9/2022 9/2022

"Ein Riesen-Markt"

VON MARTIN NIGGESCHMIDT

Start-ups und Telemedizin-Unternehmen kaufen Arztsitze auf. Revolutionieren neuartige MVZ-Ketten die ambulante Versorgung?

Als der Versandhandels-Riese Amazon im Juli 2022 ankündigte, die US-Hausarzt-Kette One Medical zu übernehmen, fragte die Deutsche Apotheker Zeitung: "Wann kommt Europa dran?"

Amazon will eigenen Angaben zufolge den Gesundheitsbereich "neu erfinden" – und das klingt bei einigen kleineren Start-ups und Digital-Health-Unternehmen, die derzeit in die ambulante Versorgung Deutschlands drängen, ganz ähnlich. Auch Doktor.de, Patient21 und Avi Medical beteuern, ein "besseres Gesundheitswesen" schaffen zu wollen.

Was haben diese Unternehmen in Deutschland vor? Wollen sie MVZ-Ketten aufbauen und gewinnbringend weiterverkaufen? Das solidarisch finanzierte GKV-System ausplündern? Oder tatsächlich, ganz uneigennützig, die Probleme des Gesundheitswesens durch digitale Effizienz lösen?

Erste Änderungen der Eigentümerstrukturen sind bereits wahrnehmbar. Ende 2021 hat der schwedische Gesundheitsdienstleister Doktorse Nordic AB die Praxisklinik Bergedorf übernommen. Susanne Kreimer, Ärztin und Geschäftsführerin des deutschen Tochterunternehmens Doktor.de, erläutert den Hintergrund dieser Transaktion: „Wir haben die Praxisklinik gekauft, um in Deutschland die Gründereigenschaft für den Aufbau moderner ambulanter Primärversorgungseinrichtungen zu erhalten, welche durch Nutzung von Digitalisierung sowohl für Ärzte als auch Patienten attraktiv sind.“

Zunächst konzentriere man sich auf Hausarztmedizin, werde das Engagement aber wohl auch auf andere Bereiche ausdehnen. Steht Hamburg dabei im Fokus? „Zu den Gebieten, in denen wir 2022 nach Arztsitzen suchen, gehören auch Berlin und Hamburg“, bestätigt Kreimer.

Die Doktor.se-Unternehmensgruppe wurde 2016 in Schweden gegründet. Seit März 2022 ist die Tochtergesellschaft Doktor.de als Anbieter von Telemedizin in Deutschland tätig. „Profitiere jetzt von allen Vorteilen innovativer Telemedizin und spare dir langes Sitzen im Wartezimmer!“, wirbt Doktor.de auf der Website. Der Kontakt zur Ärztin oder zum Arzt erfolgt über eine App, die Sprechstunde findet als Fernbehandlung per Video statt.

Die digitale Medizin ist der Markenkern, doch das Unternehmen will auch in die reale Welt vorstoßen. „Wir glauben nicht an die ausschließlich digitale Medizin“, sagt Susanne Kreimer. „Es gibt viele Krankheitsbilder, die nicht abschließend telemedizinisch behandelt werden können.“ Deshalb will das Unternehmen künftig auch Medizin in Praxen mit persönlich anwesenden Ärztinnen und Ärzten anbieten.

Das Konzept scheint Investoren zu überzeugen: Im Mai 2021 sammelte das Unternehmen 50 Millionen Euro ein, um international expandieren zu können. Einer der größten Shareholder von Doktor.se ist Oriola, Mutterkonzern der schwedischen Apothekenkette Kronans Apotek. Im Juli 2021 meldete ein Branchendienst, der chinesische Tech-Gigant Tencent habe 29,5 Millionen Euro in Doktor.se investiert. Insgesamt habe das Unternehmen bereits über 160 Millionen Euro von Investoren erhalten.

Während Doktor.de in Deutschland noch am Anfang seiner Expansionsbemühungen steht, ist die Patient21 GmbH schon einen Schritt weiter: Das Unternehmen hat die Klinik Sankt Elisabeth in Heidelberg gekauft und übernimmt derzeit in großem Stil Praxen in ganz Deutschland. Hinter Patient21 steht Christopher Muhr, der zuvor das Online-Gebrauchtwagen-Portal Auto1 geleitet hat. Er gründete Patient21 im Jahr 2019.

