5/2023 5/2023

»Lokale Versorgungsprobleme beheben«

Interview

Welche gesundheitspolitischen Positionen vertritt die seit Dezember 2022 amtierende Hamburger Sozialsenatorin? Melanie Schlotzhauer über die Entbudgetierung der vertragsärztlichen Honorare, die Ausschöpfung der Sicherstellungsmöglichkeiten und neue sektorenübergreifende Versorgungsangebote.

Die Entbudgetierung der Honorare für pädiatrische Leistungen wurde vom Berufsverband der Kinderärzte als „Meilenstein“ bewertet. Wie sehen Sie das?

schlotzhauer: Das ist eine sehr gute Entscheidung. Wir sind hierzu bereits seit langem im Austausch mit den Fachverbänden und haben dazu auch im Rahmen der Gesundheitsministerkonferenzen immer wieder klar Position bezogen. Insofern freut es mich sehr, dass mit dem Beschluss des Bundestages vom 16. März 2023 nun die Leistungen der allgemeinen Kinder- und Jugendmedizin von mengenbegrenzenden Maßnahmen der Honorarverteilung ausgenommen und die Budgets ausgesetzt werden. Auch spezielle kinderärztliche Leistungen, zum Beispiel der Schwerpunktpraxen, werden vollständig aus der Honorar- und Mengenbegrenzung herausgenommen. Diese Initiative soll zu einer Steigerung der Attraktivität der ambulanten medizinischen Versorgung im Bereich der Kinder- und Jugendmedizin führen.

Unterstützen Sie die Entbudgetierung der anderen Fachgruppen?

schlotzhauer: Die von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach geplante Entbudgetierung der Hausarztpraxen ist ein sinnvoller Schritt zur Verbesserung der medizinischen Nahversorgung. Eine vollständige Entbudgetierung, zum Beispiel auch der Laborleistungen oder gar aller Arztgruppen – wie von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) gefordert – wäre nicht zielgenau und mit einem erheblichen Mengen- und Kostenrisiko verbunden. Auch die Ertragsunterschiede zwischen den Arztgruppen würden sich damit nicht verbessern (zum Beispiel im Vergleich zur Radiologie). Im Bereich der KV Hamburg ist der Anteil der extrabudgetären Vergütung mit über 50 Prozent schon jetzt relativ hoch. Nach dem Hamburger Honorarvertrag wird besonders auch die pä­diatrische Grundversorgung in den weniger gut versorgten Bezirken gezielt gefördert. Eine solche an den primären Versorgungsnotwendigkeiten ausgerichtete Honorarpolitik findet auch meine Unterstützung.

Es gibt immer wieder Diskussionen um die Versorgung im Hamburger Süden. Sie sind in Neugraben aufgewachsen. Wie hat sich die Situation dort Ihrer Wahrnehmung nach geändert?

schlotzhauer: Die Versorgungssituation im Hamburger Süden liegt bei den Hausärzten an der Grenze zur Unterversorgung. Das betrifft auch Neugraben-Fischbek, den Stadtteil, in dem ich geboren wurde. Hier, aber auch in anderen Stadtteilen Hamburgs wie Osdorf oder Allermöhe, ist die ärztliche Versorgung nicht so gut wie zum Beispiel in Othmarschen. Diese Stadtteile nehmen wir verstärkt in den Blick bei der Stärkung der medizinischen Infrastruktur. Beispielsweise haben wir Mitte April ein Lokales Gesundheitszentrum am Osdorfer Born eröffnet. Sinnvoll wären für den Hamburger Süden aber auch weitere Zweigpraxen und Anstellungen im Sonderbedarf, oder auch gezielte Fördermaßnahmen aus dem Strukturfonds der KV, den die Krankenkassen paritätisch mitfinanzieren.

