Wir brauchen eine neue Sicherstellung
Von Dr. med. Stephan Schoof
Dass die ärztliche Versorgung in den sozial schwächeren Stadtteilen einbricht, hat auch systemische Gründe. Wir müssen dringend gegensteuern – und einige gesundheitspolitische Dogmen über Bord werfen.
In Teilen des Hamburger Ostens erodiert die kinderärztliche Versorgung: Medizinische Versorgungszentren und Praxen schließen oder ziehen fort, Arztsitze können nicht besetzt werden.
Das ist kein Zufall, sondern folgt einer strukturellen Logik und finanziellen Fehlanreizen. Will man in sozioökonomisch schlechter gestellten Gegenden künftig überhaupt noch Medizin anbieten, muss man jetzt entschieden gegensteuern.
Das bedeutet allerdings: Vertragsärztliche Selbstverwaltung, KV, Krankenkassen und Politik müssen sich von alten Glaubenssätzen verabschieden und ein paar heilige Kühe schlachten.
Schnelle Abhilfe wird es nicht geben: Ich vermute, dass es zehn bis 15 Jahre dauert, bis Maßnahmen, die jetzt zur Sicherstellung der Versorgung ergriffen werden, eine spürbare Wirkung zeigen.
Ich bin Inhaber einer großen kinderärztlichen Praxis mit angestellten Ärzten in Hamburg-Horn, und ich kann aus eigener Erfahrung sagen, was Versorgungseinheiten wie unsere unter Druck setzt.
Es gibt vor allem drei Umstände, die uns gegenüber Praxen in wohlhabenderen Gegenden benachteiligen:
Höhere Morbidität
Die von uns versorgten Patienten leben oftmals in einem gesundheitlich belastenden Umfeld. Der Zusammenhang zwischen niedrigem sozioökonomischem Status und hoher Morbidität ist gut belegt und zeigt sich auch in meiner Praxis: Viele der von uns behandelten Kinder sind chronisch krank, psychisch belastet oder zeigen Sprach-, Verhaltens- und Koordinations-Auffälligkeiten. Es gibt in Billstedt und Horn nicht nur geringere Versorgungskapazitäten im Verhältnis zur Patientenzahl – die Patienten weisen zudem eine höhere Morbidität auf. Gerade in der Corona-Pandemie hat sich dieses besonders gezeigt.
Mehr Kommunikationsaufwand
Die Verständigung mit den Eltern und Kindern ist aufwändiger und zeitintensiver als in Praxen mit einer Klientel, die dem Milieu der Ärztinnen und Ärzte ähnlicher ist. Zudem haben wir oftmals mit sehr ausgeprägten Sprach- und Verständnisbarrieren zu kämpfen, teilweise brauchen wir Dolmetscher. Für die Steuerung der Patienten in weiterbehandelnde Einrichtungen sind zeitintensive Erläuterungen nötig, und wir müssen die Weiterbehandlung eng begleiten. Das ist zusätzlicher Kommunikationsaufwand, den wir nicht bezahlt bekommen.
Weniger Privatpatienten
Der Honorar-Anteil für die Versorgung unserer privatversicherten Patienten liegt im niedrigen einstelligen Prozentbereich. Im Durchschnitt des gesamten Stadtgebiets liegt dieser Anteil meines Wissens etwa bei 25 Prozent. Wir können die Versorgung unserer GKV-Patienten also nicht in einem ausreichenden Umfang durch Einnahmen aus dem Privatbereich querfinanzieren.
Diese systematischen Schwierigkeiten nehmen viele Praxisinhaber in ärmeren Stadtteilen bisher in Kauf. Ich arbeite sehr gern in Horn. Meine Patientinnen und Patienten und deren Eltern sind ausgesprochen nett.
Es gibt aber leider auch Eltern, die sich sehr aggressiv gegenüber meinen Mitarbeiterinnen und mir verhalten. Doch das ist Gott sei Dank nur ein sehr, sehr kleiner Anteil.
Tatsächlich ist unser Arbeitsalltag geprägt von Eltern und Kindern, die sehr dankbar dafür sind, dass wir sie behandeln. Es ist eine sehr sinnvolle Arbeit. Wir arbeiten, wo wir wirklich gebraucht werden. Daraus ziehen viele Kolleginnen und Kollegen, die in solchen Nachbarschaften arbeiten, professionelle Befriedigung und Erfüllung.
Allerdings gibt es eine Entwicklung, die das bisher vorherrschende Modell der Selbstausbeutung in Eigentümer-geführten Praxen gefährdet. Wir haben eine neue Generation von Ärztinnen und Ärzten, die (zu Recht) nicht mehr bereit sind, 60 bis 70 Stunden pro Woche zu arbeiten.
Zudem wird sich nach den demographischen Entwicklungen die Zahl an Ärztinnen und Ärzten in der medizinischen Versorgung verknappen (die Anzahl der Ärztinnen und Ärzte im Ruhestand stieg um 3,8 Prozent im Vergleich von 2022 zu 2021).
