Mind the science
Kolumne
von Dr. Christine Löber, HNO-Ärztin in Hamburg-Farmsen
Jonathan N. Stea ist klinisch tätiger Psychologe, hat eine Lehrtätigkeit an der psychologischen Fakultät der Universität Calgary inne, publiziert viel und macht überhaupt viel– besonders in Form eines „Science Communicators“. Was soll man sich darunter jetzt wieder vorstellen?
Die Menschheit müht sich seit tausenden von Jahren mit wissenschaftlichen Umwegen, Sackgassen und schließlich Erkenntnissen ab. Von den Sumerern über die Renaissance in die Moderne: Der Mensch hat die angenehme Eigenschaft, unklare Sachverhalte beleuchten zu wollen, und entdeckt dabei auch immer was Neues. So verhält es sich auch in unserem medizinischen Milieu.
Uns Ärzt:innen ist in jeder Behandlung bewusst, dass wir zwar sehr viel, aber eben auch gar nichts wissen. Wir haben im Vergleich zu vor hundert Jahren reichlich neues Wissen über den menschlichen Körper und seine Krankheiten angehäuft, haben aber den Großteil dieses Faszinosums immer noch nicht entschlüsselt.
Die Medizin ist sich dessen in einer grundsätzlich sehr bescheidenen Art bewusst. Und warum ist das so?
Weil die Forschung nach wissenschaftlichen Kriterien abläuft. Weil Wissenschaft ein weitestgehend emotionsloses Unterfangen ist, weil Wissenschaft Fehler zulässt und gleichermaßen korrekturfähig macht, weil Scheitern in der Wissenschaft normal ist. Weil Wissenschaft uns auch immer zeigt, was wir alles nicht wissen.
Und: Wissenschaft beinhaltet vor allem Wissen, das unterscheidet sie von den sogenannten Pseudowissenschaften.
Robert F. Kennedy junior, von Haus aus Jurist und gläubiger Katholik, hat diesen Pseudowissenschaften – oder zumindest ihrer Denkweise – zuletzt ein lautes, schillerndes Antlitz verliehen.
RFK jr. mag ein republikanischer Unsympath sein, vorzuwerfen ist ihm jedoch etwas ganz Anderes: Nämlich die kontinuierlichen Des- und Misinformationen über medizinische Zusammenhänge, die er nach Lust und Laune in den Raum wirft. Kennedy wärmt längst widerlegte Verschwörungstheorien zu Impfen und Autismus wieder auf und initiiert Untersuchungen dazu, die Andrew Wakefield selbst nicht so schnell auf die Beine hätte stellen können. Implantierte Chips, Bill Gates, die Auslagerung von psychisch Kranken in Wellness-Farmen, Abtreibungsverbote, generelles Impfgegnertum, you name it. RFK jr. nimmt alles mit, rudert dann mal zurück und wieder nach vorn in einen anderen Irrweg.
Das Problem ist natürlich zu einem Teil RFK jr. als Person, aber noch viel problematischer ist seine Rolle als amerikanischer Gesundheitsminister.
Denn wenn DER das sagt, wird das wohl stimmen, und wenn DER in verunreinigten Teichen seine Rohmilch trinkt, wird das wohl gut sein. Glauben zumindest seine Anhänger, und das sind nicht wenige. Und es geht hier auch nur um Glauben, nicht um Wissen.
In Deutschland glauben 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung an Verschwörungstheorien, in den USA sind es in der Gruppe der Republikaner sogar 40 bis 50 Prozent.
An dieser Stelle kommen Menschen wie Jonathan Stea ins Spiel, und hier wird auch deutlich, warum wir Science Communicators wohl gut brauchen können.
Stea hat in seinem kürzlich erschienenen Buch „Mind the Science“ einen gut verständlichen, humorvollen, aber eben auch sehr ernstgemeinten Leitfaden erstellt, wie man Wissenschaft von Pseudowissenschaft auf dem Gebiet der psychischen Krankheiten unterscheiden kann. Ist das denn wirklich notwendig? Meines Erachtens ja.
Professor Joanna Moncrieff ist eine britische Psychiaterin, die ebenfalls kürzlich ein Buch veröffentlicht hat, „Chemically Imbalanced: The Making and Unmaking of the Serotonin Myth“. Besonders viel Neues enthält das Buch für die Psychiater:innen unter uns wahrscheinlich nicht, für die Patient:Innen sieht es anders aus.
Moncrieff verurteilt zunächst die SSRI aufs Schärfste, erweitert dann bewusst oder unbewusst auf alle Antidepresssiva und kommt in begleitenden Interviews zu dem Schluss, dass psychische Krankheiten überhaupt nicht mit Medikamenten behandelt werden sollten, weil sie möglicherweise gar nicht existieren.
Deshalb wäre zum Beispiel ein Spaziergang eine empfehlenswerte Therapie für die suizidalen Depressiven.
