7-8/2025 7-8/2025

S3-Leitlinie "Seltene Erkrankungen der Zähne"

Aus dem Netzwerk Evidenzbasierte Medizin

Erfahrungen und Konsequenzen aus der Arbeit mit Fallberichten und -serien

Von Dr. med. dent. Helena Dujic, Prof. Dr. med. dent. Roswitha Heinrich-Weltzien und Prof. Dr. med. dent. Jan Kühnisch im Auftrag des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin e. V. (www.ebm-netzwerk.de)

Seltene Erkrankungen der Zähne betreffen über 400 Krankheitsbilder, deren kausale Gene zumeist bekannt sind [1]. Die Erkrankungen können dabei isoliert an den Zähnen auftreten oder Teil eines Syndroms sein.
Die zahnärztliche Versorgung von Betroffenen mit seltenen Erkrankungen der Zähne stellt die Betroffenen, deren Eltern bzw. Sorgeberechtigte sowie alle an der Betreuung dieser Patientengruppe beteiligten (Fach)Zahnärzte und Ärzte vor große Herausforderungen.

Dies ist sowohl in der generalisierten Ausprägung als auch dem Umfang der funktionellen und ästhetischen Einschränkungen begründet. Das Spektrum klinischer Befunde reicht dabei vom Fehlen des schützenden Zahnschmelzes, z.B. bei Amelogenesis imperfecta (AI), über eine rasche Abnutzung der Zahnkronen bei einer Dentinogenesis imperfecta, dem vorzeitigen Verlust von Zähnen, z.B. bei der hereditären hypophosphatämischen Rachitis (Synonyme: Phosphatdiabetes, X-chromosomale Hypophosphatämie, X-linked hypophosphatemia) oder der Hypophosphatasie, von rasch fortschreitenden Parodontitiden, z. B. bei primären Immundefizienzen oder dem Papillon-Lefèvre-Syndrom, bis hin zu multiplen Nichtanlagen von Zähnen im Formenkreis der ektodermalen Dysplasie.

Mit Blick auf das Fehlen von systematisch entwickelten Handlungsempfehlungen für die Versorgung von seltenen Erkrankungen der Zähne schien die Erstellung einer multidisziplinären S3-Leitlinie „Seltene Erkrankungen der Zähne“ von hoher klinischer Relevanz. Diese wurde 2024 fertiggestellt und beinhaltet insgesamt 41 Handlungsempfehlungen zur Diagnostik und Therapie der zuvor genannten Erkrankungskomplexe.
Damit stehen Zahnärztinnen und Zahnärzten, Betroffenen sowie allen weiteren Interessierten Empfehlungen für eine individualisierte zahnärztliche Versorgung zur Verfügung. Die S3-Leitlinie kann – wie üblich – über die Webseite der AWMF unter der Registernummer 083-048 abgerufen werden (https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/083-048) [2].
Ziel des vorliegenden Beitrages ist es weniger, auf die erarbeiteten Empfehlungen einzugehen, als vielmehr die multiplen, methodischen Herausforderungen und Grenzen bei der Realisierung des Leitlinienvorhabens zu skizzieren. Die folgenden Punkte erscheinen dabei von besonderer Bedeutung:

1. Vielfalt der seltenen Erkrankungen der Zähne

In der Zahnmedizin sind eine Vielzahl an seltenen Erkrankungen unter Mitbeteiligung der Zahnhartsubstanz (Schmelz, Dentin) bzw. des Zahnhalteapparates (Parodont, Alevolarknochen) beschrieben [1].
De La Dure-Molla et al. [1] bezifferten die Zahl bekannter Erkrankungen auf mehr als 400. Unter Berücksichtigung dieser Größenordnung wird deutlich, dass eine vollständige Bearbeitung seltener Erkrankungen der Zähne in einer einzelnen Leitlinie nicht möglich ist.
Auch erscheint es unmöglich, Leitlinien für jede einzelne seltene Erkrankungen zu erarbeiten. Daher waren Priorisierungen unumgänglich, und es wurde zu Beginn der Leitlinienarbeit eine empirische Umfrage unter den federführenden Autoren initiiert, um die Häufigkeit selbst beobachteter Fälle unter Berücksichtigung der Leitsymptome „Zahnhartsubstanz-Störung an allen Zähnen beider Dentitionen“, „Zahnunterzahl/Oligodontie“ und „Atypischer Zahnverlust von Milch-/bleibenden Zähnen“ abzuschätzen.