Die bloße Anzahl von Ärztinnen und Ärzten in der Ärztestatistik sagt wenig über die tatsächlich zur Verfügung stehende ärztliche Arbeitszeit aus, und dem mengenmäßigen geringfügigen Wachstum (+1,2 Prozent) werden langfristig sinkende Wochenarbeitsstunden gegenübergestellt werden müssen.
Statt in die Selbstständigkeit zu gehen, wollen viele Ärztinnen und Ärzte angestellt arbeiten. Doch auch die Angestellten stehen oft nicht mit ihrer vollen Arbeitsleistung zur Verfügung, weil Familie und Kinder einen größeren Stellenwert haben als früher. Es liegt auf der Hand, dass die von zwei halbtags angestellten Ärztinnen oder Ärzten erbrachte Arbeitsleistung geringer ist als dies bei einem selbstständigen Praxisinhaber der Fall ist, der mit hohem Patientendurchsatz bis in die Abendstunden arbeitet und abends nach der Sprechstunde und am Wochenende noch den Papierkram erledigt.
Hinzu kommt: Wir haben es heute mit einem reinen Arbeitnehmermarkt für Mediziner zu tun. Die jungen Ärztinnen und Ärzte können sich aussuchen, wo und unter welchen Bedingungen sie arbeiten wollen.
Angestellte Ärztinnen und Ärzten bekommen im ambulanten Bereich ein Gehalt, das dem in kommunalen Krankenhäusern entspricht. Das ist ein Batzen Geld, den eine Praxis erst mal erwirtschaften muss.
Ohne nennenswerten Privatpatientenanteil ist das extrem schwierig. Ärztinnen und Ärzte zu attraktiven Bedingungen anzustellen, können sich eigentlich nur Praxen und MVZ in wohlhabenderen Stadtteilen leisten.
Deshalb wird es meines Erachtens auch nicht funktionieren, die Löcher, die derzeit im Netz selbstständiger, Inhaber-geführter Praxen in Stadtteilen mit niedrigem sozioökonomischem Status entstehen, durch kommunale MVZ oder KV-Eigeneinrichtungen, Lokale Gesundheitszentren, Krankenhaus-MVZ oder investorengeführte MVZ zu stopfen. Diese konkurrieren dann gegenüber den Inhaber-geführten Praxen um die knappen Personalressourcen sowohl im ärztlichen als auch nicht-ärztlichen Bereich und setzen hiermit die Inhaber-geführten Praxen noch mehr unter Druck.
Mit angestellten Ärztinnen und Ärzten in sozioökonomisch schlechter gestellten Gegenden zu arbeiten, lohnt sich unter den derzeitigen Gegebenheiten aus wirtschaftlichen Gründen einfach nicht. Nicht für Praxisinhaber, nicht für Kommunen, nicht für die KV – und erst Recht nicht für profitorientierte Unternehmen.
Wir befinden uns auf einer schiefen Ebene: Strukturelle Rahmenbedingungen, finanzielle Fehlanreize und gesellschaftliche Entwicklungen begünstigen einen Abbau von pädiatrischen und allgemeinmedizinischen Versorgungskapazitäten in den sozial schwächeren Stadtteilen.
Was also ist zu tun, um diese Entwicklung zu stoppen? Hier ein paar Lösungsvorschläge:
Die Leistung von Vertragsärztinnen und Vertragsärzten, die in schlechter versorgten Vierteln arbeiten, muss deutlich höher vergütet werden. Das ist vor allem eine Frage der Leistungsgerechtigkeit und der Fairness: Zusatzleistungen, die aufgrund der erhöhten Morbidität und eines erhöhten Kommunikationsaufwandes u.a. bei zum Teil erheblichen Sprach- und Verständnisbarrieren seitens der Eltern erbracht werden, müssen angemessen bezahlt werden. Und es ist ein Teilaspekt des Sicherstellungsauftrags: Wer dafür sorgen will, dass Ärztinnen und Ärzte dorthin gehen, wo sie am meisten gebraucht werden, muss wirkungsvolle finanzielle Anreize schaffen. Das Fehlen privatärztlicher Einnahmen muss kompensiert werden, damit wir ärztlichen Angestellten und MFA ein Gehalt anbieten können, das uns im Wettbewerb um gutes medizinisches Personal wieder eine faire Chance eröffnet.
Auch eine zweite Maßnahme wäre schnell umsetzbar: Die KV sollte prüfen, ob die grundversorgenden Praxen ihrem Versorgungsauftrag nachkommen. Wenn sich herausstellt, dass auf einem Arztsitz über mehrere Quartale hinweg nur die Hälfte der Durchschnittsleistung für GKV-Patienten erbracht wird, sollte das Konsequenzen haben. Wer nur halbe Leistung erbringt, kann auch auf einem halben Sitz arbeiten. Die andere Hälfte sollte von der KV eingezogen und einer Ärztin oder einem Arzt zur Verfügung gestellt werden, die oder der einen Versorgungsauftrag in unterversorgten Gegenden erfüllen will.