Sie füttert hier die aktuell wieder boomende Anti-Psych-Szene, in der Trolle oder tatsächlich Erkrankte die psychiatrische Diagnostik und Therapie als Tor zur Hölle beschrei(b)en.
Joanna Moncrieff ist, anders als Kennedy, vom Fach. Und wenn DIE das sagt, muss das ja stimmen. Es ist absolut nicht alles falsch, was sie kritisiert, und die psychischen Krankheiten sind eben doch nicht der frakturierte Humerus, zumindest nicht in Diagnostik und Therapie.
Joanna Moncrieff nimmt aber ähnlich rückwärtsgewandte Wege wie Kennedy.
Wenn uns die vorhandenen Therapien nicht gut genug erscheinen, erweitern wir den Blick lieber nicht oder gehen sogar nach vorn, sondern treten den Rückzug an.
Zu Spaziergängen, zur Natur, zu Dingen, die wir gar nicht beweisen, sondern nur noch behaupten müssen. Die aber natürlich vermarktet und in Preiskategorien bezahlt werden wollen, die mit unserer Flatrate-Medizin nichts zu tun haben.
Jonathan Stea beschreibt die Pseudowissenschaft so: „It´s sexy. It´s alluring. And it´s a sham.”
In den Pseudowissenschaften ist der Jargon immer aufnehmend, wahrnehmend, vermeintlich wissenschaftlich und bunt.
Wenn Ärzt:innen jemanden behandeln, wird eine Diagnose gestellt und dann behandelt. Oder es wird keine Diagnose gestellt, dann werden Behandlungsversuche besprochen oder mehr Diagnostik veranlasst.
Oft ist das zu kurz. Der Patient versteht etwas nicht, der Arzt hat keine Zeit, es gibt keine Erklärung, warum etwas nicht geklappt hat.
Kaltes, weißes, unpersönliches Sprechzimmer.
Schwenk zur tropischen Schönheit der Pseudomedizin, hier weiß der Behandler alles. Immer. Und wenn er es nicht weiß – was regelhaft so ist, denn die sogenannten Behandler oder Heiler haben von Medizin keine nennenswerte Ahnung –, muss es was mit Aluminium sein. Das können wir ausleiten, kostet nur ganzheitliche 200 Euro.
Pseudowissenschaft besitzt eine dümmliche Sicherheit, die aus rein emotionalen Komponenten besteht.
Wissenschaft kann emotionslos mit der völlig normalen Unsicherheit umgehen, in der wir immer leben müssen. Genau wie wir auch, genau wie viele Patient:innen allerdings nicht.
Insbesondere dann nicht, wenn es Industrien gibt, die suggerieren, dass der „Mainstream“ das Böse ist, dass wir nur von „Big Pharma“ krankgemacht werden sollen, dass es einzelne Heilsbringer gibt, die uns retten können.
Das können sie nicht deshalb, weil sie irgendetwas Brauchbares können, sondern weil sie uns den Feind erklären. Und der Feind deines Feindes ist dein Freund und zieht immer an der Halswirbelsäule.
Menschen glauben immer gerne Dinge, wenn etwas nicht auf den ersten Blick erklärbar ist.
Manche würden eventuell einen Unterschied sehen zwischen Religion, Homöopathie, Astrologie und Anti-Vaxxern, ich persönlich sehe den nicht.
Ich bin der Meinung, dass wir aufgrund unseres Berufes eine besondere Verantwortung in Hinblick auf die Aufklärung über pseudomedizinische Instrumente und Methoden haben.
Natürlich ist jeder frei in seinen Glaubenssätzen, dennoch besitzen wir einen Wissensschatz, den nicht jeder einfach so mitbringt. Das Wissen über das Wissen und die Wissenschaft in verständlicher Form zu transportieren, gehört meines Erachtens zu unserer Tätigkeit dazu.
Wir müssen alle Science Communicators sein. Je besser wir das umsetzen, desto einfacher ist es für den Laien zu erkennen, welche anmaßenden und oft gefährlichen Mogelpackungen sich hinter den Fassaden der Pseudomedizin verbergen.
Nachtrag: Natürlich habe ich Jonathan Stea nach seinem Sternzeichen gefragt, er ist Wassermann. Ich bin Waage und mein Aszendent ist Wassermann, ich habe freudig gequietscht. Es ist eben nie so einfach, wie es scheint.
Buchtipp:
Jonathan N. Stea, PhD: „Mind the Science - Saving Your Mental Health From The Wellness Industry”, Oxford University Press
DR. CHRISTINE LÖBER ist HNO-Ärztin und Buchautorin.
Aktuell im Buchhandel: „Immer der Nase nach“ (zusammen mit Hanna Grabbe), Mosaik Verlag / Hamburg
In dieser Rubrik drucken wir abwechselnd Texte von Dr. Christine Löber, Dr. Matthias Soyka und Dr. Bernd Hontschik.