2/2023 2/2023

Und nochmals Vitamin D – Welche Erkenntnis bringt eine Mendel-randomisierte Kohortenstudie?

Aus dem Netzwerk evidenzbasierte Medizin

Von Prof. Dr. Ingrid Mühlhauser im Auftrag des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin (www.ebm-netzwerk.de)

Ein relevanter Anteil unserer Bevölkerung soll an Unterversorgung mit Vitamin D leiden. Kohortenstudien berichten immer wieder von Assoziationen zwischen niedrigen 25-Hydroxyvitamin‑D Konzentrationen im Serum (25[OH]D) und den unterschiedlichsten akuten und chronischen Krankheitszuständen. Beobachtungsstudien erlauben jedoch keine kausalen Ableitungen. Dem Studiendesign inhärent sind Verzerrungen durch nicht ausreichend berücksichtigte Störvariablen und umgekehrte Kausalität (z. B., wenn niedrige 25[OH]D Werte die Folge einer Erkrankung sind und nicht deren Ursache). Zum Nutzennachweis einer Vitamin-D-Supplementierung braucht es daher randomisiert-kontrollierte Studien (RCTs).

Kürzlich haben wir an dieser Stelle berichtet, dass die US Wissenschaftsbehörde USPSTF von einem Screening auf Vitamin-D-Mangel abrät (1). Die Auswertung von 46 RCTs konnte die Wirksamkeit einer Behandlung niedriger Vitamin-D-Spiegel nicht belegen, weder auf Mortalität noch auf Knochenbrüche, Depression, Diabetes, kardiovaskuläre Krankheiten oder Krebs.

Auch aus dem IQWiG gibt es ein aktuelles Gutachten zur regelmäßigen Bestimmung von Vitamin-D-Werten (2). Die Zielgruppe sind asymptomatische Personen ab 50 Jahre mit 25[OH]D < 30 ng/ml. Die Evidenzanalyse umfasst 33 RCTs mit etwa 60 000 Erwachsenen und Beobachtungszeiten bis zu 5 Jahren und findet ebenfalls keinen Anhaltspunkt für einen Nutzen einer Vitamin-D-Supplementierung in Bezug auf die Prävention von Frakturen, Stürzen, Diabetes mellitus, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Infektionen und Depression.

Ein weiteres Review aus dem Jahr 2022 wurde als Grundlage für ein Expertengremium der WHO erstellt, um den Vitamin-D-Bedarf für Kinder im Alter 0-4 Jahre zu bestimmen (3). Das Gutachten wertet 146 Studien aus, davon 28 RCTs, und kommt zu dem Schluss, dass es keine ausreichende Evidenz gibt für eine kausale Assoziation zwischen Vitamin-D-Aufnahme und Asthma, Ekzemen, Infektionen oder Rachitis. Übereinstimmend mit anderen Evidenzanalysen (1,2) verweisen die Autor:innen auf den fehlenden Konsens zur Definition des Vitamin-D-Status. Es bleibt unklar, was ein Mangelzustand, was unzureichend bzw. ausreichend ist, oder wo Toxizität beginnt.

Auch das renommierte Wissenschaftsjournal Nature publizierte 2022 eine Übersicht zu den gesundheitlichen Wirkungen von Vitamin-D-Supplementierungen (4). Zusätzlich zu neuen RCTs wurden 60 sogenannte Mendel-randomisierte Analysen (MR) eingeschlossen. Das Review findet ebenfalls keine kausale Beziehung zwischen Vitamin-D-Supplementierung und Morbidität oder Mortalität. Die Autor:innen sehen jedoch ein Potenzial für weitere Forschung mit MR.

Was ist eine Mendel-Randomisierung?

MR-Studien nutzen die Tatsache, dass genetische Varianten (Allele) zufällig von den Eltern auf ihre Kinder vererbt werden, ähnlich wie Studienteilnehmer einer RCT auf die Studienarme verteilt werden. MR-Analysen sollen in Kohortenstudien kausale Ableitungen ermöglichen, für die üblicherweise RCTs notwendig sind (5). Dabei dienen genetische Variablen zur Abschätzung einer kausalen Beziehung zwischen einem modifizierbaren Risikofaktor (z. B. Vitamin-D-Spiegel) und einem Ergebnisparameter (z. B. Mortalität). Zusätzlich zu den üblichen Kriterien für Kohortenstudien müssen MR-Analysen bestimmte Voraussetzungen erfüllen (siehe Abbildung).

