Kurze Kulturgeschichte des Rückenschmerzes
Kolumne
Vom Hexenzauber bis zum bio-psycho-sozialen Modell: Die unterschiedlichen Erklärungsmodelle des Rückenschmerzes zeigen, wie irrtumsanfällig und zeitgebunden medizinische Gewissheiten sein können.
von Dr. Matthias Soyka
Zum Rückenschmerz gibt es viele Theorien und Vorstellungen, über die sich genauso munter streiten lässt wie über Politik und Kindererziehung. Und ebenso wie bei diesen Themen scheint die Inbrunst, mit der eine Ansicht vertreten wird, oft im reziproken Verhältnis zu den Kenntnissen der Meinungsträger zu stehen.
Erfahrene Behandler hingegen werden im Laufe der Zeit zunehmend skeptischer, was die Allgemeingültigkeit ihrer alten und neuen Lieblingstheorien angeht. So geht es jedenfalls mir und vielen anderen Ärzten und Therapeuten. Je mehr ich von meinen Patienten und der Wissenschaft lerne, um so komplexer erscheint mir das Phänomen Rückenschmerz.
Früher war es jedenfalls viel einfacher.
Martin Luther, der große Reformator, hielt Rückenschmerz für die Folge eines Schadenszaubers. Er war sich sicher, dass „weise Frauen“ Schuld an der Lumbago sind. „Sie schießen über eine Entfernung von einer Meile und mehr, machen sie mit ihren Zauberpfeilen Hinkende, dass niemand heilen kann“.
Sein Therapieansatz war radikal. „Die Zauberinnen sollen getötet werden, weil sie Diebe sind, Ehebrecher, Räuber, Mörder…. Also sollen sie getötet werden, nicht allein, weil sie schaden, sondern auch, weil sie Umgang mit dem Satan haben.“
Die rabiate Art der Behandlung auf dem Scheiterhaufen relativiert das Humorige des Begriffs „Hexenschuss“.
Hexenschuss: Spätmittelalterliche Darstellung (um 1490) von Johann Zainer, Holzschnitt aus dem "tractatus von den bösen weibern, die man hexen nennt" von Ulrich Molitor
Weiser und humaner erscheint da doch die uralte chinesische Sichtweise aus meinem abgegriffenem Akupunkturbuch: „Rückenschmerzen sind eine Windkrankheit“. Darunter kann sich auch derjenige etwas vorstellen, der nicht an Hexen glaubt. Unplausibel erscheint es auch nicht. Dass man sich den Rücken „verkühlt“ hat, ist in vielen Regionen der Welt eine verbreitete Erklärung für einen schmerzhaften Rücken, die Behandlung mit warmen Packungen ebenso wie die mit Drücken, Pressen und Nadeln eine beliebte Therapieform.
Eine weitere, seit der Antike bekannte, Behandlungsmethode ist die Manipulation und Verschiebung von Knochen und Gelenken. Schon Hippokrates (490-377 v. Chr.) und Galen (131-202 n. Chr) beschrieben Manipulationstechniken und Behandlungen durch Traktionen. In Thailand sind in buddhistischen Tempeln 2000 Jahre alte Statuen zu bewundern, die Wirbelsäulenmanipulationstechniken zeigen. Doch spätestes mit Beginn der Neuzeit war das Knochensetzen und -verschieben („bone setting“) fast nur noch bei nichtmedizinischen Laien, vor allem auf dem Land, präsent.
1874 begründete Andrew Taylor Still die Methode der Osteopathie. Still war Landarzt im wilden Westen. Er kam dort mit zahlreichen Methoden des „bone settings“ in Kontakt, die er systematisierte und durch philosophische Grundsätze sowie Elemente des Schamanismus der Shawnee-Indianer erweiterte.
Für Still war der Rückenschmerz Ausdruck von Verschiebungen und Fehlstellungen knöcherner Wirbelsäulenelemente, die die Köperflüssigkeiten daran hindern würden, regulär zu fließen. Sein neues System nannte er „Osteopathie“.
Kurz nach ihm entwickelte D.D. Palmer, der zuvor als Gemüsehändler und „Magnetischer Heiler“ tätig war, die Methode der Chiropraktik. Seine erste Manipulation führte er 1895 durch. Auch er sah die Ursache von Rückenschmerzen, aber auch einer großen Zahl anderer Beschwerden, in der Verschiebung von Wirbeln, die es zur Therapie zu „adjustieren“ gelte.
