7-8/2024 7-8/2024

Kochen und Übergewicht

Kolumne

von Dr. Matthias Soyka
Orthopäde in Hamburg-Bergedorf

Die Supermärkte der kleinen Stadt, in der ich am Freitag gerne einkaufe, haben ein hervorragendes Angebot und ausgesprochen freundliche Mitarbeiter. Man kann hier ohne Probleme zu moderaten Preisen alles kaufen, was man fürs Wochenende braucht. Es gibt frisches Gemüse, gutes Fleisch, ordentlichen Käse und, was mir besonders wichtig ist, Weidemilch einer Genossenschaftsmolkerei, deren Mitglieder die Kälber nicht sofort nach der Geburt von den Mutterkühen trennen.

Trotzdem erlebe ich dort fast jeden Freitag einen Augenblick des Grauens. In der Schlange vor der Kasse gibt es jedes Mal ein oder zwei Mitwartende (meist aber mehr), deren vollgepackte Einkaufswagen mich schier verzweifeln lassen. Nichts von dem schönen Angebot findet sich darin. Stattdessen Tiefkühlpizzas, eingeschweißtes plastikartiges Gemüse, das trotz seiner Künstlichkeit verwelkt, viele seltsame Nahrungsmittel mit seltsamen künstlichen Farben (bevorzugt rosa), Süßigkeiten aus der Retorte, Pfannengyros, eingeschweißte Würste, Nutella, Fruchtsäfte, Mischgetränke, Wodka, mehrere Flaschen Ballantines Whiskey aus dem Sonderangebot und zum Abschluss noch ein paar Schachteln Zigaretten.

Ich denke dabei an eine Pressemitteilung: Die Lebenserwartung in Deutschland ist – im Vergleich zum restlichen Westeuropa – erneut gesunken. „1,7 Jahre, 20,4 Monate, 88,64 Wochen oder 620,5 Tage“ rechnet der Spiegel vor.
Als Leistungsträger darf man sich wieder die übliche Litanei anhören: Deutschland habe das teuerste Gesundheitssystem, aber die kürzeste Lebenserwartung. Eine Aussage, die vielleicht ihre Berechtigung hätte, wenn sie auf die exorbitant hohen Verwaltungskosten anspielen würde. Aber leider ist der Satz meist nur der Auftakt zum Bashing der Leistungserbringer.

Nur selten wird ein Bezug zu den mit prekären Lebensmitteln gefüllten Einkaufswagen hergestellt. Wen interessiert dabei, dass die Deutschen die größte Pro-Kopf-Menge von Spirituosen konsumieren und es immer noch Werbung für Nikotinprodukte gibt?

Ist es nicht eher umgekehrt? Durch die Leistung unseres Gesundheitswesens werden viele Raucher oder Trinker trotz höchstriskantem Lebensstil doch noch zu einem erstaunlich hohen Alter gebracht. Aber auch das kann ein Problem sein: Sebastian Klüsener, einer der Autoren der neuesten Studie des Max Plank Instituts, befürchtet, dass viele Menschen sich auf die hohe Qualität unseres Gesundheitssystem verlassen und sich deshalb nicht um einen gesunden Lebensstil bemühen.

Dabei ließe sich in Deutschland leicht ein gesundes Leben führen. Es ist in jedem Fall keine Frage des Geldes. Der gruselige Inhalt des Einkaufswagens vor mir ist ja nicht billiger als gesunde Nahrungsmittel. Auch leiden Menschen mit riskantem Lebensstil in Deutschland nicht unter „Unter-Ermahnung“ oder zu wenig Informationen. Natürlich gibt es für den aufklärenden Arzt schöne Erfolge in der Prävention. Aber sehr oft erleben wir in unseren Sprechstunden massiv übergewichtige Patienten, die wirklich alles wissen – über Intervall-Fasten, Ballaststoffe, Eiweiß, Fett, schlechte und gute Kohlehydrate-, die die Bücher von Bas Kast oder die hervorragenden Artikel unseres Kollegen Matthias Riedl lesen – und danach rein gar nichts ändern. Zu den Junkfood Konsumenten gehören ja auch Ärzte.

Ernährung ist eben zu einem großen Teil auch eine Frage der tief verwurzelten Gewohnheiten und nicht nur des Wissens. Außerdem – das muss man sich als glühender Präventionsanhänger immer wieder sagen – ist die Art der Ernährung auch eine Form der individuellen Freiheit.

