Leserbrief
Zur Kolumne „Im Antiquariat“ von Dr. Christine Löber, KVH-Journal 11/2025
KONSEQUENZ AUS DER HISTORIE ZIEHEN
Wunderbar, endlich benennt jemand das, was wir alle durchgemacht haben und – und zu meinem Erstaunen heute noch – durchmachen: den verletzenden, häufig vernichtenden Führungsstil deutscher Chefärzte in einem nach wie vor autoritär strukturierten medizinischen System.
Überzeichnet die Kollegin? Nein, es ist so. Sind alle so? Nein, natürlich nicht. Ich arbeite in einem sprechenden Fach und hatte das große Glück, bereits früh im Studium die sogenannte „Antipsychiatrie“-Bewegung kennenzulernen, die zur Öffnung der Psychiatrischen Kliniken mit der Entwicklung der gemeindenahen Psychiatrie von heute geführt hat. Dadurch habe ich mich mit vielen Fragen an meinen Berufsstand auseinandersetzen müssen. Vieles habe ich erst deutlich später verstanden, als ich die psychologischen und historischen Hintergründe meiner Familie aufarbeitete. Ich habe auch sehr kooperative Chefärzte kennengelernt, die auf eine flache Hierarchie Wert legten, von denen ich viel gelernt habe.
Doch die Frage bleibt bestehen – vor allem, wenn man sich in einem somatischen ärztlichen Feld bewegt: Wie kann das, was wir doch bestens aus der Historie kennen – und gerade in diesem Jahr in der Ausstellung: „Systemerkrankung“ in den Räumen der KV, die gerade als Wanderausstellung durch Deutschlands KVen zieht, eindrücklichst vorgeführt bekamen – mit dem zusammenkommen, was immer noch Alltag in der Medizin ist? Das heißt: Wann werden wir a) unsere Ausbildung und oft Berufswirklichkeit als deutsche Ärzte mit b) den Erkenntnissen der Medizingeschichte des dritten Reiches tatsächlich zusammenbringen? Wer die Ausstellung verpasst hat, braucht nur in unser äußerst informatives medizinhistorisches Museum im UKE zu gehen. Denn darum geht es doch: dass endlich Konsequenzen aus diesen Erfahrungen in der Ausbildung und Lehre gezogen werden. Das wäre jedoch an die persönliche Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte gerade in ärztlichen Traditionsfamilien geknüpft, von denen es in Deutschland nicht wenige gibt. Ich stamme selbst aus einer. Der Berufsstand hatte hier immer ein hohes Ansehen. Dann kann Demut entstehen und vielleicht ein Umdenken.
Ich bin sicher nicht allein mit der Forderung, dass die Erkenntnisse aus der medizinhistorischen Aufarbeitung in Deutschland dringend in die Ausbildung unserer jungen Kollegen einfließen müssen. Im Rahmen meiner psychotherapeutischen Tätigkeit habe ich mittlerweile jedoch sowohl im strukturschwachen Raum Süddeutschlands als auch in Großstädten wie Hamburg junge Kollegen an der Universität oder in ihren ersten Assistenzarzttätigkeiten kennengelernt, die mir berichteten, dass wir noch weit entfernt davon sind, das Wissen in die Tat umgesetzt zu haben.
Genau so hat es die Kollegin in ihrem lebendigen und richtigen Artikel beschrieben. Wollen wir nochmal erleben, dass die deutsche Medizin vom Ausland als von der internationalen Wissenschaft nicht ernst zu nehmen betrachtet wird wie damals, als sie sich selbst durch ihre „Lehre vom lebensunwerten Leben“ und deren Umsetzung vor aller Welt ins Abseits gebracht hatte?
Dr. med. Susanne Hartig,
psychotherapeutisch tätige Ärztin in Hamburg-Hoheluft