Prävention und frühe Therapie von Demenz
Aus dem Netzwerk Evidenzbasierte Medizin
Wenn Wunschdenken den Blick auf Studiendaten trübt
Von Univ.-Prof. Dr. phil. Gabriele Meyer & Univ.-Prof. i.R. Dr. med. Ingrid Mühlhauser im Auftrag des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin e.V. (www.ebm-netzwerk.de)
Bis zu 40 Prozent aller Alzheimerfälle lassen sich verhindern – das muss stärker in die Köpfe“, so die Süddeutsche Zeitung im Herbst 2024 (1). Andere Medien und die medizinische Fachpresse berichten ähnliche Schlagzeilen. Anlass solch zuversichtlicher Meldungen ist die Aktualisierung der Lancet Standing Commission zur Demenzprävention (8). Mit "hoher LDL Cholesterinspiegel" und "unbehandelter Sehverlust" erweitert diese Expertengruppe die Liste der Risikofaktoren für Demenz auf nun insgesamt 14 und leitet daraus folgende Empfehlungen ab:
Zugang zu guter Bildung für alle und anregende Aktivitäten in der Lebensmitte fördern, um kognitive Fähigkeiten zu schützen
Hörgeräte für Menschen mit Hörverlust zugänglich machen und schädliche Lärmbelastung verringern, um Hörverlust zu reduzieren
Effektive Behandlung von Depression
Verwendung von Helmen und Kopfschutz bei Kontaktsportarten und auf Fahrrädern fördern
Körperliche Bewegung fördern
Zigarettenrauchen durch Aufklärung, Preiskontrolle und Rauchverbot an öffentlichen Orten reduzieren und Ratschläge zur Raucherentwöhnung zugänglich machen
Bluthochdruck verhindern oder reduzieren, ab 40 Jahre einen systolischen Blutdruck von 130 mmHg oder weniger aufrecht halten
Erhöhtes LDL-Cholesterin ab der Lebensmitte erkennen und behandeln
Gesundes Gewicht halten und Fettleibigkeit so früh wie möglich behandeln, auch um Diabetes vorzubeugen
Hohen Alkoholkonsum durch Preiskontrolle und gesteigertes Bewusstsein für die Menge und die Risiken des übermäßigen Konsums reduzieren
Altersgerechte und unterstützende Gemeinschaftsumgebungen und Wohnformen priorisieren und soziale Isolation verringern durch Teilnahme an Aktivitäten und Zusammenleben mit anderen
Zugang zu Screening und Behandlung von Sehverlust für alle
Belastung durch Luftverschmutzung reduzieren
Demenz – eine Lebensstil-Entscheidung?
Experimentelle Studien, die die Kausalität der Risikofaktoren und deshalb die Effektivität der Demenzvorbeugung belegen könnten, sind oftmals nicht praktikabel. Alternative Studiendesigns sind z. B. genetische Assoziationsstudien mit Mendel-Randomisierung (10). In solchen Studien konnte bisher kein kausaler Zusammenhang zwischen den von der Lancet-Expertengruppe vorgeschlagenen Risikofaktoren und Demenz bestätigt werden (2).
Die Diagnose Demenz steht typischerweise am Ende eines jahrzehntelangen Entwicklungsprozesses. Nicht das fehlende Hörgerät könnte die Entwicklung einer Demenz befördern, sondern eine frühe Beeinträchtigung der Informationsverarbeitung, die dazu führt, dass Menschen, die eine Demenz entwickeln, kein Hörgerät nutzen können oder möchten. Als Risikofaktoren erklärte Faktoren sind möglicherweise mit den tatsächlichen Ursachen der Demenz lediglich korreliert, sind aber selbst nicht der Grund für die Demenz. Zum Beispiel mag Schulbildung ein Marker für andere Ursachen der Demenz sein, der jedoch auf andere Lebensbedingungen zurückzuführen ist wie Armut oder mangelnde kognitive Reserve. Die Verlängerung der Schulzeit würde dann nicht das Risiko für Demenz verringern (4).
Lecanemab zur frühen Therapie der Alzheimer Demenz
Am 14. November 2024 hat die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) das Medikament Lecanemab (Handelsname Leqembi) zugelassen nach neuerlicher Prüfung der verfügbaren Daten zu Wirksamkeit und Sicherheit (5). Nicht nur die Deutsche Gesellschaft für Neurologie begrüßt die Empfehlung zur EMA-Zulassung von Lecanemab. Die Betroffenen würden ein halbes Jahr „gesundes“ Leben gewinnen (3).