Es gibt deshalb nur wenige realistische Möglichkeiten, die zunehmende Adipositas-Epidemie einzudämmen. Wenn die Kinder der heutigen Übergewichtigen die Ernährungsgewohnheiten ihrer Familie tradieren, läuft die Epidemie aus dem Ruder, kommt das Gesundheitswesen an seine Grenzen.

Das Problem besteht darin, dass die Deutschen zwar gerne essen, aber anders als zum Beispiel die Franzosen zu wenig praktisches Interesse für Nahrungsmittel und ihre Zubereitung haben. Hoch verarbeitete Lebensmittel, industrielle Fertigprodukte triefend von Transfetten, Phosphaten, Glucose, Fructose, Geschmacksverstärkern und anderen Chemikalien sind die Hauptnahrungsmittel der Deutschen. Diese sind meist teurer als selbst zubereitete natürliche Speisen.

Trotzdem ist gutes Essen Lifestyle: Zu keiner Zeit waren Kochshows so populär wie heute, niemals zuvor gab es so viele Kochbücher. Doch noch nie wurde in Deutschland so wenig selbst gekocht. Stattdessen dominieren Industrieprodukte und Lieferservice, obwohl wir ja angeblich so resourcenschonend und klimaneutral sind.

Fastfood hat einen beispiellosen Siegeszug angetreten. Die Deutschen sagen „Supersize me“ nicht nur bei Mac Donalds, sondern auch in den Dönerläden. Eine weitere Paradoxie, denn wir sind gleichzeitig auch so tierlieb wie nie zuvor, vertilgen aber große Mengen von Fleisch aus Ställen mit den übelsten Haltungsbedingungen.

Geiz ist wieder geil, und es müssen auch immer große Mengen sein. Wer einmal einen Döner in Istanbul gegessen hat, weiß wie überdimensioniert der deutsche Döner ist. Damit das so bleiben kann, träumt Kevin Kühnert von einer Preisobergrenze für Döner.

Übrigens gaben die Deutschen auch noch nie so viel Geld für ihre Küchen aus. Viele sind hochglanzpolierte Luxusprodukte, die mitten im Wohnzimmer stehen. Sie erfüllen die gleiche Funktion als Statussymbol wie früher die Bücherwand in der guten Stube. Doch leider teilt oft die Wohnküche mit der Bücherwand das gleiche Schicksal: Sie steht da nur zur Dekoration und wird nicht benutzt. Dafür wäre sie zu schade.

Immer weniger Menschen beherrschen das Handwerk des Kochens. Sie kennen zwar komplizierte Rezepte aus den Kochshows, mit denen man Gäste beeindrucken könnte. Aber um täglich frisches Essen schnell auf den Tisch zu bringen, muss man die Basisfertigkeiten des Kochens automatisiert beherrschen. Wer das nicht gelernt hat, holt sich in der Arbeitswoche dann doch lieber was vom Lieferservice. So ist Kochen keine Alltagspraxis mehr, sondern eine Ausnahme für besondere Anlässe.

Abhilfe ließe sich nur schaffen, wenn diese praktischen Fähigkeiten und Fertigkeiten wieder zum Allgemeingut werden. Der Zug ist zwar bei den Erwachsenen vermutlich schon abgefahren. Aber für die nächste Generation ließe sich noch etwas gewinnen. Wenn die Jugendlichen die Kulturtechnik des Kochens zuhause nicht mehr lernen, weil die Eltern diese selbst nicht sicher beherrschen, bleibt nur die Möglichkeit, diese Fähigkeiten durch die Schule zu vermitteln. Es gibt nicht viele erfolgversprechende Mittel gegen die Adipositas Epidemie. Ein verpflichtender, effektiver Kochunterricht für jeden Schüler und jede Schülerin wäre das stärkste dieser Mittel. Ärzte müssen jetzt ganz tapfer sein: Vermutlich wird der Kampf gegen Adipositas nicht im Gesundheitswesen, sondern in der Schule entschieden.

DR. MATTHIAS SOYKA ist Orthopäde und Buchautor.
Aktuell im Buchhandel: „Dein Rückenretter bist du selbst“, Ellert&Richter / Hamburg
www.dr-soyka.de
Youtube Kanal „Hilfe zur Selbsthilfe“

In dieser Rubrik drucken wir abwechselnd Texte von Dr. Matthias Soyka, Dr. Bernd Hontschik und Dr. Christine Löber.

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