2/2024 2/2024

Wir dürfen das Feld nicht den Falschen überlassen!

Von Dr. Mike Müller-Glamann

Die Reform der außerklinischen Intensivpflege soll Versorgungsstandards sichern – doch die Umsetzung geht nur langsam voran. Der Hausarzt Dr. Mike Müller-Glamann appelliert an seine Kolleginnen und Kollegen, sich auf die neuen Regeln einzulassen.

Die Neuordnung der außerklinischen Intensivpflege (AKI) ist eine zwiespältige Angelegenheit. Es gab Missstände: In der Pressemitteilung des G-BA zur neuen AKI-Richtlinie ist von „fragwürdigen und unethischen Geschäftspraktiken mit sogenannten Beatmungs-WGs“ die Rede, in denen es oft vor allem um „Profitmaximierung“ gegangen sei.
Medienberichten zufolge sollen schwerstkranke Patienten über lange Zeit künstlich beatmet worden sein, ohne dass Indikation oder Therapieoptimierung in fachlich angemessener Weise überprüft worden wären.

Beim Versuch, im Bereich der AKI eine gute und qualifizierte Versorgung zu gewährleisten, hat der G-BA unter anderem die Qualitätsanforderungen für betreuende Ärztinnen und Ärzte geregelt. Um die AKI verordnen zu dürfen, benötigen Hausärzte nun eine Genehmigung der KV. Außerdem sollen besonders qualifizierte Fachärzte hinzugezogen werden, die in bestimmten Abständen prüfen, ob es möglich ist, Patienten von der Beatmung zu entwöhnen, die Beatmungszeit zu verringern oder die Kanüle zu entfernen (Potenzialerhebung). Auch diese potenzialerhebenden Ärzte benötigen eine Genehmigung der KV.

Um es vorsichtig zu sagen: Das Problem ist nicht perfekt gelöst worden. Die Intention war gut, doch bisher haben sich nur wenige Ärztinnen und Ärzte um eine Genehmigung zur Verordnung oder zur Potenzialerhebung bemüht. Ich selbst war kurz davor, meine Anträge aufgrund des Zeitaufwandes für den Genehmigungsprozess zurückzuziehen.
Doch der Betreiber der Einrichtung, in der ich bisher AKI-Patienten betreut habe, bat mich, mir die Genehmigungen zu besorgen. „Bitte mach das“, sagte er. „Wir finden sonst keinen.“ Ich habe mich überzeugen lassen, alle Nachweise eingereicht und die Genehmigungen für die Verordnung von AKI und für die Potenzialerhebung erhalten.

In der von mir betreuten Einrichtung versorge ich 22 Patienten. Es handelt sich um ein auf AKI-Patienten spezialisiertes Heim. Ich kenne die Mitarbeiter, sie sind sehr gut qualifiziert und lassen sich von berufsethischen Erwägungen leiten.
Immer mal wieder gelingt es, zusammen mit dem Team eine Therapieoptimierung zu erreichen. Manchmal hat ein Patient Weaning-Potenzial und kann dekanüliert werden. In seltenen Fällen kann eine Person nach Hause entlassen werden.

In der Arztsuche von www.gesund.bund.de sind bundesweit alle Ärzte verzeichnet, die eine AKI verordnen dürfen oder eine Genehmigung für die Potenzialerhebung haben.
Weil dort so wenig Ärzte mit AKI-Genehmigung zu finden sind, bekomme ich immer mehr Anfragen von Patienten, Angehörigen und Einrichtungen. „Im Internet steht, dass Sie verordnen dürfen. Wir haben hier Patienten, die AKI benötigen. Können Sie das nicht übernehmen?“ Noch mehr AKI-Patienten als jene, die ich bisher schon betreue, möchte ich aber nicht übernehmen.

Ich halte es auch nicht für sinnvoll, dass sich diese Aufgabe bei einer Hand voll Ärzten konzentriert. Das entspricht nicht dem Anliegen, in diesem Bereich mehr Transparenz und Versorgungsqualität zu erreichen und eine breite Qualifizierung anzustoßen.
Deshalb möchte ich gegenüber meinen Kolleginnen und Kollegen dafür plädieren, sich auf die Bedingungen der AKI-Richtlinie einzulassen - aus rein pragmatischen Gründen, um die Versorgung sicherzustellen und weil die Patienten weiter versorgt werden müssen.

Die meisten Hausärzte haben vor der Reform höchstens einen oder zwei AKI-Patienten versorgt – und zwar meist solche, die sie schon über Jahre hinweg begleiteten. Viele ältere Patienten haben ja einen Hausarzt, bei dem sie sich aufgehoben fühlen, der auch Hausbesuche macht. Den vielleicht auch die Angehörigen und das familiäre Umfeld kennen.

Sobald diese Patienten außerklinisch beatmet werden müssen, ist es natürlich von Nachteil, wenn sie den Hausarzt wechseln müssen, weil sie jemanden benötigen, der die AKI verordnen darf. Noch ungünstiger wäre, wenn sie an jemanden geraten, der sich nur darauf spezialisiert hat, die AKI-Formulare auszufüllen. Deshalb würde ich es eigentlich begrüßen, wenn jede Hausärztin und jeder Hausarzt die Genehmigung beantragen würde, eine Verordnung auszustellen.

