11/2025 11/2025

Das langsame Ende der „Großen Hafenrundfahrt“

Aus dem Netzwerk Evidenzbasierte Medizin

Ein kritischer Blick auf die digitale rektale Untersuchung aus Anlass der Aktualisierung der S3-Leitlinie Prostatakarzinom

Von Prof. Dr. med. Thomas Kötter im Auftrag des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin e. V. (www.ebm-netzwerk.de)

Die digitale rektale Untersuchung (DRU), scherzhaft „Große Hafenrundfahrt“ genannt [1], bezeichnet das Abtasten des Enddarms incl. umgebendem Gewebe und der Prostata mit dem Zeigefinger über den Anus.
Sie dient als Bestandteil der körperlichen Untersuchung unterschiedlichen Zwecken: So kann sie Hinweise für gastroenterologische Erkrankungen wie gastrointestinale Blutungen, Tumore, Entzündungen und Hämorrhoiden erbringen. Mit einer kombiniert vaginalen und rektalen digitalen Untersuchung können bestimmte Erkrankungen der inneren weiblichen Geschlechtsorgane ertastet werden.
In Bezug auf die Prostata wird die DRU u.a. zur Größenbestimmung und bei Verdacht auf Prostatitis eingesetzt. Am häufigsten dürfte die DRU jedoch zur Früherkennung des Prostatakarzinoms, meist als Bestandteil der Krebsfrüherkennung für Männer ab 45 Jahren nach der Krebsfrüherkennungsrichtlinie (KFE-RL) des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), durchgeführt werden [2].

Die Krebsfrüherkennungsuntersuchung für Männer ab 45 Jahren
Die Krebsfrüherkennungsuntersuchung für Männer ab 45 Jahren nach der KFE-RL wurde in den 1970er Jahren eingeführt und ist seitdem Bestandteil des Leistungskataloges der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) [3]. Sie beinhaltet neben dem Abtasten der Prostata vom After aus an klinischen Untersuchungen eine Inspektion des äußeren Genitales und ein Abtasten der regionären Lymphknoten. Außerdem soll eine gezielte Anamnese und eine Beratung auf der Basis der erhobenen Befunde durchgeführt werden [2]. Ziel-Krebsentitäten sind folglich, obgleich dies in der KFE-RL nicht explizit benannt wird, das Prostatakarzinom, das Peniskarzinom und das Skrotalkarzinom. Ein Nutzen einer Früherkennung ist weder für das Peniskarzinom noch für das Skrotalkarzinom nachgewiesen [4].

Evidenz zur DRU
Für die DRU zur Früherkennung des Prostatakarzinoms gibt es nicht nur keinen Nutzenbeleg, sondern seit vielen Jahren Hinweise aus klinischen Studien, dass sie für diesen Zweck keine diagnostische Aussagekraft besitzt.
Eine systematische Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2018 fasst sieben Studien unterschiedlicher Größe und Methodik aus den Jahren 1990 bis 2012 zusammen. Als gepoolten positiven prädiktiven Wert (PPW), also der Wahrscheinlichkeit, im Falle einer auffälligen DRU auch ein Prostatakarzinom zu finden, errechnen die Autor:innen 41% (95%-Konfidenzintervall 31-52%). Damit unterscheidet sich die diagnostische Aussagekraft der Untersuchung zum Entdecken eines Prostatakarzinoms nicht signifikant von einem Münzwurf.
Als gepoolter negativer prädiktiver Wert (NPW), also der Wahrscheinlichkeit, im Falle einer unauffälligen DRU tatsächlich kein Prostatakarzinom zu finden, errechnen die Autoren einen Wert von 64% (95%-Konfidenzintervall 58-70%). Auch zum ausreichend sicheren Ausschluss eines Prostatakarzinoms eignet sich die DRU demnach nicht.
In einer neueren, in Deutschland durchgeführten prospektiven Beobachtungsstudie fanden die Autor:innen für eine jüngere Altersgruppe (Männer im Alter von 45 Jahren) einen noch deutlich niedrigeren PPW von 5,2% (95%-Konfidenzintervall 1,1-14,6%), dafür einen höheren NPW von 80% (Konfidenzintervall nicht angegeben) [5].
Der Unterschied in Bezug auf den PPW im Vergleich zu der systematischen Übersichtsarbeit ist insofern plausibel, als dass die prädiktiven Werte unter anderem von der Vortestwahrscheinlichkeit abhängen. Diese steigt im Falle des Prostatakarzinoms mit dem Lebensalter. Bei älteren Männern mit einer höheren Vortestwahrscheinlichkeit ist der PPW also tendenziell besser, die DRU führt zu weniger falsch-positiven Befunden. Dennoch sind sich die Autor:innen beider Arbeiten einig, dass die DRU keine geeignete Früherkennungsuntersuchung für das Prostatakarzinom darstellt [5,6].