Sie haben in einem Interview gesagt, die KV habe beim Thema Bedarfsplanung eine andere Auffassung als Sie. Worin besteht der Dissens?

schlotzhauer: Ich hatte in dem Interview gesagt, dass wir für einen anderen Zuschnitt der Planungsbereiche plädieren, um der gesundheitspolitischen Realität vor Ort Rechnung zu tragen. Ich wünsche mir von der KV, dass sie ihre Sicherstellungsinstrumente besser ausschöpft, damit lokale Versorgungsprobleme behoben werden können. Dafür können zum Beispiel die Mittel des Strukturfonds verwendet werden und auch Eigeneinrichtungen mit angestellten Ärztinnen und Ärzten einen Beitrag leisten, ähnlich wie in Berlin. Schon heute müssen die Weichen dafür gestellt werden, dass, wenn niedergelassene Ärztinnen und Ärzte in den Ruhestand gehen, eine möglichst unterbrechungsfreie Nachbesetzung erfolgen kann.

Ganz allgemein: Wie stellen Sie sich eine ausreichende ambulante Versorgung für Hamburg vor?

schlotzhauer: Wir sehen, dass der ambulante Sektor eine zentrale Säule für die Gesundheitsversorgung der Hamburgerinnen und Hamburger darstellt. Die Einwohnerzahl Hamburgs wächst regelmäßig und damit steigt grundsätzlich auch der ambulante Behandlungsbedarf. Gerade ältere und schwer chronisch erkrankte Menschen, aber auch Familien mit Kindern sind besonders auf eine möglichst wohnortnahe haus- und kinderärztliche Versorgung und nicht selten auch auf Haus- und Heimbesuche angewiesen. Diese gilt es schrittweise zu fördern und auszubauen. Neben den bereits oben beschriebenen Maßnahmen zur Verbesserung der primärärztlichen Versorgung in Hamburgs Süden sollten die Bedingungen für Eigeneinrichtungen der KVen dahingehend verbessert werden, dass vakante Arztsitze erworben und an junge angestellte Medizinerinnen und Mediziner übertragen werden können.

Wann wird die KV eigene Sitze halten können, um eventuell auch eigene Praxen einrichten zu können?

schlotzhauer: Mein Haus unterstützt die KV durch Bundesinitiativen in diesem Bereich seit langem. Die KV Hamburg kann eigene Einrichtungen betreiben, die der unmittelbaren medizinischen Versorgung von Versicherten dienen, oder sich an solchen Einrichtungen beteiligen. Dies ist auch durch Kooperationen untereinander und gemeinsam mit Krankenhäusern sowie in Form von mobilen oder telemedizinischen Versorgungsangebotsformen möglich. Der Handlungsspielraum des § 105 Abs. 1 c SGB V ist hier sehr weit. Hier sind zahlreiche Gestaltungsformen denkbar. Im Rahmen der Länderarbeitsgruppe iMVZ hat Hamburg sich im Eckpunktepapier unter Nummer 7 dafür eingesetzt, den KVen innerhalb der Eigeneinrichtung zulassungsrechtlich mit MVZ gleichzustellen. Damit wollen wir dem Dauerargument der KV Hamburg begegnen, dass Eigeneinrichtungen nicht sinnvoll sind, wenn die KV keine zulassungsrechtlichen Möglichkeiten hat, die Arztsitze dann zu übertragen. In anderen Ländern mit ausreichend freien Arztsitzen ist das kein Pro­blem, was auch daran zu erkennen ist, dass in vielen Ländern schon Eigeneinrichtungen existieren. Eine Anstellung von Ärzten und deren Bewerbung auf einen freien Arztsitz ist ohne weiteres möglich.

Sie sind auch Sozialsenatorin: Befürworten Sie Stadtteilgesundheitszentren? Oder das Modell, Sozialarbeiter in die Praxen zu schicken?

schlotzhauer: Mit den Lokalen Gesundheitszentren nimmt der Senat gezielt die medizinische Primärversorgung strukturschwächerer Stadtteile in den Blick. Durch die Vereinigung verschiedener Angebote unter einem Dach wollen wir eine stärker patientenorientierte Versorgung erreichen. Gleichzeitig sollen die niedergelassenen Ärzte in den Stadtteilen entlastet werden, beispielsweise dadurch, dass in den Lokalen Gesundheitszentren Beratungsangebote gemacht werden.