Die Bandscheibe kam erst Jahrzehnte danach ins Spiel, also deutlich später als die „alternativen Methoden“ Osteopathie und Chiropraktik. 1934 beschrieben Mixter und Barr die Assoziation von Ischiasschmerzen und Bandscheibenhernierungen.
Das war der Startschuss der Bandscheiben-Ära. Die operative Behandlung von Bandscheibenvorfällen verbreitete sich weltweit. Das Wort Bandscheibenvorfall“ wurde zu einem Synonym für „Rückenschmerz“. Doch in den achtziger Jahren wuchs die Kritik an der Übertherapie durch zu häufige Operationen.
Die Entdeckungen von Mixter und Barr bedeuteten das Aus für ein anderes pathologisches Konzept. Nur ein Jahr zuvor, 1933, prägte R.K. Ghomerley den Begriff „Facettensyndrom“. Hierunter werden Schmerzen verstanden, die von den kleinen Wirbelgelenken ausgehen, den „Facetten“. Da Arthrosen dort häufig radiologisch nachweisbar sind, kamen sie als mögliche Schmerzursache für Rückenschmerzen in Betracht. Doch so einfach ist die Sache nicht, denn längst nicht jede im Röntgenbild nachweisbare Arthrose ist mit Rückenschmerzen verbunden. Sie findet man auch sehr oft bei völlig Beschwerdefreien.
Man bewies das Schmerzpotential der Wirbelgelenke dadurch, dass typische Schmerzen durch Injektionen an die Wirbelgelenke mit hochkonzentrierter Kochsalzlösung ausgelöst, aber auch durch lokale Betäubungsmittel reduziert werden konnten.
Doch zunächst geriet diese Entdeckung durch die „Erfolgsstory der Bandscheibe“ in Vergessenheit und wurde erst wiederentdeckt, als sich zeigte, dass viele operierte Bandscheiben-Patienten nicht beschwerdefrei wurden.
Auch die Möglichkeit, dass die inneren Anteile des Faserrings der Bandscheibe als Schmerzursache in Frage kämen, wurde anfangs vehement abgelehnt. Denn man ging davon aus, dass die Bandscheibe selbst keine Schmerzen verursachen könne, und die Schmerzen an Rücken oder im Bein nur durch den Druck der vorgewölbten oder vorgefallenen Bandscheibe auf die benachbarten Nervenwurzeln entstünden.
Vor allem der Übervater der Szene, Alfred Nachemson, lehnte das Konzept des diskogenen Schmerzes ab. Doch schließlich gab es klare Beweise dafür, dass freie Nervenendigungen im Faserring der Bandscheibe und Entzündungsmediatoren Schmerzen direkt in der Bandscheibe verursachen können.
Auch in der konservativen Therapie hinterließ die Bandscheibe ihre Spuren. Eine Gruppe um den Osteopathen Alan Stoddard und den Orthopäden James Cyriax erklärten die seit der Antike postulierten Verschiebungen im Rücken mit einem „Derangement“ von Bandscheiben. Der neuseeländische Physiotherapeut Robin McKenzie präzisierte die daraus abgeleiteten Behandlungen. Zum Beispiel sollte durch Einnahme einer Hohlkreuzposition eine Reduzierung von Bandscheibenvorwölbungen nach hinten reduziert werden.
In den achtziger Jahren versuchten in Deutschland Ärzte die rationalen Anteile der Chiropraktik für die Schulmedizin nutzbar zu machen und entwickelten die Chirotherapie. Im Zentrum ihrer Überlegungen stand die Blockierung, die sie als „hypomobile Funktionsstörung“ von Wirbelsäulensegmenten definierten.
Besonders häufig diagnostizierten die Chirotherapeuten die Blockierung des Iliosakralgelenks (ISG), wobei sie in Gegensatz zu alten Chirurgen gerieten, die bezweifelten, dass es sich bei der Verbindung zwischen dem Darmbein und dem Kreuzbein überhaupt um ein Gelenk handelte. Für sie war das ISG nur die „Iliosakral-Fuge“. Ein schöner Antagonismus, der Anlass bot für wunderbare Streitgespräche an Ärztestammtischen. Doch auch wenn das ISG nur eine geringe Beweglichkeit aufweist, ist inzwischen unstreitig, dass es sich dabei um ein echtes Gelenk handelt.