MR-Analysen schätzen den Zusammenhang zwischen Risikofaktor und Ergebnisparameter, wobei der Einfluss bekannter Störvariablen (Alter, sozialer Status, etc.) bestmöglich durch geeignete statistische Verfahren kontrolliert wird, so wie es für Kohortenstudien üblich ist. Weil als Risikofaktor aber nicht der tatsächlich gemessene, sondern der polygenetisch prognostizierte Vitamin-D-Spiegel betrachtet wird, ist der Störvariableneinfluss in einer MR-Studie theoretisch geringer als in einer konventionellen Kohortenstudie. Denn der tatsächliche Vitamin-D-Spiegel einer Person wird durch Störvariablen mitbestimmt, während das Genom einer Person in aller Regel unveränderlich ist. Analysiert wird letztlich aber stets nur ein Risikofaktor, also eine Exposition, keine Intervention. Fragestellungen nach dem Zeitpunkt, der Dauer und Dosis einer Vitamin-D-Supplementierung erfordern RCTs.

Kritik an bisherigen Vitamin-D-Studien

Kritiker sehen folgende Limitierungen bisheriger RCTs und MR-Studien (4, 6): Zu wenige RCTs hätten Personen mit schwerem Vitamin‑D-Mangel eingeschlossen; die Studienpopulationen wären nicht groß genug und die Studiendauer nicht lang genug, um Effekte auf Mortalität zu prüfen. MR-Analysen hätten schwache genetische Marker und ungeeignete statistische Methoden eingesetzt.

Das genetische Vitamin-D-Marker-Set

Bisher wurden in MR-Studien 2 bis 4 Genvarianten zum Vitamin‑D‑Metabolismus benutzt. Sie konnten bestenfalls 5% der Varianz der Vitamin‑D‑Spiegel erklären. Aktuelle Genome-weite Assoziationsstudien haben eine große Anzahl weiterer Genvarianten identifiziert. Sie könnten etwa 10% des Vitamin‑D‑Status erklären. Einige dieser Genvarianten sind direkt assoziiert mit dem Vitamin‑D‑Metabolismus, andere mit indirekten Wirkmechanismen von Vitamin D, etwa auf den Lipidstoffwechsel, Speichereigenschaften der Leber, den BMI oder Hauteigenschaften (6).

Aktuelle MR-Studie zu Vitamin D

Kürzlich hat eine MR-Analyse Aufmerksamkeit erfahren, weil die Ergebnisse einen kausalen Zusammenhang zwischen 25[OH]D-Mangel und Mortalität stützen (6). Die Studie benutzt ein genetisches Set aus 35 Genvarianten und ein angepasstes statistisches Analyseverfahren.

Die Studienpopulation besteht aus etwa 300 000 nicht verwandten UK-Bürgern und Bürgerinnen europäischer Abstammung, die zwischen 2006 und 2010, im Alter von 37 bis 73 Jahren, der UK Biobank Untersuchungsdaten zur Verfügung stellten. Neben einer Genanalyse wurde 25[OH]D einmalig gemessen. Der Nachbeobachtungszeitraum betrug im Mittel 14 Jahre.

Wie gefordert, ist das genetische Vitamin-D-Marker-Set mit dem 25[OH]D-Serumspiegel assoziiert (6), allerdings beträgt der Unterschied im mittleren 25[OH]D zwischen dem niedrigsten und höchsten Quartil des genetischen Scores nur 3,6 ng/ml (7).

Die Autor:innen berichten signifikante Assoziationen bei einem genetischen Risiko für Vitamin-D-Spiegel < 20 ng/ml. Im Vergleich zu höheren 25[OH]D wird die Odds Ratio für die Gesamtmortalität auf 1,25 (95% Konfidenzintervall 1,16 bis 1,35) geschätzt. Auch für die kardiovaskuläre, Krebs- und respiratorische Mortalität finden sich signifikante Assoziationen. Hingegen kann bei 25[OH]D > 20 ng/ml kein Zusammenhang zwischen Vitamin D und Gesamtmortalität beobachtet werden.

