ein Kind mit hohem Fieber wird sofort versorgt. Alle akut kranken Kinder kommen noch am selben Tag dran, alle nicht akuten Anliegen werden auf die nächsten Tage verschoben. So schieben wir eine Welle an anstehenden Untersuchungen vor uns her, die sich immer höher auftürmt. Eine Entspannung der Situation ist zur Zeit nicht abzusehen.

Auch in den Kinderarztpraxen herrscht Personalmangel, der Krankenstand bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist hoch. Dass viele pädiatrische Praxen in Hamburg derzeit keine neuen Kinder mehr aufnehmen können, ist aber kein neues Phänomen (siehe KVH-Journal 7-8/2022).

Die Infektionswelle ist außergewöhnlich, doch wir sollten auch die grundlegenden Strukturen der pädiatrischen Versorgung in den Blick nehmen. Zuvorderst müssten mehr Ärztinnen und Ärzte ausgebildet werden. Das hat auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach erkannt, der die Bundesländer dazu auffordert, 5000 zusätzliche Medizinstudienplätze pro Jahr zu schaffen, um einen eklatanten Ärztemangel zu vermeiden.

Und ja: Die Ankündigung von Karl Lauterbach, die Pädiatrie in der vertragsärztlichen Versorgung zu entbudgetieren und eine volle Bezahlung der Leistungen zu ermöglichen, ist ein Schritt in die richtige Richtung. In einem geschlossenen Honorarsystem ist es nicht möglich, Behandlungskapazitäten dem tatsächlichen Bedarf anzupassen. Die Entbudgetierung ist die Voraussetzung dafür, dass neue pädiatrische Behandlungskapazitäten entstehen. Neue Pädiatrie-Sitze sollten geschaffen werden und Praxen sollten hinzukommen, die neue Kinder aufnehmen können und bereit sind, weitere Vorsorgeuntersuchungen durchzuführen und zu impfen.

Schließlich muss die stationäre kinderärztliche Versorgung stabilisiert werden. Kinderkliniken dürfen nicht geschlossen, pädiatrische Betten nicht abgebaut werden. Sonst erfasst uns die nächste große Infektionswelle genauso kalt wie es die aktuelle getan hat.

Trotz all der geschilderten Probleme bin ich gerne Kinderärztin, ich liebe meinen Beruf. Doch ich bin – wie viele der Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich mich austausche – zunehmend erschöpft, frustriert und beunruhigt angesichts der Rahmenbedingungen, unter denen wir arbeiten müssen. Ich hoffe, dass diese Krise den Anstoß für Reformen gibt, um Druck von den Ärztinnen und Ärzten zu nehmen und die Pädiatrie zu entlasten.

DR. MED. CLAUDIA SCHWARTING
niedergelassene Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin