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Digitale Patientensteuerung: Was können wir von den Schweden lernen?

von Caroline Roos

Schwedens Gesundheitssystem setzt auf eHealth und Patientensteuerung. Eine Hamburger Delegation hat vor Ort erkundet, wie sich die Stärken des deutschen und des schwedischen Systems verbinden lassen.

Als Mitglied der Delegation um Hamburgs Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer durfte ich gemeinsam mit Dr. Mike Müller-Glamann, Dr. Thiemo Kurzweg und anderen Vertreterinnen und Vertretern des Hamburger Gesundheitswesens im September 2025 drei Tage lang das schwedische Gesundheitssystem erkunden. Im Fokus Stand die digitale Patientensteuerung.

Die Grundvoraussetzungen in Schweden und Deutschland sind sehr unterschiedlich: Schwedens Gesundheitssystem ist steuerfinan­ziert und wird im Rahmen nationa­ler Leitplanken in den 21 Regionen und 290 Kommunen re­gional ver­antwortet, organisiert und finanziert.
Der Zugang zur ärztlichen Versorgung erfolgt erst nach einer medizinischen Ersteinschätzung durch eine medizinische Fachkraft. Der Zugang zum Arzt erfolgt nur, wenn es wirklich notwendig ist. Und auch dann gibt es teils lange Wartezeiten, insbesondere in der fachärztlichen Versorgung oder bei Operationen, und das trotz einer gesetzlichen 3-90-90-Tage-Regelung. Diese legt fest, dass eine hausärztliche Versorgung innerhalb von drei Tagen, eine fachärztliche Versorgung innerhalb von 90 Tagen und eine sich gegebenenfalls anschließende Operation ebenfalls innerhalb von 90 Tagen erfolgen soll.
Werden die Fristen nicht eingehalten, hat die Patientin oder der Patient Anspruch darauf, in einer anderen Region behandelt zu werden. Doch dort landet man häufig auch nur wieder auf einer Warteliste.

In Deutschland hingegen ist der Zugang zur ärztlichen Versorgung sehr niedrigschwellig. Viele Patientinnen und Patienten haben – unterstützt durch politische Versprechungen – die Erwartung, ärztliche Leistungen nahezu unbegrenzt in Anspruch nehmen zu können.

Und es gibt auch kulturelle Unterschie­de, die dazu beitragen, das Schwe­den im Bereich eHealth so erfolg­reich ist: Die Schwedinnen und Schwe­­den haben ein großes Vertrauen in ihren Staat. Sie sind pragmatisch und konsequent lösungsorientiert, während bei uns in Deutschland auch schon mal die Probleme in den Vordergrund gerückt werden.

Vieles hat mich in Schweden sehr beeindruckt - die Innovationskraft, die Effizienzorientierung, der Kooperationswille, die konsensorientierte Zusammenarbeit sowie das Offenbleiben für neue Entwicklungen.

Schweden hat bereits seit 2006 eine nationale ehealth-Strategie; Digitalisierung im Gesundheitswesen hat damit eine lange Tradition, da sie es auch ermöglicht, die rund 20 Prozent der Bevölkerung zu erreichen, die in Schweden weit ab von ambulanter und stationärer Versorgung leben.
Ob wir für die Versorgung in Deutschland etwas lernen können? Ich denke schon. Wir sollten das Beste aus beiden Welten miteinander vereinen: die hervorragende ambulante Versorgung hierzulande erhalten und stärken – und die digitale Steuerung und Unterstützung weiter ausbauen.
Schweden ist Weltspitze in Sachen eHealth. Digitalisierung wird in Schweden unter anderem zur Verbesserung der Gesundheitskompetenz, zur Patientensteuerung, für Telemedizin, Onlinedienste und für ein Patientenmonitoring in der häuslichen Umgebung genutzt.

Seit über 25 Jahren gibt es bereits das Gesundheitsportal 1177 Vårdguiden. Das ist eine zentrale Anlaufstelle für Bürgerinnen und Bürger für alle gesundheitlichen Themen und medizinische Versorgung – per Telefon und online. Hier ist rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr medizinisches Fachpersonal erreichbar.

Das Portal ist staatlich finanziert und wurde zu einer Zeit aufgebaut, als das Internet noch ganz jung war. Ziel war es, Versorgungsinformationen und Versorgungsangebote verfügbar zu machen und die Patientenströme zu steuern. Außerdem sollte die Bevölkerung in den dünn besiedelten Gegenden im Norden des Landes über digitale Angebote an die Gesundheitsversorgung angebunden werden.

Jede Schwedin, jeder Schwede hat eine Identifikations-Nummer, mit deren Hilfe er sich bei der 1177 einwählen oder über die Website auf dem Onlineportal 1177.se anmelden kann. Hier findet man unter anderem Zugang zu allgemeinen Gesundheitsinformationen.

Darüber hinaus Informationen zu Vorsorgeangeboten, zu spezifischen Erkrankungen, zu ambulanten und stationären Versorgern oder auch, wie man sich am besten auf einen Arzttermin vorbereitet. Hier können auch Termine gebucht, eine Videoberatung in Anspruch genommen, gesundheitliche Fragen mittels Chatbot gestellt, eRezepte abgerufen sowie digitale Gesundheitsanwendungen heruntergeladen werden. Außerdem kann man auf diesem Wege seine elektronische Patientenakte (ePA) verwalten.

Eine Voraussetzung für den Erfolg des Portals ist der politische Wille gewesen, es landesweit verfügbar zu machen, das Angebot kontinuierlich weiter zu verbessern und konsequent zu finanzieren.

