11/2025 11/2025

Im Antiquariat

Kolumne

von Dr. Christine Löber, HNO-Ärztin in Hamburg-Farmsen

Als wir 2005 anfingen zu arbeiten, wurde eine befreundete Chirurgin im OP regelmäßig mit Instrumenten beworfen. Der werfende Oberarzt nahm das, was er gerade in der Hand hatte oder langte auf den Instrumententisch. Da flogen Klemmen, Scheren und Skalpelle.
Ich fand das gar nicht so merkwürdig. Irgendwie bisschen drüber, aber naja, ist eben so, da habe ich wohl Glück gehabt. Ich wurde von meinem Oberarzt lediglich angeschrien, wenn ich im Rufdienst erst beim zweiten Telefonklingeln am Telefon war.
Die Chirurgen, die den Instrumentenwurf erduldeten (und dabei auch Verletzungen erlitten), sagten nichts. Jahrelang.

Geschrien und geätzt haben schon Sauerbruch und Billroth. Billroth war der Ansicht, dass Studenten „an den Rand des Erträglichen“ arbeiten müssten, um die erforderliche Härte und Konzentration für den OP zu schaffen.
Aber bereits Hippokrates und Galen duldeten keinen Widerspruch gegen ihre Lehren. Weder Schüler noch Patienten hatten hier irgendein Mitspracherecht.
Aus der Antike zurück in die Gegenwart. Auch weltweit bekannte, socialisende, sympathisch wirkende Hamburger Internisten haben sich durch unterdrückende und diskriminierende Abteilungsstrukturen hervorgetan. Das ist allen bekannt, jeder will trotzdem da arbeiten, das wird man ja wohl aushalten können. Die erforderliche Härte kann man ja lernen.

In der Medizin ziehen sich autoritäre, militärisch beeinflusste Strukturen durch alle Epochen. Obwohl das Berufsbild primär doch eher von Soft Skills wie Empathie, Kommunikationsleistungen, Milde und Vertrauen geprägt sein sollte, läuft unter diesem Kuschelmäntelchen häufig etwas vollkommen Anderes ab.
Natürlich müssen wir Sachen ertragen. Blut, Tod, Gestank, Siechtum, Tränen, 24-Stunden-Dienste. Verantwortung, Alleinsein, Alleingelassenwerden, Fehler, Scham, Angst, Überforderung.
Wir brauchen die erforderliche Härte. Oder?

Auch wenn man meint, von Hippokrates bis heute sei ja viel passiert, gilt das in der Medizin zwar für die wissenschaftliche Entwicklung, für die Etablierung zeitgemäßer zwischenmenschlicher Strukturen eher nicht.
Das hat viele unterschiedliche Gründe.
Medizin ist ein Fach, das tatsächlich immense Belastungen mit sich bringt. Wir kennen das alle nicht anders, deswegen ist das in Ordnung, es lässt sich ja auch nicht ändern, gehört es ja zur Jobbeschreibung.
In meinem Studium zumindest sind wir auf nichts davon vorbereitet worden. Nicht auf Menschen, die sterben wollen, nicht auf das Anschreien, nicht auf laute oder stille Bestrafungen durch OP-Verbote, nicht auf Zeiten, in denen man sich dauerhaft Sachen allein beibringen muss.
Mir hat das alles gar nichts ausgemacht, einfach aushalten und weitermachen.
Die erforderliche Härte für den Beruf wird von oben kommuniziert. Das kann auf verschiedene Weisen passieren.

Die klassischen Rumschrei-Narzissten mit hohem Malignitätsfaktor kennt jeder, die Stimmung ist furchtbar, die meisten haben Angst, und aus diesen Abteilungen gehen dann genau dieselben Persönlichkeiten hervor. Die gewinnen dann Posterpreise und kriegen Fellowships. Und schreien ihre Mitarbeiter an, knallen Türen, alle haben Angst und so weiter.
Andere, und nur solche hatte ich als Chefs, sind stiller. Das Abteilungsklima ist ganz gut, aber Sie müssten dann morgen den Dienst übernehmen, ja ich weiß, es sind dann schon zwölf, aber das machen Sie doch, oder? Diese Chefs lachen keinen Mitarbeiter aus, wenn er als junger Vater seine Arbeitszeit auf 90 % (!) reduzieren will.
Sie nehmen das ernst und sagen dann freundlich: „Sie wissen ja, dass es für Sie dann keinen Oberarztposten geben wird?“
Und sind wirklich nett dabei. Meinen es auch nicht böse. Sie sind, genau wie die Schreihälse, aus einem System hervorgegangen, in dem sich kaum etwas bewegt. In dem große Teile der gesellschaftlichen Moderne noch nicht angekommen sind.