Für diesen Bereich – also nur für die Verordnung der AKI – eine Genehmigung zu erhalten, ist nicht allzu viel Aufwand: Man erklärt gegenüber der Genehmigungsabteilung der KV, dass man über Kompetenzen im Umgang mit beatmeten oder trachealkanülierten Patienten verfügt oder beabsichtigt, sich diese Kompetenzen innerhalb von sechs Monaten anzueignen und der KV nachzuweisen. Die KBV bietet hierzu eine Online-Fortbildung an. Kein einfacher Stoff, doch die Auseinandersetzung damit ist eine sinnvoll und gut investierte Zeit. Man lernt immer noch etwas dazu – und es gibt Fortbildungspunkte, die man ja ohnehin sammeln muss.

Im Prinzip finde ich es auch richtig, dass die Verordnung und die Potenzialerhebung getrennt wird – dass es sich dabei um unterschiedliche Ärzte handeln soll, die sich beratschlagen und die sich vielleicht auch auf die Finger schauen können.

Die Idee hinter den neuen AKI-Formularen ist es, Fehlversorgung zu erkennen. Beim Ausfüllen geht man zusammen mit den Pflegekräften die Punkte durch und erfragt: Wie wurde der Patient in den vergangenen Monaten behandelt? Mit wie viel Sauerstoff? Das wurde bisher häufig von den Beatmungstherapeuten festgelegt, die das auch kontrollierten und den Patienten nur bei Problemen in ein Krankenhaus brachten.
Nun unterbreiten die Beatmungstherapeuten einen Vorschlag, der mit dem Arzt besprochen und dann meist in das Formular übernommen wird.

Ich weiß allerdings nicht, ob die Regelungen zur Potenzialerhebung so ausgestaltet sind, dass sie in der Realität funktionieren.

Bei den potenzialerhebenden Ärzten handelt es sich um fachlich versierte Spezialisten oder um Hausärzte, die Erfahrungen in diesem Bereich haben.
Diese Ärzte sollen also der neuen Regelung zufolge in eine Beatmungs-WG, ein Heim oder eine Wohnung fahren und sich ihnen unbekannte Patienten anschauen. Es dauert einige Zeit, bis man die Geschichte eines solchen Patienten erfasst hat – da muss man lange lesen.

Und man muss den Pflegekräften vertrauen, die den Patienten ja sehr viel besser kennen, viele Stunden mit ihm verbringen und wissen: Kann er manchmal schlucken? Atmet er auch mal selbstständig, oder wird er nach 30 Sekunden blau? Gibt es eine Chance, ihn von der Trachealkanüle zu entwöhnen?
Ich werde als Arzt keinen Entwöhnungsversuch anordnen, wenn die Beatmungstherapeuten das nicht für angezeigt halten. Doch wie soll man Vertrauen zum Pflegepersonal aufbauen, wenn man so selten vor Ort ist?

Für die Potenzialerhebung gibt es eine Übergangszeit bis zum 31. Dezember 2024. Bis dahin darf die AKI ausnahmsweise auch verordnet werden, wenn keine zur Potenzialerhebung qualifizierte Person zur Verfügung steht. Wir werden sehen, ob dieser zeitliche Aufschub reicht.

Die AKI ist ein extrem kostenintensiver Versorgungsbereich. Es geht um schwerstkranke Patienten, die zwar außerklinisch versorgt werden sollen, bei denen aber ständig die Anwesenheit einer Pflegefachkraft nötig ist, weil jederzeit eine lebensbedrohliche Situation auftreten kann. Die meisten dieser Patienten sind beatmet oder trachealkanüliert und benötigen rund um die Uhr eine Eins-zu-eins- beziehungsweise eine Eins-zu-zwei-Versorgung. Auf einen oder zwei Patienten kommen oftmals acht Angestellte.

Wer die Kosten für Personal und Therapie in den Heimen und in der Häuslichkeit grob überschlägt, bekommt eine Vorstellung davon, wie teuer diese Art der Versorgung ist. Dass es um immense Summen geht, erklärt wahrscheinlich, warum der Bereich für Missbrauch anfällig sein könnte. Die Höhe der Kosten erklärt aber auch, warum Heime oder auch Privatpersonen schnell unter Druck geraten, wenn sie niemanden finden, der die Verordnung vornimmt. Wenn beispielsweise Eltern ihr schwerstkrankes Kind im Rahmen der AKI versorgen, können sie Pflegepersonal einstellen. Davon sind sie dann auch abhängig.

Doch was geschieht, wenn sie kein Geld mehr von der Krankenkasse bekommen, weil es zu wenig Ärzte gibt, die AKI verordnen dürfen? Sollen sie ihr Kind alleine betreuen? Und wie lange kann ein auf AKI spezialisiertes Pflegeheim durchhalten, wenn Zahlungen ausbleiben? Welche Summen kann so ein Heim vorschießen, ohne finanziell in die Knie zu gehen?

Ich habe in verschiedenen Gremien der Selbstverwaltung darauf hingewiesen, dass wir das Thema AKI jetzt dringend angehen müssen. Dazu ist einerseits unerlässlich, dass sich möglichst viele Ärzte in die Verantwortung nehmen lassen und Genehmigungen beantragen. Gleichzeitig aber sollten G-BA und KBV die Regelungen auf den Prüfstand stellen und gegebenenfalls nachbessern.

Es gab ja Diskussionen darüber, ob es sinnvoll ist, Intensivpflege in diesem Umfang im außerklinischen Bereich anzubieten. Doch wenn man sich für den Aufbau solcher Strukturen entscheidet, muss die Versorgung verlässlich sein.

DR. MED. MIKE MÜLLER-GLAMANN
Hausarzt in Bramfeld und Sprecher des beratenden Fachausschusses „Hausärztliche Versorgung“ der KV Hamburg