Schon den Kindern in der Schule wird beigebracht, dass die 1177 bei allen Gesundheitsthemen und -problemen weiterhilft. Die 1177 ist einer der möglichen Zugänge zum Gesundheitssystem. Hier wird auch telefonisch oder per Chatbot mittels medizinischer Ersteinschätzung geprüft, ob eine ärztliche Konsultation tatsächlich notwendig und welches Versorgungsangebot passend ist.

Auch in den ambulanten Gesundheitszentren und in Krankenhäusern findet eine sehr starke Vor­selektion durch nicht-ärztliches Fachpersonal statt. Zum Arzt kommt nur, wer wirklich ärztliche Versorgung benötigt. Arztkontakte sind grundsätzlich mit einer Gebühr belegt: 15 Euro für den Hausarzt, 30 Euro für den Facharzt, 40 Euro für die Notaufnahme. Sobald ein Betrag von umgerechnet 104 Euro erreicht ist, sind weitere Behandlungen für den Rest des Jahres kostenfrei.

Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung braucht man in Schweden erst nach 14 Tagen, und im Krankheitsfall wird das Gehalt nur zu 80 Prozent ausgezahlt. Das alles zahlt sicher darauf ein, dass es in Schweden nur zwei statt wie in Deutschland zehn Arztkontakte je Patient gibt.

Mit zwei Krankenhausbetten auf 1000 Einwohner hat Schweden im Vergleich der OECD-Länder zudem die geringste Bettenanzahl (Deutschland: 7,8) – und mit 5,3 Tagen die drittniedrigste Verweildauer (Deutschland: 7,2 Tage). Das gelingt, da die Patientinnen und Patienten gut vorbereitet ins Krankenhaus kommen und die relevanten medizinischen Unterlagen und Daten über die ePA zur Planung und Vorbereitung der Behandlung genutzt werden.

Der Aufenthalt kann so kurz wie möglich gehalten werden, da die Patientinnen und Patienten bei Bedarf in der häuslichen Umgebung mittels digitalem Patientenmonitoring begleitet werden.

Mit 83,4 Jahren haben die Schweden eine höhere Lebenserwartung als die Deutschen (81,2 Jahre). Einer der Gründe dafür ist sicherlich auch, dass der Tabakkonsum und der Alkoholkonsum in Schweden im europäischen Vergleich ziemlich niedrig ist – was auch das Ergebnis gezielter Public-Health-Strategien und Präventionskampagnen ist.

Die Einführung der ePA in Schweden war Teil der nationalen eHealth-Strategie. Die Akten selbst sind dann jedoch von jeder Region selbst entwickelt worden. Die ePA ist mit den Softwaresystemen der Leistungserbringer so verknüpft, dass direkt in der ePA gelesen und dokumentiert werden kann. Nur in vereinzelten Fällen erfolgt die Dokumentation in einem Bereich, der für die Patientinnen und Patienten über Ihren Zugang zur ePA nicht einsehbar ist.

Insgesamt erfolgt das Arbeiten mit der ePA seit Jahren routiniert. Kommt jedoch eine Patientin oder ein Patient aus einer anderen Region oder zieht um, kann nicht auf ihre beziehungsweise seine ePA zugegriffen werden. An eine nationale Patientenkurzakte und die nationale Medikationsliste sind noch nicht alle Leistungserbringer angebunden. Auch in Schweden gibt es noch große Herausforderung zur Herstellung der Interoperabilität der verschiedenen Systeme und Anwendungen.

Zudem ist die ePA technisch in die Jahre gekommen. Aktuelle digitale Projekte stellen die Erneuerung der ePA sowie die Interoperabilität und damit eine regionsübergreifende und europäische Nutzbarkeit (European Health Data Space - EHDA) in den Fokus.

Insofern ja: Wir in Deutschland hätten schneller sein können mit der Digitalisierung des Gesundheitswesens. Doch zumindest einen Vorteil hat der späte Start der ePA in Deutschland: Ärzte und Psychotherapeuten können, egal wo die Patientinnen und Patienten in Deutschland wohnen, auf die ePA, zum Beispiel auf die Medikationsliste und 2026 auch auf den eMedikationsplan zugreifen.

Datenschutz beschäftigt die Schweden deutlich weniger als die Deutschen, wenn es darum geht, Kostenersparnisse und eine Verbesserung der Behandlungsqualität zu erreichen.

Aus Sicht der Schweden profitieren alle: Diejenigen, die Patienten versorgen - und die Patienten selbst. In Schweden findet man es auch großartig, dass die Patienten informiert zur Behandlung erscheinen, weil das die Effizienz in der Versorgung verbessert. Um die Effizienz dreht sich im Gesundheitswesen alles, da der Fachkräftemangel auch in Schweden Realität ist.

Können wir uns von der Effizienz des schwedischen Gesundheitssystems eine Scheibe abschneiden? Mit Sicherheit: Schweden ist mit großer Entschlossenheit zu einem globalen Innovationsführer geworden. Darauf sind die Schweden sehr stolz.

Wenn die Kosten aus dem Ruder laufen, muss Versorgung auch bei uns in Deutschland neu gedacht werden. Wir müssen die ambulante Versorgung stärken – und wo es nötig ist, durch digitale Angebote und effiziente Instrumente zur Patientensteuerung ergänzen. Hier können wir von Schweden lernen.

CAROLINE ROOS
ist stellvertretende Vorstandsvorsitzende der KV Hamburg