Versorgungssituation in Deutschland
Trotz dieser Studienlage ist die Krebsfrüherkennung für Männer ab 45 Jahren nach wie vor für jeden gesetzlich versicherten Mann ab 45 Jahren jährlich zu Lasten der GKV abrechenbar. Im Jahr 2024 wurde die Untersuchung 4,4 Millionen Mal abgerechnet [7].
Bei einer (extrabudgetären) Vergütung von 17,85 Euro ergeben sich für 2024 Kosten von knapp 80 Millionen Euro zu Lasten der Solidargemeinschaft nur für die Früherkennungsuntersuchung selbst. Dazu kommen Folgekosten für die Abklärung auffälliger Befunde, die sich überwiegend als falscher Alarm herausstellen [5].
Auch ein individueller Schaden für die teilnehmenden Männer ist hochwahrscheinlich: Der Zeitaufwand, die unangenehme Untersuchung, die psychischen Folgen und die unerwünschten Wirkungen der Abklärung auffälliger Tastbefunde (meist mittels Biopsie) belasten viele Männer. Durch falsch-negative Befunde wiegen sich Männer in falscher Sicherheit [5].
Die Tatsache, dass die KFE-RL nicht aufgrund der vorliegenden Evidenz angepasst wurde, könnte unter anderem darin begründet sein, dass die DRU zur Früherkennung des Prostatakarzinoms noch bis vor kurzer Zeit in Leitlinien empfohlen wurde.

Leitlinienempfehlungen zur DRU
In der in Deutschland maßgeblichen interdisziplinären S3-Leitlinie Prostatakarzinom wurde die Früherkennungs-DRU bis 2014 mit einem hohen Empfehlungsgrad („soll“) hinterlegt, bis 2021 mit einer abgeschwächten Empfehlung („sollte“) und bis 2025 mit einer offenen Empfehlung („kann“).
Mit der Publikation der aktuellen Fassung der Leitlinie im Juli 2025 wurde nun erstmals eine starke Negativempfehlung („soll nicht“) für die DRU als Früherkennungsuntersuchung ausgesprochen.
Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin publizierte erstmals 2013 die Empfehlung, keine DRU zur Früherkennung des Prostatakarzinoms durchzuführen [8].
Somit bestand bis Juli 2025 Dissens zwischen den Fachgesellschaften bezüglich der Empfehlung zur Früherkennungs-DRU. Mit der neuen Fassung der Leitlinie wurde in dieser Frage nun ein Konsens erzielt, ein Paradigmenwechsel in der Früherkennung des Prostatakarzinoms eingeleitet und – wie in einer früheren EbM-Kolumne gefordert – mehr Klarheit rund um das Thema Prostatakarzinom geschaffen [9,10].

Aktuelle Empfehlungen zur Früherkennung des Prostatakarzinoms
Nach der aktuellen Fassung der S3-Leitlinie sollen Männer ab dem Alter von 45 Jahren, die eine Prostatakarzinom-Früherkennung wünschen, ergebnisoffen über die Vor- und Nachteile beraten werden [11]. Männern, die nach dieser Beratung weiter eine Früherkennung wünschen, soll die Bestimmung des Prostata-spezifischen Antigens (PSA) angeboten werden. Entsprechend der Höhe des PSA-Wertes soll eine Risikozuordnung und eine risikoadaptierte Empfehlung zur weiteren Diagnostik erfolgen. Nur ein auch in einer Kontrolluntersuchung unter Berücksichtigung von Einflussfaktoren weiterhin erhöhter PSA-Wert ≥ 3ng/ml soll urologisch unter Anwendung eines Risikokalkulators abgeklärt werden.
Resultiert ein erhöhtes Risiko für ein Prostatakarzinom, soll die weitere Diagnostik mittels Magnetresonanztomographie (MRT) erfolgen. Mit diesem gestuften und risikoadaptierten Vorgehen soll die Vortest-Wahrscheinlichkeit vor dem jeweils nächsten Test so erhöht werden, dass falsch-positive Befunde mit ihren oben beschriebenen Folgen für das Individuum und die Gesellschaft möglichst reduziert werden. Es trägt den Schwächen der PSA-Bestimmung als Früherkennungstest Rechnung [12].
Nichtsdestotrotz wird auch der Nutzen einer solchen Früherkennung von einem Schaden durch Überdiagnostik, also dem Entdecken von Karzinomen, die sonst nie auffällig geworden wären, konterkariert werden.

