„Wetter war doch gut“
Kolumne
von Dr. Christine Löber, HNO-Ärztin in Hamburg-Farmsen
Letztes Mal habe ich mich darüber aufgeregt, dass immer zu viele Patient:innen kommen, diesmal rege ich mich auf, dass zu viele Patient:innen immer überhaupt nicht kommen.
Ich könnte mit diesen widersinnigen Äußerungen eigentlich direkt Gesundheitspolitikerin werden. Aber noch bin ich „nur“ (Lauter-bach'sche Betonung) eine ganz normale Kassenärztin mit allen Problemen, die Kassenärzt:innen so haben.
Das sind bekanntermaßen nicht wenige, deswegen fange ich jetzt nicht an mit zum Beispiel E-Rezepten und anderen E-Sachen, Konnektortauschgeschäften, Honorarkürzungen, Hausarztvermittlungs-Überweisungsschein-Battles, die natürlich immer alle gemeinsam in die Praxis kommen. Damit will ich heute niemanden belasten, Sie sind sowieso schon mehr als ausreichend belastet. Allerdings muss man auch sagen, dass ein nervenzehrendes Rumgammeln in die Praxen Einzug gehalten hat.
Und deshalb geht es heute einfach mal um die, die gar nicht kommen.
In der Bevölkerung breitet sich bereits seit längerer Zeit eine sprunghaft ansteigende Termindemenz aus. Selbst Menschen, die nach hochdramatischen Krankheitsdemonstrationen am Vortag noch einen eingeschobenen Notfall-Termin im ächzenden Praxiskalender bekommen haben, tauchen plötzlich wie durch Zauberhand einfach nicht auf.
Die Uhr tickt. Slot um Slot kriegt einen roten Smiley mit heruntergezogenen Mundwinkeln. Wie in einer schiefgelaufenen Liebesaffäre bleibt ein ratloses Praxisteam in der Stille der Praxis zurück. Man kann einen weggeworfenen Terminzettel zu Boden fallen hören.
Hierzu befragte Kolleg:innen schätzen den Anteil der verlorenen Termine durch nichtabsagende Fernbleiber mit 10 bis 20 Prozent ein.
Ich bewege mich viel in Social Media. Das hat den Vorteil und Nachteil, dass man ständig irgendwelche Meinungen zu irgendwelchen Themen hört. Die Meinungen zu dieser Thematik aus der Online-Gesellschaft zeichnen ein erschütterndes Bild der Hilflosigkeit:
Das mit dem Terminvergessen käme daher, dass der Arzt einen ja nicht an den Termin erinnern würde.
Man könne ja nicht erwarten, dass man einen Termin, den man selbst vereinbart hat, selbstständig irgendwo notieren könne. Ich persönlich erwarte demnächst Fortbildungsangebote zum Thema „Selbstverschuldete Unmündigkeit: Sektempfang in der Praxis um 21 Uhr kann das Gesundheitswesen retten!“
Wichtig in dieser Diskussion sind auch wahllose Zusammenhangsgebilde zur Begründung des unentschuldigten Nichterscheinens: Man müsse ja beim Arzt immer so lange warten, da müssten endlich mal Entschädigungen für die Patient:innen eingeführt werden statt dieser Schimpfereien wegen Terminvergessen! Weiterhin müsse man bedenken, dass Termine ja gar nicht abgesagt werden können, weil man in keiner Praxis niemals nie irgendwen erreichen könne. Wenn man vierzig Mal um 6.20 Uhr anruft!
Die Arztpraxis, auch genannt „von der Außenwelt gänzlich abgeschnittene Anti-Service-Hölle“.
Ich habe neulich selbst mal wieder jemanden befragt, warum er zum letzten Termin nicht erschienen ist, Antwort: „Hä wieso, das Wetter war doch gut?“
Das Problem ist zu groß, um es nur polemisch zu betrachten. Wie in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen herrscht auch bezüglich der Gesundheitsversorgung bei vielen Menschen eine egozentrierte Egalhaltung. Um den oft empört vorgebrachten Gerechtigkeitsgedanken geht es hier natürlich nicht. Es geht nie um die anderen, es geht immer nur um die eigene Pole Position.
Alle wollen sofort einen Termin, alle wollen Magnetröntgen, alles darf nichts kosten und am Wichtigsten ist, dass man sich selbst am nächsten und am Tresen die/der Erste ist. Medizin ist das Wichtigste und gleichzeitig das Wertloseste der Welt.
Eine Beschäftigung mit der Bedeutung der großen Zahl an verfallenen Terminen findet übrigens auf keiner Ebene statt. Müssen die Ärzt:innen eben sehen, dass sie noch mehr Service (!) anbieten, damit die Patient:innen denn bitte bitte auch wirklich in die Praxis kommen. Erinnerungsfunktion über Erinnerungsfunktion, menschlich oder digital, Ausfallhonorar-Konzepte, Überbuchungen im Terminkalender, um Menschen hinterherzulaufen, die unbedingt zum Arzt wollen und deswegen eine Klage vorm Menschengerichtshof anstreben, dann aber lieber was Interessanteres vorhaben.
Ärzt:innen sind ja viel besser für alles verantwortlich zu machen als die Wählergruppe.
Es muss allen klar sein, dass die nicht abgesagten Termine ein echtes Versorgungsproblem darstellen, da diese Termine – anders als die zeitgerecht abgesagten – einfach verfallen.
Weiterhin entsteht in den Praxen ein relevantes wirtschaftliches Missverhältnis, das die schlechte Honorierungssituation noch verschärft.
Die Rückgabe der Kassenzulassung wird häufiger zu einer realistischen Überlegung.
Wie gehen wir jetzt damit um? Es gibt bisher keine ordentlichen Erhebungen darüber, wie hoch die Ausfallquote durch nicht abgesagte Termine in den Praxen überhaupt ist. Dies ist meines Erachtens lange überfällig. Auch damit dies Thema eine breitere Wahrnehmung erfährt.
Die Mehrheit der Kolleg:innen, mit denen ich gesprochen habe, aber durchaus auch fachfremde Menschen, würden ein Ausfallhonorar befürworten. Andere Praxen haben ihre Erinnerungsfunktionen, noch wieder andere lehnen diese Maßnahmen komplett ab. Auch das ist sehr verständlich. Sicherlich gibt es hier auch deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Fachgruppen und der damit einhergehenden Terminvergabe. Wie immer: Jeder kocht sein Süppchen und reguliert schon mal das, was politisch vielleicht noch nicht einmal bekannt ist. Oder eben einfach ignoriert wird, da geht es ja wieder um Wähler:innen.
Das Termin-Thema ist der zentrale Punkt im ambulanten Versorgungssystem, wenn man sich die Schimpfbrennpunkte im Gesundheitswesen ansieht.
Wir jedoch sind der zentrale Punkt im ambulanten Versorgungssystem, wenn es darum geht, dass Menschen überhaupt versorgt werden können. Wir können aber nur Menschen versorgen, die auch versorgt werden wollen und auch bereit sind, dafür einen selbst vereinbarten Termin wahrzunehmen oder abzusagen.
DR. CHRISTINE LÖBER ist HNO-Ärztin und Buchautorin.
Aktuell im Buchhandel: „Immer der Nase nach“ (zusammen mit Hanna Grabbe), Mosaik Verlag / Hamburg
In dieser Rubrik drucken wir abwechselnd Texte von Dr. Christine Löber, Dr. Matthias Soyka und Dr. Bernd Hontschik.