Im Ergebnis der arbeitsgruppen-internen Umfrage erfolgte die Festlegung auf die o.g. Erkrankungen. Anzumerken ist an dieser Stelle, dass die gewählten Erkrankungskomplexe etliche Geno-/Phänotypen aufweisen und demzufolge mit heterogenen klinischen Ausprägungen und letztlich Therapiebedarfen einhergehen. Für die AI sind beispielsweise >40 Genotypen beschrieben, welche auch mit eigenen Phänotypen einhergehen. Gleichfalls sind die primären Immundefizienzen als heterogene Gruppe mit einer Vielzahl an einzelnen Erkrankungen bekannt.
Strenggenommen, müsste jeder Geno-/Phänotyp als eigene Entität betrachtet werden, was mit Blick auf begrenzte Ressourcen bei der Leitlinien-Erstellung als unmöglich zu beurteilen ist.
Daher ist die gewählte Leitlinienstruktur als Kompromiss aus Machbarkeit und möglichst umfassender Darstellung der Thematik zu verstehen.

2. Notwendigkeit der Betrachtung von unterschiedlichen Phasen der Gebissentwicklung

Da Kinder, Jugendliche und Erwachsene von seltenen Zahn­erkrankungen gleichermaßen betroffen sind, bedarf es aufgrund der anatomischen und wachstumsbedingten Besonderheiten der Berücksichtigung von alters- und wachstumsspezifischen Aspekten in der zahnärztlichen Versorgung. Daher wurde entschieden, sich an den typischen Wachstumsphasen zu orientieren und – sofern sinnvoll – Empfehlungen auch für diese Alters- bzw. Entwicklungsphasen zu erarbeiten:

  • im Kindesalter (Milchgebiss),

  • im Schulalter (Wechselgebiss),

  • im jungen Erwachsenenalter (jugendlich bleibendes Gebiss) und

  • im Erwachsenenalter (bleibendes Gebiss)

Unter Verweis auf die Rechercheergebnisse ist auszuführen, dass in der Literatur grundsätzlich eine Ungleichverteilung zugunsten jüngerer Altersgruppen vorliegt und Berichte zu Erwachsenen und Älteren deutlich seltener publiziert wurden. Mit Blick auf die langfristige Bedeutung der bleibenden Dentition fehlen daher aussagekräftige Überlebensdaten und Langfristprognosen, was wiederum die Aussagesicherheit gerade für die bleibenden Zähne negativ beeinflusst.

3. Dominanz von Fallberichten bzw. Serien

Die Erstellung der S3-Leitlinie wurde gemäß dem AWMF-Regelwerk [3] realisiert. Für die systematische Literaturrecherche wurden PICOS-basierte Suchstrategien auf Grundlage der konsentierten Schlüsselfragen erstellt und anschließend relevante Literaturdatenbanken (Pubmed/ Medline und Embase) systematisch durchsucht. Dabei wurden sowohl systematisch erstellte Übersichtsarbeiten bzw. Meta-Analysen, Empfehlungen von Fachgesellschaften, klinische Studien, als auch Fallberichte bzw. -serien auch ohne Verlaufskontrolle eingeschlossen.
Die Rechercheergebnisse verweisen auf eine unzureichende wissenschaftliche Literatur- und Datenbasis bei seltenen Erkrankungen der Zähne. Klinische Studien wurden ausschließlich im Fall der AI dokumentiert.

Demgegenüber lagen für alle anderen Erkrankungen nur Fallberichte bzw. -serien vor. Dies dürfte die regelhafte Situation widerspiegeln, dass in den weltweit unterschiedlichen Betreuungs-Settings allenfalls nur sehr wenige Betroffene von seltenen Zahnerkrankungen diagnostiziert und therapiert werden.
Darüber hinaus kann vermutet werden, dass die Publikation sich wahrscheinlich auf Fälle beschränkt, in welchen die zahnärztliche Versorgung erstens vollständig umgesetzt werden konnte und zweitens mit einem gelungenen Therapieergebnis abgeschlossen wurde. D.h., nur ein Bruchteil der Fälle wird auch publiziert.