Die konventionelle Datenanalyse dieser UK-Kohorte ergibt ähnliche Ergebnisse, wobei sich die signifikanten Assoziationen bei der MR-Analyse deutlicher auf den 25[OH]D-Bereich von schwerem Vitamin-D-Mangel konzentrieren (< 10 ng/ml). Somit bleibt die Frage nach dem zusätzlichen Erkenntnisgewinn dieser MR-Studie. Letztlich können unzureichend berücksichtigte indirekte Effekte des genetischen Marker-Sets auf den Endpunkt Mortalität nicht ausgeschlossen werden. Kritisch wäre insbesondere, wenn die genetischen Vitamin-D-Marker auch über andere Wege (z. B. den Fettstoffwechsel) mit dem Sterberisiko zusammenhängen.

Die Forscher:innen selbst schlussfolgern, dass schwerer Vitamin-D-Mangel, wie in Leitlinien empfohlen, behandelt werden sollte. Die Ergebnisse würden jedoch gegen eine Supplementierung bei 25[OH]D Werten > 20 ng/ml sprechen. Zudem könnten MR-Analysen keinen Aufschluss geben zur Art und Weise einer Vitamin-D-Supplementierung.

Fazit

MR-Analysen können dazu beitragen, kausale Zusammenhänge aufzudecken. Voraussetzung sind valide genetische Marker. Eine mendelsche (oder natürliche) Randomisierung darf nicht mit „echter“ Randomisierung gleichgesetzt werden, kann aber eventuell aussagekräftigere Ergebnisse liefern als eine klassische Kohortenstudie. MR-Studien müssen im Kontext der bisherigen Evidenz interpretiert werden, um wesentliche Annahmen und Verzerrungsrisiken zu prüfen. Es gibt Hinweise, dass einzelne genetische Varianten auch das Reagieren von 25[OH]D auf Vitamin-D-Zufuhr (Ernährung, Supplementierung, UV-Bestrahlung) beeinflussen (7). RCTs sind daher notwendig, um die Wirksamkeit einer Supplementierung mit Vitamin D zu belegen. Bisherige RCTs konnten einen solchen Nutzen nicht nachweisen.

UNIV.-PROF. DR. MED. INGRID MÜHLHAUSER
Universität Hamburg
MIN Fakultät
Gesundheitswissenschaften
E-Mail: Ingrid.Muehlhauser@uni-hamburg.de
Tel: 040 / 42838 - 3988

Literatur:

1) Mühlhauser I (2021) Vitamin D - das Ende eines Hypes? Screening auf Vitamin-D-Mangel ohne Nutzennachweis. KVH-Journal (7-8): 22-24. https://www.ebm-netzwerk.de/de/medien/pdf/ebm-beitrag-zu-screening-auf-vitamin-d-mangel.pdf

2) IQWiG (Hrsg) (2022). Profitieren ältere Personen von einer regelmäßigen Bestimmung der Vitamin-B12- und Vitamin-D-Werte im Blut? HT20-04, Version 1.0. https://www.iqwig.de/sich-einbringen/themencheck-medizin/berichte/ht20-04.html

3) Beauchesnea AR, Copeland K, Krobatha DM et al (2022) Vitamin D intakes and health outcomes in infants and preschool children: Summary of an evidence report. Ann Med 54: 2278–2301. https://doi.org/10.1080/07853890.2022.2111602

4) Bouillon R, Manousaki D, Rosen C et al (2022) The health effects of vitamin D supplementation: evidence from human studies. Nat Rev Endocrinol 18: 96–110. https://doi.org/10.1038/s41574-021-00593-z

5) Davies NM, Holmes MV, Smith DG (2018) Reading Mendelian randomisation studies: a guide, glossary, and checklist for clinicians. BMJ 362: k601. https://doi.org/10.1136/bmj.k601

6) Sutherland JP, Zhou A, Hyppönen E (2022) Vitamin D deficiency increases mortality risk in the UK Biobank: A nonlinear Mendelian randomization study. Ann Intern Med 175:1552-1559. https://doi.org/10.7326/m21-3324

7) Hyppönen E, Vimaleswaran KS, Zhou A (2022) Genetic determinants of 25-Hydroxyvitamin D concentrations and their relevance to public health. Nutrients 14: 4408. https://www.mdpi.com/2072-6643/14/20/4408