Bei Lecanemab handelt es sich um einen monoklonalen Antikörper, der sich im Gehirn gegen Komplexe aus dem Protein ß-Amyloid richtet und deren Abbau bewirken soll. Die Amyloid-Plaques werden mit der Zerstörung von Nervenzellen in Verbindung gebracht. Mit Lecanemab wurde erstmals ein Wirkstoff zugelassen, der in die Pathophysiologie der Alzheimer Krankheit eingreift. Ab Mitte 2025 könnte das Medikament auch in Deutschland verfügbar sein.
Die Merkmale der Lecanemab-Zulassungsstudie (13) sind der Tabelle 1 zu entnehmen.
Tabelle 1: Merkmale der Lecanemab-Zulassungsstudie (13)
Nach 18 Monaten Studienzeit war in der Lecanemab-Gruppe der CDR-SB Score von einem mittleren Ausgangswert von 3,2 Punkten um 1,21 Punkte gestiegen im Vergleich zur Placebo-Gruppe mit ebenfalls 3,2 Punkten Ausgangswert und Anstieg um 1,66 Punkte (Differenz der Veränderung: -0.45, 95 % Konfidenzintervall -0.67 bis -0.23).
Im PET zeigte sich eine Reduktion der Amyloid-Ablagerungen von 55 % in der Lecanemab-Gruppe im Vergleich zur Zunahme in der Placebogruppe um 4 %.
Dem Supplement zur Publikation der Zulassungsstudie (13) sind Hinweise auf geschlechtsspezifische Unterschiede der Wirksamkeit von Lecanemab zu entnehmen. Frauen schneiden sowohl hinsichtlich des primären Ergebnisparameters als auch in anderen sekundären Endpunkten (Kognition und Aktivitäten des täglichen Lebens) schlechter ab.
In der Zulassungsstudie (13) traten unter Lecanemab nicht mehr Todesfälle auf; schwere Nebenwirkungen traten jedoch häufiger als unter Placebo auf (14,0 % vs. 11,3 %). Die Auflösung von Beta-Amyloid-Plaques ist mit der Bildung so genannter ARIA (Amyloid-related Imaging Abnormality) assoziiert, radiologische Veränderungen in der zerebralen Bildgebung. ARIA sind Ödeme und Ergüsse (ARIA-E) oder Mikrohämorrhagien (ARIA-H), die oft symptomlos bleiben, aber auch zu schweren Komplikationen führen können. ARIA traten deutlich häufiger in der Lecanemab-Studiengruppe auf (Tabelle 2).
Da zwei homozygote ApoE4 Genkopien (ca. 15 % der Patienten) ein höheres Risiko für ARIA darstellen, erfolgte die EMA-Zulassung schließlich auf Basis der Datenanalyse mit Ausschluss dieser Studienteilnehmer:innen (n=274). Doch auch danach sind ARIA immer noch deutlich häufiger als in der Placebo-Gruppe (Tabelle 2).
Tabelle 2: ARIA in der Lecanemab-Zulassungsstudie (5)
Die Kosten von Lecanemab betragen in den USA 27.500 US$ im Jahr (12). Hinzu kommen Kosten für Diagnostik, Apolipo-Protein-Genotypisierung, kontinuierliche zweiwöchige Infusionstherapie, periodische Magnetresonanztomographie, um ARIA zu überprüfen (vor 1., 5., 7., 14. Dosis sowie anlassbezogen bei Beschwerden wie Kopfschmerzen, Verwirrung, Schwindel). Die Gesamtkosten pro Patient und Jahr wurden für die USA auf mehr als 80.000 US$ geschätzt (7).
Evidenzbasierte Information unabdinglich
In beiden Fällen – Demenzprävention und Behandlung mit Lecanemab – wurden die Studienergebnisse unangemessen medial kommuniziert. In Assoziationsstudien identifizierte Risikofaktoren werden kausal interpretiert und erhebliches Präventionspotenzial proklamiert, basierend auf hypothetischen Interventionseffekten.
Für Lecanemab wird eine Skalendifferenz von -0,45 Punkten im CDR-SB Score nach 18 Monaten von der Fachgesellschaft klinisch übersetzt in beschwerdefreie (gesunde) Lebenszeit. Eine neuere Übersichtsarbeit demgegenüber schlägt vor, einen Therapieeffekt bei Alzheimer Krankheit im frühen Stadium erst als klinisch relevant zu erachten, wenn ein Unterschied im CDR-SB Score von 1 bis 2 Punkten vorliegt (11).