Daher ist es nicht überraschend, dass notwendige Fallzahlen für klinische Studien kaum bzw. gar nicht erreichbar sind und der Fallbericht das nahezu einzige Publikationsformat für die zahnärztliche Versorgung von seltenen Erkrankungen darstellt.
Die verfügbaren Fallberichte und -serien wiesen zudem unterschiedliche Beobachtungszeiten sowie eine sehr heterogene Qualität auf [4].

4. Niedrige Evidenz

Mit Blick auf das Fehlen von klinischen Studien – mit Ausnahme von AI – sind gleichermaßen keine Meta-Analysen verfügbar. In der Gesamtheit muss daher geschlussfolgert werden, dass die Mehrzahl der klinischen Handlungsempfehlungen nur auf Grundlage einer Evidenz von niedriger Qualität formuliert werden konnte.

An dieser Evidenzgrundlage dürfte sich auch zukünftig nicht viel ändern, da das seltene Vorkommen der Erkrankungen unabänderlich ist und damit klinische Studien an Patientengruppen als kaum umsetzbar gelten. Darüber hinaus variierte die Anzahl der verfügbaren Literaturstellen bei den ausgewählten Erkrankungen. Am häufigsten wurden Publikationen für die AI aufgefunden, am seltensten für die hereditäre hypophosphatämische Rachitis und Hypophosphatasie. Die Häufigkeitsunterschiede dürften als ein indirektes Indiz für das Vorkommen der Erkrankungen in der Bevölkerung gewertet werden.

5. Fehlende Endpunkte

Die verfügbaren Fallberichte bzw. -serien sind mehrheitlich durch die Beschreibung eines Symptomenkomplexes sowie der Beschreibung einer Therapie in einer bestimmten Altersphase gekennzeichnet. In etlichen Fällen fehlen zudem aussagekräftige Nachbeobachtungen, um anhand von etablierten Endpunkten den (Miss)Erfolg der umgesetzten Therapie aufzuzeigen.

Als relevante Endpunkte sind beispielsweise zu nennen: Restaurationsüberleben bzw. -versagen [5], parodontale Gesundheit [6], die mundgesundheits-bezogene Lebensqualität [7] oder das Zahnüberleben. Der letztgenannte Endpunkt ist insofern von besonderer Bedeutung, da aufgrund der anatomisch bedingten Normabweichungen die Funktionsfähigkeit von Zähnen mit seltenen Erkrankungen im Vergleich zum gesunden Zahn reduziert sein kann. In der Konsequenz sind vorzeitige Zahnverluste bei Betroffenen mit seltenen Zahnerkrankungen sowohl im Milchgebiss als auch in der bleibenden Dentition dokumentiert.

Weiterhin sollten mögliche unerwünschte Ereignisse während und nach der durchgeführten Behandlung berichtet werden. Auch diese Informationen wurden in den Fallberichten und -serien mehrheitlich nicht dokumentiert. In der Konsequenz der getätigten Beobachtung bleibt zu schlussfolgern, dass die Qualität in der Fallberichterstattung deutlich angehoben werden sollte.

6. Seltene Nutzung neuer Technologien

Die Literatursichtung berücksichtigte gleichfalls die Nutzung von neuen, digitalen Fertigungstechnologien für Zahnersatz und schloss dabei die Herstellung von digitalen Modellen, Simulationen und die CAD/CAM-basierte Fertigung mit ein. Während diese Themen in der aktuellen wissenschaftlichen Literatur ein hohes Interesse erfahren haben, wurden demgegenüber nur wenige Fallberichte mit einem Bezug zu seltenen Erkrankungen der Zähne publiziert.

Dies ist bemerkenswert, da neue Technologien gerade in komplexen Situationen die zahnärztliche Versorgung optimieren können. Daher kann hier die empirische Beobachtung getätigt werden, dass Betroffene von seltenen Erkrankungen offensichtlich nicht im primären Anwendungsfokus der digitalen Technologien stehen.