Die Zukunft der DRU
Aktuell besteht ein Widerspruch zwischen der Leitlinienempfehlung zur DRU und der KFE-RL des G-BA. Dies dürfte das Ende der DRU als Früherkennungstest für das Prostatakarzinom verzögern: Erstens ist die Krebsfrüherkennungsuntersuchung für Männer ab 45 Jahren weiterhin extrabudgetär und zweitens die Bestimmung des PSA als Früherkennungstest weiterhin nicht zu Lasten der GKV abrechenbar. Dieser Missstand sollte schnellstmöglich durch eine Streichung der DRU aus der KFE-RL behoben werden. Ein Ende der „Großen Hafenrundfahrt“ zur Prostatakrebs-Früherkennung wäre ein wichtiger Beitrag zum Abbau von Über- und Fehlversorgung.

PROF. DR. MED. THOMAS KÖTTER, MPH
Professor für Lehre in der Allgemeinmedizin am Institut für Allgemeinmedizin, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck; hausärztlich tätig in der Hausärztlichen Praxis vor dem Mühlentor, Lübeck; Co-Sprecher des Fachbereichs EbM in Klinik und Praxis im EbM-Netzwerk
E-Mail: koetter@luebmed.de

Referenzen:

1. Jahn D. Die „Große Hafenrundfahrt“. Gemeinsamkeiten von maritimer Logistik und Urologie. Uro-News 2022;26:46–7.

2. Gemeinsamer Bundesausschuss. Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Früherkennung von Krebserkrankungen (Krebsfrüherkennungs-Richtlinie / KFE-RL). 2025; Verfügbar unter: https://www.g-ba.de/richtlinien/17/ (zuletzt überprüft am 18.09.2025)

3. Gemeinsamer Bundesausschuss. Krebsfrüherkennungs-Richtlinie | Historie. 2025; Verfügbar unter: https://www.g-ba.de/richtlinien/17/historie/ (zuletzt überprüft am 18.09.2025)

4. Kötter T. Krebsfrüherkennung bei Männern nach der Krebsfrüherkennungsrichtlinie. Allgemeinmedizin up2date 2023;4:291–9.

5. Krilaviciute A, Becker N, Lakes J, Radtke JP, Kuczyk M, Peters I, u. a. Digital Rectal Examination Is Not a Useful Screening Test for Prostate Cancer. Eur Urol Oncol 2023;6:566–73.

6. Naji L, Randhawa H, Sohani Z, Dennis B, Lautenbach D, Kavanagh O, u. a. Digital Rectal Examination for Prostate Cancer Screening in Primary Care: A Systematic Review and Meta-Analysis. Ann Fam Med 2018;16:149–54.

7. Gerlof H. EbM versus EBM: Der medizinische Fortschritt ist schneller als die Kassenmedizin. 2025; Verfügbar unter: https://www.aerztezeitung.de/Wirtschaft/EbM-versus-EBM-Der-medizinische-Fortschritt-ist-schneller-als-die-Kassenmedizin-459386.html (zuletzt überprüft am 18.09.2025)

8. Kötter T. DEGAM-Praxisempfehlung „Hausärztliche Beratung zu PSA-Screening“. Z Allg Med 2016;92:496–9.

9. Hinneburg I. Streit um den PSA-Test – und Durcheinander rund um das Thema Früherkennung. KVH journal 2025;4:21–5.

10. Albers P, Franiel T, Kötter T, Kristiansen G, Herrmann K, Wiegel T. The Early Detection, Diagnostic Evaluation, and Local Treatment of Prostate Cancer: A Paradigm Shift. Dtsch Arztebl Int 2025;122:420–6.

11. Leitlinienprogramm Onkologie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF), der Deutschen Krebsgesellschaft e. V. (DKG) und der Stiftung Deutsche Krebshilfe (DKH). S3-Leitlinie Prostatakarzinom, Langversion 8.0, 2025, AWMF-Registernummer: 043-022OL. 2025; Verfügbar unter: https://www.leitlinienprogramm-onkologie.de/leitlinien/prostatakarzinom/ (zuletzt überprüft am 18.09.2025)

12. Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. IQWiG-Berichte - Nr. 905: Prostatakrebsscreening mittels PSA-Test. Abschlussbericht. 2020; Verfügbar unter: https://www.iqwig.de/download/s19-01_psa-screening_abschlussbericht_v1-1.pdf (zuletzt überprüft am 18.09.2025)