Die EMA kündigte an, dass der Hersteller von Lecanemab Informations- und Schulungsmaterial für das medizinische Personal und eine Warninformation für Patient:innen bereitstellen wird (5). Unabdinglich wären jedoch unabhängige evidenzbasierte und geschlechtssensible Informationsmaterialien. Da Therapien wie diese große öffentliche Aufmerksamkeit erfahren, wäre eine niederschwellige Bereitstellung im Nationalen Gesundheitsportal und durch das IQWiG (www.gesundheitsinformation.de) angebracht. Lecanemab kommt nur für einen sehr kleinen Kreis von Alzheimer-Betroffenen im frühen Stadium ohne zwei homozygote ApoE4 Genkopien in Frage. Schätzungsweise können 800 bis 1.000 Menschen pro Jahr in Deutschland diese Therapie in Erwägung ziehen (6). Eine evidenzbasierte Information muss die Zielgruppe eindeutig definieren. Sie muss den Nutzen und Schaden der Therapie objektiv darlegen. Die Unsicherheit hinsichtlich der langfristigen Wirkungen und unerwünschten Wirkungen von Lecanemab – über den 18-monatigen Zeitraum der Zulassungsstudie hinaus – müssen offengelegt werden. Auch die Implikationen, die die Therapie mit sich bringt, wie zusätzliche Termine durch Infusionstherapie und Diagnostik, müssen berichtet werden. Nur so kann den Betroffenen eine informierte Entscheidung ermöglicht werden (9).
UNIV.-PROF. DR. PHIL. GABRIELE MEYER
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Medizinische Fakultät / Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft
E-Mail: Gabriele.Meyer@uk-halle.de
UNIV.-PROF. i.R. DR. MED. INGRID MÜHLHAUSER
E-Mail: Ingrid.Muehlhauser@uni-hamburg.de
Referenzen
1) Berndt C. Bis zu 40 Prozent aller Alzheimerfälle lassen sich verhindern – das muss stärker in die Köpfe. Süddeutsche Zeitung, 25. Oktober 2024. https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/alzheimer-risiko-boomer-li.3135658?reduced=true (Zugriff am 30.12.2024)
2) Desai R, John A, Saunders R, Marchant NL, Buckman JEJ, Charlesworth G, Zuber V, Stott J. Examining the Lancet Commission risk factors for dementia using Mendelian randomisation. BMJ Ment Health 2023; 26 (1): e300555
3) Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. https://dgn.org/artikel/dgn-begrusst-die-empfehlung-zur-ema-zulassung-von-lecanemab (Zugriff am 30.12.2024)
4) Ebmeier KP. Prävention von 14 Risikofaktoren könnte Demenzfälle verhindern. Statement. Medizin & Lebenswissenschaften, 31.07.2024. Science Media Center Germany. https://www.sciencemediacenter.de/angebote/praevention-von-14-risikofaktoren-koennte-demenzfaelle-verhindern-24109 (Zugriff am 30.12.2024)
5) European Medicines Agency (EMA). Approval of the marketing authorisation for Leqembi (lecanemab). Re-examination leads to recommendation to approve. 14. November 2024. https://www.ema.europa.eu/en/documents/medicine-qa/questions-answers-approval-marketing-authorisation-leqembi-lecanemab_en.pdf (Zugriff am 30.12.2024)
6) Frimmer V, Martin M. Alzheimer-Antikörper Lecanemab. Hoffnungsträger mit Einschränkungen. Dtsch Arztebl 2024; 121 (24): A-1554-A-1555
7) Jönsson L, Wimo A, Handels R, Johansson G, Boada M, Engelborghs S, et al. The affordability of lecanemab, an amyloid-targeting therapy for Alzheimer’s disease: an EADC-EC viewpoint. Lancet Reg Health Eur 2023; 29: 100657
8) Livingston G, Huntley J, Liu KY, Costafreda SG, Selbæk G, Alladi S, et al. Dementia prevention, intervention, and care: 2024 report of the Lancet standing Commission. Lancet 2024; 404: 572-628
9) Lühnen J, Albrecht M, Mühlhauser I, Steckelberg A. Leitlinie evidenzbasierte Gesundheitsinformation. https://www.ebm-netzwerk.de/de/medien/pdf/leitlinie-evidenzbasierte-gesundheitsinformation-fin.pdf (Zugriff am 31.12.2024)
10) Mühlhauser I. Und nochmals Vitamin D – Welche Erkenntnis bringt eine Mendel-randomisierte Kohortenstudie? KVH Journal 2/2023: 30-33
11) Muir RT, Hill MD, Black SE, Smith EE. Minimal clinically important difference in Alzheimer's disease: Rapid review. Alzheimers Dement 2024; 20 (5): 3352-3363
12) The Lancet. Divisions over lecanemab: keeping an open mind. Lancet 2024; 404 (10458): 1077
13) van Dyck CH, Swanson CJ, Aisen P, Bateman RJ, Chen C, Gee M, Kanekiyo M, Li D, Reyderman L, Cohen S, Froelich L, Katayama S, Sabbagh M, Vellas B, Watson D, Dhadda S, Irizarry M, Kramer LD, Iwatsubo T. Lecanemab in Early Alzheimer's Disease. N Engl J Med 2023; 388 (1): 9-21