Mit Blick auf die genannten methodischen Herausforderungen bei der Erstellung der S3-Leitlinie „Seltene Erkrankungen der Zähne“ kann geschlussfolgert werden, dass Fallberichte und -serien die weitgehend einzige Evidenzquelle waren und auch zukünftig sein werden. Die Realisierung von klinischen Studien – als Grundlage für ein höheres Evidenzniveau – erscheint im Einzelfall mit einem extrem hohen Aufwand möglicherweise umsetzbar. Dies wird allerdings auch zukünftig eine Ausnahme bleiben, da adäquate Fallzahlen mit vergleichbaren Behandlungsbedarfen kaum in einer überschaubaren Zeit rekrutiert werden können.

Daher ist die Bedeutung von Fallberichten und -serien als Evidenzquelle pragmatisch anzuerkennen. Allerdings ist auch auszuführen, dass die Qualität in der Berichterstattung seitens der Zahnärztinnen/Zahnärzte bzw. Autorinnen/Autoren verbessert werden muss, um ein Maximum an Informationen aus den oftmals sehr aufwendigen zahnärztlichen Versorgungen herausziehen zu können. Dies erfordert aber auch, Fallberichte und -serien als ein wichtiges und evidenz-generierendes Publikationsformat wertzuschätzen.

Danksagungen

Das dieser Veröffentlichung zugrundeliegende Leitlinienprojekt wurde mit Mitteln des Innovationsausschusses beim Gemeinsamen Bundesausschuss unter dem Förderkennzeichen 01VSF22015 gefördert. Die Arbeitsgruppe der S3-Leitlinie „Seltene Erkrankungen der Zähne“ setzte sich aus den federführenden Autoren, den mandatierten und abstimmungsberechtigten Ko-Autoren, Patientenvertretern und der Moderatorin, Frau Dr. Nothacker (AWMF), zusammen. Die gesamte Arbeitsgruppe wurde organisatorisch durch Frau Dr. Anke Weber und Frau Dr. Birgit Marré, Leitlinienbeauftragte der DGZMK, methodisch unterstützt.

Alle Dokumente der S3-Leitlinie „Seltene Erkrankungen der Zähne“ (AMWF Registernummer 083-048) können auf der Webseite der AWMF eingesehen werden.

DR. MED. DENT. HELENA DUJIC, Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie, Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München

PROF. DR. MED. DENT. ROSWITHA HEINRICH-WELTZIEN, Sektion Präventive Zahnheilkunde und Kinderzahnheilkunde, Poliklinik für Kieferorthopädie, Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, Universitätsklinikum Jena

Korrespondierender Autor:
PROF. DR. MED. DENT. JAN KÜHNISCH, Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie, Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München
jan.kuehnisch@med.uni-muenchen.de

Literaturverzeichnis

1. de La Dure-Molla M, Fournier BP, Manzanares MC et al. (2019) Elements of morphology: Standard terminology for the teeth and classifying genetic dental disorders. Am J Med Genet A 179:1913-1981. 10.1002/ajmg.a.61316

2. DGKiZ D, DGCZ, GfH, DGZMK: S3-Leitlinie „Versorgung seltener Erkrankungen der Zäh-ne“, Langfassung, Version 1.0, 2024, AWMF-Registriernummer: 083-048, https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/083-048. In:Zugegriffen: 04.05.2025

3. Anonymous Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)-Ständige Kommission Leitlinien. AWMF-Regelwerk „Leitlinien“. Auflage 2.1 2023. Verfügbar: https://www.awmf.org/regelwerk/. In:Zugegriffen: 04.05.2025

4. Dujic H, Bucher K, Schuler IM et al. (2025) Dental Management of Genetic Dental Disorders: A Critical Review. J Dent Res. 10.1177/00220345241305330:220345241305330. 10.1177/00220345241305330

5. Hickel R, Mesinger S, Opdam N et al. (2023) Revised FDI criteria for evaluating direct and indirect dental restorations-recommendations for its clinical use, interpretation, and reporting. Clin Oral Investig 27:2573-2592. 10.1007/s00784-022-04814-1

6. Papapanou PN, Sanz M, Buduneli N et al. (2018) Periodontitis: Consensus report of workgroup 2 of the 2017 World Workshop on the Classification of Periodontal and Peri-Implant Diseases and Conditions. J Periodontol 89 Suppl 1:S173-S182. 10.1002/JPER.17-0721

7. Heydecke G (2002) Patient-based outcome measures: oral health-related quality of life. Schweiz Monatsschr Zahnmed 112:605-611.