In Zeiten des immer weiter fortschreitenden Personalmangels hatte ich zwei Kinder bekommen und arbeitete in Teilzeit, wie viele Kolleginnen in meiner Abteilung. Für Frauen ist das Reduzieren der Arbeitszeit okay, die werden ja sowieso nicht Oberärztin.
Weil wir ständig nahezu unbesetzte Stationen hatten, überlegten eine Kollegin und ich uns ein Arbeitsmodell, in dem eine von uns vormittags und eine nachmittags arbeitete. Wenn dann eine wegen kranker Kinder ausfallen würde, wäre wenigstens die andere die Hälfte des Tages da. So einfach, so effektiv.
Das haben wir unserem Chef erläutert, er hat prompt abgelehnt. Sowas ginge nicht, weil ja morgens auch Frühbesprechung sei (?), außerdem würde die Übergabe ja viel zu lange dauern (erfahrungsgemäß ungefähr acht Minuten).

Veränderungen gefährden eben Stabilitäten, und wenn diese Stabilitäten auch noch so instabil sind. Im Antiquariat müssen Routinen bewahrt werden.
Ein Chef lebt immer etwas vor, die Oberärzte tun das aber auch. Einige verstecken sich in ihren Nischen, einige profilieren sich mit cholerischen Bühnenauftritten und verlorenen Nerven, einige verschließen still und heimlich den OP vor allen anderen und verbauen Ausbildungen.
Der Chef muss derweil wirtschaftliche Aufgaben erledigen und kann ja gar nicht immer auf alles aufpassen.
Deswegen entgeht ihm vielleicht, welche demütigenden Vorführungen während der Visiten ablaufen, und dass OP-Kataloge nur noch mit Biegen und Brechen erfüllt werden können.
Lieber nicht so genau hingucken.

Aber heutzutage haben wir immerhin OP-Kataloge, Dokumentationspflichten für Kontakte mit Mitarbeitern und Zielvereinbarungsgespräche, in denen immer dasselbe passiert. Einer meiner Chefs führte die Mitarbeitergespräche grundsätzlich während der Weihnachtsfeier, wenn alle gerade anfingen, betrunken zu werden.
Von all diesen übergeordneten Personen wird man geformt und lernt natürlich von ihnen. Die gewichtige Rolle, die dieser Vorbildfunktion zukommt, wird in großem Stil unterschätzt.
Wenn wir über Jahre lernen, dass antiquierte Führungsstile und Verhaltensweisen auch außerhalb von Notfallsituationen das Mittel der Wahl sind, werden wir das nicht ganz vergessen. Wenn wir nicht lernen, welche Fähigkeiten in einem Beruf, der sich fast ausschließlich mit Menschen beschäftigt, hilfreich sind, dann machen wir eben irgendwas, wovon wir auch nicht genau wissen, was das ist.

Unser Beruf ist bei weitem nicht nur Medizin, sondern eine menschliche und gesellschaftliche Aufgabe. Die Vermittlung von zwischenmenschlichen Kompetenzen sowie die Akzeptanz sich verändernder Lebensentwürfe ist im Aufgabenkatalog der Chef- und Oberarztriege weiterhin unterrepräsentiert.
Aber wenn wir nicht in unserem Staubkostüm verharren wollen, müssen wir hier ansetzen.

Naja. Zum Glück bin ich trotz allem eine sehr moderne, empathische Medizinerin geworden.
Neulich habe ich übrigens was gelesen, da ging es um heutige Medizinstudenten. Die haben sich aufgeregt, dass es unmöglich sei, dass es immer noch keine regelmäßigen Mittagspausen geben würde und man als PJler ja wohl keine Station alleine machen könne.
Da habe ich mit den Augen gerollt und leise gemurmelt, „Euch fehlt es einfach an der erforderlichen Härte.“

DR. CHRISTINE LÖBER ist HNO-Ärztin und Buchautorin.
Aktuell im Buchhandel: „Immer der Nase nach“ (zusammen mit Hanna Grabbe), Mosaik Verlag / Hamburg

In dieser Rubrik drucken wir abwechselnd Texte von Dr. Christine Löber, Dr. Matthias Soyka und Dr. Bernd Hontschik.

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