Der Nachrichtenagentur Reuters zufolge kamen bei Finanzierungsrunden 142 Millionen Dollar für Patient21 zusammen. Geldgeber waren laut Reuters internationale Investment-Unternehmen wie Piton Capital, Target Global und Pico Venture Partners. „Es ist wichtig, den gesamten Prozess zu kontrollieren“, sagte Target-Global-Gründer Shmuel Chafets der Nachrichtenagentur Reuters über Patient21. „Es macht Sinn, die Kliniken zu betreiben, die Ärzte anzustellen und die Software zu betreiben.“

„Unser Gesundheitssystem ist leider unterfinanziert“, sagt Patient21-Gründer Christopher Muhr. „Wer internationale und nationale Investoren für unser Gesundheitssystem gewinnen kann, dem sollte man danken statt sie zu skandalisieren. Nicht die Trägerschaft sondern die medizinische Qualität und die Bewältigung der Kosten für das Gesundheitssystem sollten im Vordergrund stehen.“ Patient21 sei ein immer noch mehrheitlich unternehmergeführtes Unternehmen, so Muhr. „Wir haben unseren Sitz in Berlin und versteuern auch alle anfallenden Gewinne in Deutschland als Teil der Solidargemeinschaft.“

Zu Patient21 gehören derzeit in Deutschland 28 Zahnarztpraxen, aber auch vier Gynäkologie-Praxen und zwei Hausarzt-Praxen. In Hamburg betreibt das Unternehmen noch keine humanmedizinischen Praxen.

Auf der Website https://patient21.com gibt es einen eigenen Bereich, der verkaufswillige Praxisinhaber anspricht. Von der Praxisbesichtigung über Angebot und Kaufvertrag bis hin zur Praxisübergabe wird der gesamte Ablauf erläutert. Nach der Übergabe soll die Praxis als Bestandteil der Marke „Patient21“ wahrgenommen werden: „Wir haben uns ganz bewusst dazu entschieden, mit dem Namen der Praxis keinen Bezug zu den jeweiligen Behandlern herzustellen. Daher wird die Praxis zukünftig einen ‚neutralen‘ Namen mit regionalem Bezug haben bzw. als Patient21 Praxis gebrandet.“

In Hamburg mit humanmedizinischen MVZ bereits angekommen ist das Start-up Avi Medical. Wer „Hausarzt Hamburg“ googelt, bekommt ganz oben auf der Liste eine Annonce von Avi Medical angezeigt: „Neupatienten willkommen.“ Avi Medical wurde im Jahr 2020 unter anderem von Vlad Lata und Julian Kley in München gegründet. Lata hat einen IT-Hintergrund und zuvor eine KI-Software für den Bahnverkehr entwickelt. Kley ist Arzt und hat als Berater bei der Boston Consulting Group gearbeitet.

Avi Medical betreibt derzeit sieben Hausarzt-MVZ in München, vier in Berlin und vier in Hamburg (Altona, Barmbek, Winterhude, Eppendorf). Trägerklinik für die MVZ ist die Gefäßklinik Dr. Berg/Blausteinklinik in der Nähe von Ulm. Die Zahl der Hamburger Standorte soll im Laufe des Jahres noch weiter anwachsen. „Avi Medical übernimmt ausschließlich Praxen von Ärzten, die ihre Tätigkeit – zum Beispiel aus Altersgründen – aufgeben und oft schon vergeblich längere Zeit nach einer Nachfolge suchen“, sagt Julian Kley. „Zusätzlich gehen wir sukzessive aktiv in unterversorgte Regionen.“

Um angestellte Ärztinnen und Ärzte wirbt Avi Medical mit einem „sehr attraktiven Gehalt und der Vergütung von Überstunden“ (Website). „Die Ärzte profitieren von flexiblen Arbeitszeitmodellen mit geregelten und planbaren Arbeitszeiten sowie der Möglichkeit, mit Patienten auch aus dem Homeoffice per Videochat zu kommunizieren“, so Kley. „Wir wollen den Hausarztberuf wieder attraktiv machen und zeigen, dass man dies mit Unterstützung moderner Technologie erreichen kann.“

Digitalisierung sieht er als Chance, die Ärztinnen und Ärzte von Verwaltungstätigkeiten zu entlasten, damit sie sich auf ihre medizinische Arbeit konzentrieren können.