Mit dem Boom der Chirotherapie löste das ISG in den neunziger Jahren die Bandscheibe auf dem Platz 1 der Lieblingsdiagnosen ab. Doch am Ende ging es dem ISG wie der Bandscheibe. Es wurde zu viel und oftmals wenig sinnvoll behandelt. Immerhin führte die Inflationierung der Diagnose nicht zu überflüssigen Operationen.
Eine andere mögliche Erklärung tiefer Rückenschmerzen lieferte die Gynäkologie, die Lageanomalien und Abnormalitäten der Gebärmutter und des Lig. Teres uteri als Ursache ansah. Bis in die Neunziger Jahren waren Operationen der „Mutterbänder“ eine verbreitete Behandlung von Rückenschmerzen bei Frauen.
Lewit und Janda, zwei ärztliche Manualtherapeuten aus der CSSR, beschäftigten sich mit Muskeldysbalancen, Muskelverkürzungen und Muskelschwächen als Ursachen von Rückenbeschwerden. Sie beeinflussten damit Diagnostik und Therapie weltweit.
Einige Rezipienten konzentrierten sich einseitig auf die zu schwachen Rückenmuskeln. Der Slogan „Ein starker Rücken kennt keinen Schmerz“ verhieß Hoffnung, die sich aber nicht immer erfüllte. Denn gerade Spitzensportler leiden besonders häufig unter Rückenschmerzen. Auch darüber, ob die Dehnbarkeit oder die Stärke der Muskeln die wichtigere Qualität sei, ließen sich treffliche Debatten führen.
Ein anderer Disput war von einem ähnlich starken Antagonismus geprägt. Während der Schweizer Neurologe Brügger der Ansicht war, dass die Lordose der Lendenwirbelsäule nicht stark genug sein konnte, warnten die Orthopäden um den Bandscheibenpapst Jürgen Krämer vor zu viel Hohlkreuz.
Travell und Simons, USA, erstellten ganze Kataloge von Myofaszialen Triggerpunkten. Das sind übererregbare Areale in verspannten Muskeln oder Faszien. Diese wurden mit Druck, Kälte, Injektionen, Stoßwellen anschließenden Dehnungen behandelt. Dieses Konzept ist weltweit weitgehend akzeptiert.
Eine Weiterentwicklung ist das moderne Modell der Fasziendistorsion nach Typaldos. Hier wird die Ursache von Rückenschmerzen in Läsionen der Faszien gesehen, die in sechs Typen unterteilt werden. Dieses Modell ist inzwischen so erfolgreich, dass die Faszie die Nachfolge von Bandscheibe, Iliosakralgelenk und Triggerpunkt angetreten hat- als universelle Erklärung für fast alles am Rücken.
Bei der Suche nach der richtigen Diagnose muss der Arzt noch sehr viele andere Erkrankungen kennen und berücksichtigen, wie das Wirbelgleiten oder den Morbus Bechterew, um nur zwei zu nennen. Doch dies sind keine „Favoritenkrankheiten“, die fest im Fokus der Öffentlichkeit und der Patienten verankert sind und deren „Moden“ auch Ärzte und Therapeuten erliegen. Dabei ist eine gewisse Gesetzmäßigkeit zu beobachten.
Wenn eine neue Favoritendiagnose die Bühne betritt, wird diese Diagnose bald bei jeder passenden und nicht passenden Gelegenheit gestellt und die entsprechende Therapie veranlasst.
Wenn sich durch die Überdiagnostik Misserfolge häufen, stellen die meisten Ärzte die Diagnose seltener, wodurch sich ihre Treffsicherheit wieder erhöht. So wird die Favoritendiagnose in den Katalog der üblichen Diagnosen eingereiht.
Die wohl putzigste Diagnose ist jedoch der „unspezifische Rückenschmerz“. Dieser Begriff will zum Ausdruck bringen, dass sich eine genaue Ursache für die Beschwerden nicht feststellen lässt und dass die Ursache den Diagnostiker auch nicht weiter interessiert, weil er sowieso nur abwarten oder Schmerzmittel verordnen möchte. Das ist nicht ganz so abwegig, wie es auf den ersten Blick erscheint.
Denn häufig finden auch erfahrene Diagnostiker mehrere ursächliche Faktoren. So kann z.B. ein Bandscheibenvorfall mit einer muskulären Symptomatik einhergehen. Trotzdem wäre der Begriff „unspezifisch“ nicht treffend.