Notaufnahmen, KV-Notdienstpraxen – alles defizitär. Haben wir zu viel oder zu unspezifische Versorgung außerhalb der Praxis-Öffnungszeiten?

schlotzhauer: Das Thema Notfallversorgung steht seit langem auf der Agenda der Länder und der Bundesregierung und ist derzeit im Kontext der Krankenhausreform in der Entwicklung. Dabei wird die aktuelle Stellungnahme der Regierungskommission zur Notfall- und Akutversorgung mit einfließen. Die Ergebnisse und deren Auswirkung auf den Notdienst der KV Hamburg bleiben abzuwarten. Zudem hat die Sozialbehörde im vergangenen Dezember einen Runden Tisch initiiert, um mit allen verantwortlichen Beteiligten auch schon kurzfristig Erleichterungen und Lösungen für eine bedarfsgerechte Notfallversorgung zu finden.

Stichwort Krankenhausreform: "Was möglich ist, sollte ambulant gemacht werden" – ist das weiterhin ein politisches Ziel? Wer sollte die ambulanten Leistungen durchführen?

schlotzhauer: Für mich ist es von zentraler Bedeutung, die niedergelassene Ärzteschaft in Hamburg zu stärken. Sie sind die erste und meistens auch wichtigste Anlaufstelle für Patientinnen und Patienten. Gerade bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie hat sich gezeigt, wie wichtig Hamburgs ambulanter Sektor ist. Deshalb wird die Ambulantisierung ein wesentlicher Teil der Strukturveränderung in der stationären Gesundheitsversorgung sein. Für mich ist dabei in der Debatte um die Krankenhausreform eines besonders wichtig: Wir müssen Raum für die Etablierung von neuen sektorenübergreifenden Versorgungsangeboten schaffen. Hierzu sind wir in Hamburg auch schon unterwegs, beispielsweise mit dem INZ am Marienkrankenhaus, das von KV und Krankenhaus betrieben wird. Grundsätzliches Ziel der Reform ist es, über eine bessere Verzahnung von Krankenhausplanung und -vergütung zu einer nachhaltigen Stabilisierung der Krankenhausversorgung – auch in Zeiten zunehmenden Fachkräftemangels – beizutragen. Den durch die bisherige alleinige Finanzierung über Fallpauschalen entstandenen Fehlanreizen (Mengenausweitung und geringe Ambulantisierung) soll zukünftig durch Vorhaltepauschalen als einem bedeutenden Baustein der Finanzierung des Krankenhausbetriebes entgegengewirkt werden. Darüber hinaus sollen Strukturvorgaben zu mehr Qualität in der Versorgung der Menschen führen. Selbstverständlich spielt in dieser Gesamtreform auch die ambulante Versorgung in Krankenhäusern eine große Rolle. Die Bundesregierung hat diese bereits im Koalitionsvertrag verankert. Behandlungsbedingungen sollen für die Patientinnen und Patienten attraktiver und bedarfsgerechter gestaltet werden. Es liegen dazu bereits vieldiskutierte Gutachten zur Erweiterung der ambulanten Leistungen in Krankenhäusern vor. Ein Gutachten, das das IGES Institut in Zusammenarbeit mit dem österreichischen Gesundheitsforschungsinstitut Gesundheit Österreich im Auftrag der Bundesregierung erarbeitet hat, empfiehlt rund 2.500 medizinische Leistungen, die zusätzlich in den Katalog für ambulantes Operieren, kurz AOP-Katalog, aufgenommen worden sind. Davon ausgehend sollen die Möglichkeiten für ambulante Operationen und sonstige so genannte stationsersetzende Eingriffe auch für Krankenhäuser deutlich ausgeweitet werden.

Melanie Schlotzhauer hat unsere Fragen schriftlich beantwortet.