Der Informationsdienst Deutsche-Startups.de berichtete im April 2022 unter der Überschrift „Mit stylischen Arztpraxen zum Millioneninvest“, das Unternehmen habe bisher 80 Millionen Euro erhalten – unter anderem von den Investment-Unternehmen Additon, Balderton Capital, Picus Capital und Vorwerk Ventures.

Unter den Investoren ist auch Heal Capital, der Venture-Capital-Fonds der privaten Krankenversicherer, die den GKV-Bereich offenbar als lukratives Investitionsfeld ansehen.

Trotz des Versprechens, die ambulante Versorgung in eine digitale Zukunft zu führen: Die e-Health-Angebote der jungen Unternehmen sind bislang überschaubar. Online-Terminbuchung, Videosprechstunden, elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung – all das findet man auch in normalen Praxen. Alleinstellungsmerkmale gibt es nur wenige: Bisweilen können Patientinnen und Patienten der neuen MVZ-Ketten eine eigene App nutzen oder ihren Anamnesebogen bereits zu Hause am Smartphone ausfüllen.

Bei Avi Medical ist die Online-Terminbuchung kein Zusatzangebot, sondern das Standardverfahren: Auch bei "akuten Anliegen“ sollen die Termine online gebucht werden. Falls Patientinnen und Patienten damit Schwierigkeiten haben, werden Angehörige und Bezugspersonen gebeten, Unterstützung zu leisten. Erst an dritter Stelle sehen sich Avi-Medical-Mitarbeiter dazu veranlasst, telefonisch selbst einen Termin zu vergeben. So kann Digitalisierung zur Zugangshürde für ältere Menschen oder marginalisierte Gruppen werden.

Auch digital-affine Unternehmen sind an regulatorische Rahmenbedingungen und die Nutzung der Telematikinfrastruktur gebunden. KIM-Dienst, ePA und elektronisches Rezept mögen umständlich und ungeliebt sein: Es handelt sich um den verbindlichen Standard, der flächendeckend für Praxen, Krankenhäuser, Apotheken und andere Gesundheits-Einrichtungen gilt. Das Digitalisierungs-Potenzial der neuen Versorgungseinheiten ist also auf Insellösungen begrenzt.

Wollen die drei Unternehmen ihre MVZ-Ketten langfristig behalten? „Wir werden Avi Medical für die nächsten Jahrzehnte weiter auf- und ausbauen“, sagt Vlad Lata. „Wir haben keinen Plan B in der Tasche, und Weiterverkaufen kommt für uns nicht in Frage.“ Auch Doktor.de und Patient21 erklären, dass sie sich langfristig im ambulanten Gesundheitssektor etablieren wollen. Ein Weiterverkauf sei nicht geplant.

Das heißt zunächst nur, dass Avi Medical, Patient21 und Doktor.de als Marken erhalten bleiben sollen – und die Gründer vorhaben, weiterhin beteiligt zu bleiben. Doch: “Soweit es sich bei den Investoren um Private-Equity-Unternehmen handelt, sind die Geldeinlagen zeitlich begrenzt“, sagt Rainer Bobsin, der sich als Fachautor für Private Equity intensiv mit dem Marktgeschehen im Gesundheitswesen beschäftigt. „Private Equity-Unternehmen sammeln Gelder von Privatpersonen sowie Pensions- und Versicherungsgelder ein, die für einen bestimmten Zeitraum angelegt werden. Wenn die Laufzeit der Fonds abläuft, wollen diese Anleger ihr Geld samt Gewinnausschüttung zurückbekommen.“

Auch andere Anleger werden ihre Einlagen nicht ohne Aussicht auf finanziellen Ertrag zur Verfügung stellen, der entweder durch Gewinnmaximierung im laufenden Betrieb oder durch die mit der Zusammenführung von Praxen zu immer größeren MVZ-Ketten einhergehende Wertsteigerung erreicht wird. Wenn alles nach Plan läuft, fließt letztlich Geld aus dem Solidarsystem in die Taschen von Investoren ab.

Nicht nur Telemedizin-Anbieter, auch Gesundheitsunternehmen und Krankenhauskonzerne drängen in die vertragsärztliche Versorgung. Was bedeutet das für die ambulante Medizin? Der Aufbau von profitorientierten MVZ-Ketten bringt Gefahren mit sich, über die in Politik und Öffentlichkeit noch kaum diskutiert wird.