Eine bessere Bezeichnung wäre z.B. „multifaktoriell“. In den Fällen, in denen sich keine Ursache findet, spräche man besser von „unklarem Rückenschmerz“.
Einen gewissen Sinn kann die Bezeichnung „unspezifischer Rückenschmerz“ allerdings beim chronischen Rückenschmerz machen. Denn ob ein Rückenschmerz chronisch wird, hängt nicht in erster Linie davon ab, wie schwer das ursprüngliche physische Problem war. Für die Chronifizierung scheint viel entscheidender zu sein, was der Patient über seinen Schmerz denkt, welche Überzeugungen, Ansichten und Ängste über die Krankheit er hat.
Wer glaubt, schwer krank zu sein, neigt mehr zur Chronifizierung als diejenigen, die ihre Beschwerden für etwas Vorübergehendes halten.
Deshalb wirken sich auch Optimismus oder Pessimismus, und natürlich psychische Probleme auf die Chronifizierung aus. Auch das soziale Umfeld hat in dieser Frage ein Wort mitzureden.
Für diese Melange unterschiedlicher Faktoren, die jeder Behandler kennt, prägte der schottische Orthopäde Gordon Waddel den genialen Begriff „bio-psycho-soziales Schmerzmodell“.
Weil bei chronischen Rückenschmerzpatienten die ursprüngliche physische Störung in den Hintergrund tritt, ist die Behandlung in einem gewissen Maße „unspezifisch“, so dass die Diagnose „unspezifischer Rückenschmerz“ hier Sinn machen kann.
Für den normalen Schmerz jedoch, der den Patienten in das Sprechzimmer eines Arztes führt, ist sie wenig hilfreich. Denn der Patient will verständlicherweise wissen, was er eigentlich hat. In allen Gebieten der Medizin werden immer spezifischere Diagnosen gestellt, z.B. in der Onkologie oder der Diabetologie.
Aber in der Rückenbehandlung soll das radikale Gegenteil gelten? Trotzdem ist der Begriff „unspezifischer Rückenschmerz“ beliebt, allerdings vorwiegend bei Wissenschaftlern, Leitlinienverfassern und Gesundheitsökonomen, denn er erleichtert das Einordnen in diagnostische Schubladen.
Vor allem Wissenschaftler, die ihre Publikationslisten aufbauen müssen, haben weniger Mühe, wenn sie für Studien nicht mühsam Patienten mit vielen unterschiedlichen Diagnosen rekrutieren müssen, sondern bequem alle zusammen unter dem Begriff „unspezifischer Rückenschmerz“ subsummieren können.
Diese Favoritendiagnose ist daher vorwiegend eine des medizinischen Überbaus. In die Gedankenwelt der Patienten fand sie keinen Eintritt. In den 40 Jahren, die ich als Arzt tätig bin, habe ich Tausende Patienten untersucht, die mir schon beim Erstgespräch ihre vermutete Diagnose mitteilten, wie z.B. „Ich habe es an der Bandscheibe L5/S1“ oder „Kann es das Ilio-Sakralgelenk sein?“. Noch nie – nicht ein einziges Mal – hörte ich von einem Patienten: „Ich leide seit drei Wochen unter unspezifischem Rückenschmerz“.
Wenn Menschen über Krankheiten reden, geht es nicht nur um den sachlichen Gehalt. Eine Diagnose, die sich im allgemeinen Bewusstsein festsetzt, transportiert auch zahlreiche Geschichten und Botschaften. Sie hat zum Teil auch Aspekte von Unterhaltung.
Man kann das als Arzt bedauern, wenn man ein sehr trockener, nüchterner Typ ist. Aber wer seine Patienten erreichen möchte, kann diese Aspekte einer Diagnose nicht ignorieren. Er muss sich auf die Geschichten und selbst auf die Anekdoten einlassen – und aufpassen, dass das alles nicht übertrieben wird.
DR. MATTHIAS SOYKA ist Orthopäde und Buchautor.
Aktuell im Buchhandel: „Dein Rückenretter bist du selbst“, Ellert&Richter / Hamburg
www.dr-soyka.de
Youtube Kanal „Hilfe zur Selbsthilfe“
In dieser Rubrik drucken wir abwechselnd Texte von Dr. Matthias Soyka, Dr. Bernd Hontschik und Dr. Christine Löber.