Schwäche des Orientierungspunktwerts
Von Dr. Björn Parey
Während die Gesundheitsausgaben insgesamt rasant steigen, erleben die EBM-Leistungen inflationsbereinigt einen Preisverfall.
Die Entbudgetierung ist ein zentrales Anliegen, wenn es darum geht, die Erosion der vertragsärztlichen Versorgung zu bremsen oder zu stoppen. Doch es gibt ein weiteres, oft übersehenes Problem: die chronische Schwäche des Orientierungspunktwerts.
Gemessen am Orientierungspunktwert sind die Honorare für Vertragsärztinnen und Vertragspsychotherapeuten in den vergangenen zehn Jahren inflationsbereinigt um 11,3 Prozent gesunken.
Der Orientierungspunktwert legt fest, wie viel ein Punkt im EBM (Einheitlicher Bewertungsmaßstab) in Euro wert ist. Über die Steigerung wird jährlich zwischen Krankenkassen und KBV verhandelt. Damit bestimmt der Orientierungspunktwert die Preise ärztlicher und psychotherapeutischer Leistungen.
Ein Blick auf die Zahlen zeigt das Problem: Nominell ist der Orientierungspunktwert in zehn Jahren um 15,6 Prozent gestiegen. Die Inflation im selben Zeitraum lag jedoch bei 26,9 Prozent. Das bedeutet einen realen Honorarverlust von 11,3 Prozent.
Lohn- und Honorarveränderungen im Verhältnis zur Inflation über 10 Jahre
Für Hausarztpraxen, die etwa 50 Prozent ihrer Einnahmen für Praxiskosten aufwenden, ergibt sich daraus ein Rückgang der Arztgewinne um rund 22,6 Prozent. Die positiven Effekte der hausärztlichen Entbudgetierung werden durch den mangelnden Inflationsausgleich also zum großen Teil wieder einkassiert. Die Facharzt-Praxen sind von der Inflation nicht weniger betroffen – ohne dass eine Entbudgetierung ihrer Leistungen auch nur absehbar wäre.
Ist dieser Rückgang für alle Ärztinnen und Ärzte gleich spürbar? Nein. Im kommunalen Klinikbereich etwa stiegen die Tarifgehälter in den letzten zehn Jahren um 28,6 Prozent – also leicht über der Inflation.
Zahlen zu angestellten Ärztinnen und Ärzten bei Krankenkassen sind schwer zu finden. Für die Kassen-Chefs dagegen liegen sie vor: Der Vorstandsvorsitzende der Techniker Krankenkasse etwa hat in diesem Zeitraum mit seinem Gehaltsplus von 34,4 Prozent die Inflationsrate sehr deutlich überschritten.
Gleichzeitig fordern die Krankenkassen größere Anstrengungen bei der Ausgabenbegrenzung. Die AOK-Vorstandsvorsitzende Carola Reimann beispielsweise bemängelt eine fehlende Anbindung der Gesundheitsausgaben an die Entwicklung der Grundlohnsumme (https://www.aend.de/article/234087).
Die Grundlohnsumme wuchs in den letzten zehn Jahren um 36,5 Prozent, die Gesamtausgaben der GKV stiegen um fast 60 Prozent. Die Honorare der Vertragsärztinnen und -psychotherapeuten sind nicht die Kostentreiber im System.
Im Gegenteil: Wir würden uns wünschen, unsere Honorare hielten mit der Grundlohnsumme auch nur im entferntesten Schritt. Die großen Ausgabensteigerungen finden sich bei Klinikkosten und Arzneimitteln.
Wir alle wissen: Ein krankenhaus-zentriertes Gesundheitswesen ist teuer. Deutlich günstiger, effizienter und patientenfreundlicher sind Systeme, die auf Basis einer wohnortnahen Grundversorgung arbeiten und einen möglichst großen Anteil der Leistungen ambulant erledigen.
Dennoch gerät die vertragsärztliche Versorgung in Deutschland zunehmend ins Hintertreffen. Die Entwicklung läuft in die falsche Richtung. Ist das politisch gewollt? Will unsere Gesellschaft tatsächlich ein krankenhaus-zentriertes Gesundheitssystem mit all seinen offensichtlichen Nachteilen?
Die neue Bundesgesundheitsministerin Nina Warken scheint bereit zu sein, den Ärztinnen und Ärzten zuzuhören. Wir sollten die Chance nutzen, mit ihr ins Gespräch zu kommen.
Der Vorstand der KV Hamburg hat das Thema „Orientierungspunktwert“ aufgenommen und dazu bereits erste Gespräche mit der KBV geführt. Es wäre wünschenswert, wenn sich auch die Berufsverbände in die Diskussion einbringen würden. Gemeinsam können wir Lösungen finden, um realistische Steigerungsraten durchzusetzen.
Hier geht es nicht um einen Verteilungskampf zwischen den Fachgruppen, sondern um ein Problem, das uns alle betrifft. Es betrifft uns als Ärztinnen und Ärzte und Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, die gemeinsame berufspolitische Interessen haben. Doch es betrifft uns auch als Bürgerinnen und Bürger, die sich dafür einsetzen sollten, eine leistungsfähige, hochqualifizierte und wohnortnahe Gesundheitsversorgung zu erhalten.
Weiterführende Links:
Inflationsrate: https://www.smart-rechner.de/inflation/ratgeber/inflationsraten_deutschland.php
Tarifvertrag Kommunale Krankenhäuser: https://www.marburger-bund.de/bundesverband/tarifvertraege
Grundlohnsumme: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/39039/umfrage/volumen-der-bruttoloehne-in-deutschland-seit-2000/?utm_source=chatgpt.com
Gesamtkostenanstieg GKV: https://www.vdek.com/magazin/ausgaben/2024-05/rueckkehr-einnahmeorientierte-ausgabenpolitik.html?utm_source=chatgpt.com
DR. BJÖRN PAREY ist Facharzt für Allgemeinmedizin in Hamburg-Volksdorf und stellvertretender Vorsitzender der Vertreterversammlung der KV Hamburg