FEHLENDE GEMEINWOHLBINDUNG

Privatunternehmen können Versorgungssicherheit zwar versprechen, müssen dieses Versprechen aber (anders als die öffentlich-rechtlichen KVen) nicht einlösen. Sie sind nicht gemeinwohlgebunden. Sie haben keine Bestandsgarantie. Der CEO könnte zu der Überzeugung gelangen, dass eine Neufinanzierung, ein vollständiger oder teilweiser Weiterverkauf oder eine Schließung nötig ist – und wäre dafür nicht der Öffentlichkeit oder der Solidargemeinschaft der GKV-Beitragszahler, sondern nur den Anteilseignern Rechenschaft schuldig. Allen Beteuerungen, zur Verbesserung der Versorgung beitragen zu wollen, zum Trotz: MVZ-Ketten, die profitorientierten Unternehmen gehören, funktionieren nicht nach einer sozialstaatlichen, sondern nach einer kaufmännischen Logik.

BEDROHUNG DER ÄRZTLICHEN PROFESSIONALITÄT

Bisher haben Selbstverwaltung, Freiberuflichkeit und die mittelständische Struktur des ambulanten Versorgungssystems dafür gesorgt, dass Ärztinnen und Ärzte ihre Professionalität selbst definieren und verteidigen konnten. Wird das Gesundheitssystem von Versorgungseinheiten geprägt, die als Wirtschaftsunternehmen agieren, können sich die Spielregeln ändern. „Wir fürchten, dass profit­orientierte Unternehmen Rosinenpickerei betreiben und sich vor allem auf jene Leistungen konzentrieren, die Geld einbringen“, sagt Dr. Jana Husemann, Vorsitzende des Hausärzteverbandes Hamburg. „Für die ärztlich geführten Praxen, die sich der Versorgung und dem medizinischen Ethos verpflichtet fühlen, blieben dann vor allem die multimorbiden, arbeitsintensiven Patienten übrig.“

In einem Interview im KVH-Journal (9/2021) beschreibt der Gesundheitswissenschaftler Marcus Siebolds die Entstehung „toxischer Märkte“ im Gesundheitswesen. Er sagt: „Wenn sich ärztliches Selbstverständnis als Wettbewerbsnachteil erweist, nimmt der kommerzielle Druck auf die gesamte medizinische Versorgung zu – zum Nachteil der Patientinnen und Patienten, die darauf angewiesen sind, nicht vornehmlich als Objekt der Wertschöpfung wahrgenommen zu werden.“

Während sich angestellte Ärztinnen und Ärzte in einer ärztlich geführten Versorgungseinheit noch auf einen professionellen Grundkonsens berufen können, drohen sie in einem profitorientierten Unternehmen in die Rolle von Dienstleistern gedrängt zu werden. „Für kaufmännische Geschäftsführer und Unternehmer sind ärztliche Ethik und professionelle Identität nur noch eine Privatsache der angestellten Ärztinnen und Ärzte", so Siebolds. "Das sorgt für Konflikte – und ist meines Erachtens ein wichtiger Grund für die Frustration von angestellten Ärztinnen und Ärzten in profitorientierten Unternehmen.“

MARKT-KONZENTRATION

Das Kartellamt hat wenig Handhabe, die Expansion von MVZ-Ketten einzudämmen. „Wir sehen in den vergangenen Jahren zunehmend Übernahmen und Beteiligungen von Finanzinvestoren an Arztpraxen und Medizinischen Versorgungszentren“, sagt Andreas Mundt, Präsident des Bundeskartellamts. „Der Fusionskontrolle unterliegt ein Erwerb aber nur, wenn das Unternehmen, das gekauft werden soll, einen Jahresumsatz von mehr 17,5 Millionen Euro erzielt hat.“ Einzelne Praxen liegen in der Regel unter dieser Umsatzschwelle, die Fusionskontrolle greift in diesem Bereich also zumeist nicht.