Die Bedarfsplanung muss kleinräumiger werden, und der Zulassungsausschuss muss sich dem Sog in die wohlhabenden Stadtteile entgegenstellen und rigoros im Sinne der Sicherstellung entscheiden: „Nein, du kannst Deine Praxis jetzt nicht mal eben vier Kilometer in Richtung Innenstadt verlegen. Das gefährdet die Versorgung.“ Ich bin manchmal nicht sicher, inwieweit den Mitarbeitern der Kassenärztlichen Vereinigung und den Mitgliedern des Zulassungsausschusses überhaupt bewusst ist, dass sie eine Verantwortung für die Sicherstellung haben.
Die bisher genannten Maßnahmen werden nicht ausreichen, deshalb sollte man sich eine längerfristige Strategie überlegen. Die wichtigste Forderung ist: Die Zahl der Medizin-Studienplätze muss erhöht werden. Es führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass künftig sehr viel mehr Köpfe benötigt werden, um die gleiche Versorgungskapazität vorzuhalten. In sozial schwächeren Gegenden wird der Ärztemangel leider zuerst spürbar.
Der Numerus Clausus muss zumindest teilweise aufgehoben werden. Personen mit Eins-Null-Abitur sind sicherlich bestens dafür geeignet, erfolgreich und schnell ein Medizinstudium zu absolvieren. Doch das bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie sich für die Versorgung echter Patientinnen und Patienten in Billstedt oder Horn eignen bzw. interessieren. Jungen Menschen, die in Auswahlgesprächen eine Neigung für dieses Arbeitsfeld zeigen, sollte man Stipendien anbieten mit der strengen Auflage, fünf oder zehn Jahre nach Absolvierung ihrer Facharztprüfung in einem unterversorgten Gebiet zu arbeiten.
Um dem medizinischen Nachwuchs die Schwellenängste zu nehmen und ihn an eine gute sozialpädiatrische Medizin heranzuführen, müssen wir dafür sorgen, dass mehr Famulaturen und Facharztweiterbildungen in ärmeren Vierteln absolviert werden. Ich stelle durchaus fest, dass es möglich ist, (angehende) Ärztinnen und Ärzte für die Arbeit in meiner Praxis zu begeistern. Es ist eine schöne Medizin, die wir machen – und das lässt sich vermitteln. Diese Lehrtätigkeit und der damit verbundene weitere zusätzliche Zeitaufwand müssen allerdings sowohl für Facharztweiterbildung als auch Famulaturen komplett ausfinanziert werden.
Der nächste Schritt wäre, junge Ärztinnen und Ärzte beim Schritt in die Niederlassung zu unterstützen. Hier ist zunächst die KV gefragt. Sie muss aktiv auf niederlassungswillige Ärztinnen und Ärzte zugehen, um sie für die Arbeit in einem unterversorgten Gebiet zu gewinnen. Wer sich dazu verpflichtet, dort zehn Jahre lang zu praktizieren, erhält einen zinslosen Kredit. Auch die Stadt Hamburg kann einen Beitrag leisten, indem sie günstige Praxisräume zur Verfügung stellt. Das alles muss ein strenges Geben und Nehmen sein. Nicht passieren darf, dass Ärztinnen oder Ärzte die Niederlassungs-Förderungen einstreichen und dann sagen: „Ach nöö, ich gehe jetzt doch lieber nach Winterhude.“
Vielleicht braucht es auch ein bisschen mehr Wertschätzung für die Arbeit jener Ärztinnen und Ärzte, die in sozioökonomisch schlechter gestellten Gegenden arbeiten.
Ich möchte nie mehr von Kollegen hören: „Ach komm schon, Schoof, Du hast Dir doch selbst ausgesucht, in Horn zu arbeiten. Das hättest Du doch nicht machen müssen.“
Ich möchte auch nie mehr hören: „Du hast einen Aufnahmestopp für Deine Praxis verhängt? Wer soll denn all die Kinder versorgen? Das ist unethisch!“
Und ich möchte nicht mehr hören: „Warum sollten Ärzte in ärmeren Stadtteilen für ihren Zusatzaufwand entschädigt werden? Das gab’s früher auch nicht.“ Die Neunzigerjahre sind vorbei – und es hat sich viel verändert.
Dass die Sicherstellung in den sozioökonomisch schlechter gestellten Stadtteilen immer gründlicher fehlschlägt, sollte vertragsärztliche Selbstverwaltung, KV, Kassen und auch die Politik alarmieren.
Ich prophezeie: Wenn jetzt nicht umgehend einschneidende Maßnahmen ergriffen werden, wird es in den sozial schwächeren Gegenden innerhalb von zehn oder fünfzehn Jahren keine ambulante kinderärztliche Versorgung mehr geben.
DR. MED. STEPHAN SCHOOF,
Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Schwerpunkt "Kinderkardiologie", Zusatzbezeichnung "Spezielle päd. Intensivmedizin", "Spezielle Kardiologie für Erwachsene mit angeborenem Herzfehler" und "Naturheilverfahren", ist Inhaber einer kinderärztlichen Praxis mit drei angestellten Ärztinnen und Ärzten in Hamburg-Horn.