In einer Pressemitteilung vom 29. Juni 2022 warnt das Bundeskartellamt zudem vor einer Verfestigung der Strukturen zum Nachteil jüngerer Generationen von Vertragsärztinnen und Vertragsärzten. „Kassenarztsitze im Besitz von Kapitalgesellschaften werden auch bei Verrentung der dort angestellten Ärztinnen und Ärzte nicht einfach wieder frei, sondern sie bleiben im Besitz der Investoren“, heißt es in der Pressemitteilung. „Nicht zuletzt aus diesem Grund haben die begehrten Kassenarztsitze für Kapitalinvestoren einen höheren Wert. Junge Ärztinnen und Ärzte, die selbst eine Arztpraxis übernehmen wollen, sehen sich im Wettbieten mit finanzkräftigen Kapitalinvestoren im Nachteil.“

SYSTEMAUSSTIEG

Haben Unternehmen bundesweit oder in einer bestimmten Region einen relevanten Marktanteil im ambulanten Gesundheitssystem erreicht, werden sie erwägen, diese Position zu ihrem Vorteil zu nutzen. Ein naheliegender Gedanke wäre, Selektivverträge mit den Krankenkassen abzuschließen. (Wir haben bei Krankenkassen nachgefragt, ob das für sie infrage käme – kategorisch ausschließen mochte das keine.)

Falls es Unternehmen gelingt, Vollversorgungs-Modelle durchzusetzen, könnten sie weiterhin von der Finanzierungsgarantie durch das GKV-System profitieren, gleichzeitig aber dessen einschränkende Regularien abstreifen.

So entstünden Versorgungsbereiche mit eigenen Abrechnungsregeln, eigenen Leistungskatalogen und eigenen Qualitätsstandards. Ein privatwirtschaftlich geprägtes Selektivvertragssystem wäre das Ende des Kollektivvertrags. Es wäre das Ende der Sicherstellung durch die gemeinsame Selbstverwaltung, das Ende der freien Arztwahl – und schließlich das Ende der solidarischen ambulanten Gesundheitsversorgung.

Dass eine durchgreifende Ökonomisierung das System verbessert, ist angesichts der Empirie nicht zu erwarten. In den USA sorgt das privatwirtschaftlich geprägte Selektivvertragssystem bekanntlich für ineffiziente, bürokratische und überteuerte Strukturen.

Die jetzt in Deutschland einsetzende Ökonomisierung ist kaum mehr rückgängig zu machen. Profitorientierte MVZ-Ketten werden bleiben – und zu Lasten ärztlich geführter Versorgungseinheiten wachsen, sofern die Politik dem keinen Riegel vorschiebt.

Von der zunehmenden Konkurrenz durch andere Start-ups und Telemedizin-Unternehmen geben sich die Protagonisten von Doktor.de und Avi Medical unbeeindruckt: „Andere Unternehmen sehen wir nicht als Bedrohung, sondern als Mitstreiter“, sagt Doktor.de-Geschäftsführerin Susanne Kreimer. Avi Medical-Mitbegründer Vlad Lata erklärt im Nachrichten-Podcast StartupInsider auf YouTube: "In Deutschland setzen Hausärzte mehr als 17 Milliarden Euro pro Jahr um. Das ist ein Riesen-Markt für ein einziges Land in Europa. Bis wir das ausgeschöpft haben, auch wenn es drei oder vier oder fünf Teilnehmer gibt, werden wir lange arbeiten können.“

Allerdings brauchte auch die US-Hausarztkette One Medical einige Zeit, bis sie auf 188 Standorte angewachsen war. Und ob ursprünglich beabsichtigt oder nicht: Nun passt sie genau in die Expansions-Strategie des weltgrößten Versandhandelsunternehmens, das für 3,9 Milliarden Dollar ein fertig geschnürtes Paket verordnender Hausarztpraxen übernehmen und mit dem vorhandenen Telemedizin-Angebot (Amazon Care) und der Online-Apotheke (Amazon Pharmacy) zusammenfügen kann.

MARTIN NIGGESCHMIDT
Redakteur KVH-Journal

Weiterführende Literatur:

Rainer Bobsin: „Arztpraxen und Medizinische Versorgungszentren - Private-Equity-Gesellschaften forcieren Konzentrations-, Internationalisierungs und Digitalisierungsprozesse“ Offzin Verlag, Juni 2022

Rainer Bobsin: „Private Equity im Bereich der Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen in Deutschland“ Hannover 2021

Martin Niggeschmidt, Jens Remmert: „Strategie des big deal“ KVH-Journal 12/2018

Marcus Siebolds: „Historischer Fehler. Die Kommerzialisierung der Versorgung bringt Ärztinnen und Ärzte in berufsethische Konflikte“ Interview. KVH-Journal 9/2021

Marcus Siebolds: „KV denken – Thesen zur Vigilanz ärztlicher Selbstverwaltung“ Hamburg 2014

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