Historischer Wendepunkt
Von John Afful
Fast drei Jahrzehnte nach Einführung der ersten Budgets können hausärztliche Leistungen bald wieder vollständig bezahlt werden. Nicht alle Hausarztpraxen in Hamburg profitieren gleichermaßen vom GVSG – doch für alle wird die Entlastung deutlich spürbar sein.
Die Bedeutung der jetzt anstehenden Entbudgetierung hausärztlicher Leistungen kann man eigentlich gar nicht hoch genug einschätzen. Es ist ein historischer Moment, den wir erleben. Die ersten Budgets wurden vor fast 30 Jahren eingeführt. Die meisten in den Praxen tätigen Ärztinnen und Ärzte können sich gar nicht mehr an Zeiten erinnern, in denen vertragsärztliche Leistungen noch vollständig bezahlt wurden.
Die Hausärztinnen und Hausärzte gehören zu den Fachgruppen mit einem hohen Anteil an budgetierten Leistungen. Die Auszahlungsquote ist immer weiter abgesackt. Es waren ziemlich schwierige Rahmenbedingungen, mit denen die hausärztliche Versorgung in Hamburg während der vergangenen Jahre zu kämpfen hatte.
Eines der Hauptprobleme war die Rücknahme der Neupatientenregelung. Mit dem TSVG hatte der frühere Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die Vertragsärztinnen und Vertragsärzte dazu aufgefordert, mehr Sprechstunden anzubieten, was unter anderem durch die extrabudgetäre Vergütung der Versorgung von Neupatienten gegenfinanziert wurde.
Als die Neupatientenregelung wieder zurückgenommen wurde, entschieden sich die meisten Hausärztinnen und Hausärzte gegen eine entsprechende Reduzierung der Leistungsmenge. „Wenn jemand vor unserer Tür steht und versorgt werden muss, machen wir das“, so eine unter Hausärztinnen und Hausärzten verbreitete Haltung. Für viele Patientinnen und Patienten sind die Hausarztpraxen bei akuten Gesundheitsproblemen die erste Anlaufstelle.
Die individuelle Leistungsmenge im hausärztlichen Bereich blieb also auf einem hohen Niveau, während das Honorar für die Versorgung von Neupatienten wieder budgetiert und damit massiv gekürzt wurde. Man muss klar sagen: Das Geld wurde den Praxen vom Bundesgesundheitsminister weggenommen.
Hinzu kommt: Anders als in vielen anderen KV-Regionen gibt es in Hamburg keine dauerhaft unbesetzten Hausarztsitze. Das zur Verfügung stehende Budget musste also unter mehr Arztsitzen aufgeteilt werden als in anderen KVen. Das führte dazu, dass Hamburg schließlich bei einer Auszahlungsquote von mageren 75 Prozent landete.
Auch die Hausärztinnen und Hausärzte haben mit Inflation, gestiegenen Betriebs- und Lohnkosten zu kämpfen. Viele Inhaber hausärztlicher Praxen sagen mir derzeit: „Ich weiß gar nicht, wie ich über die Runden kommen soll. Wenn ich von meinem Umsatz die Kosten abziehe, bleibt fast nichts mehr übrig für mich.“
Wird die Entbudgetierung für die hausärztlichen Mitglieder der KV Hamburg nun tatsächlich eine spürbare Erleichterung bringen? Ja, eine deutlich spürbare. Man muss dazusagen: Die Entbudgetierung betrifft nicht alle Leistungen, die von Hausarztpraxen erbracht werden – sondern nur das hausärztliche EBM-Kapitel. Es wird weiterhin einen budgetierten Honoraranteil geben. Doch unterm Strich rechnen wir mit einer Umsatzsteigerung für die Hausarztpraxen von immerhin knapp 20 Prozent.
Nach meinem Eindruck erwartet der Gesetzgeber nicht, dass die mit den Segnungen des Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetzes (GVSG) eine Leistungsausweitung einhergeht. Den Vorspann zum Gesetzesentwurf könnte man so lesen, dass in erster Linie eine Stabilisierung der Versorgung angestrebt wird. Der Beruf des Hausarztes soll wieder attraktiver gemacht werden.
Die im Entwurf des GVSG angelegte Vergütungsreform zielt in dieselbe Richtung. Mit der einmal jährlich abrechnungsfähigen Versorgungspauschale sollen nicht notwendige Arzt-Patienten-Kontakte reduziert werden, um eine Entlastung der Praxen zu erreichen.
Die ebenfalls geplante Vorhaltepauschale soll vor allem jenen Praxen zugutekommen, die Kernaufgaben des hausärztlichen Versorgungsauftrags erfüllen. So werden Anreize gesetzt beispielsweise für die Durchführung von Haus- und Heimbesuchen sowie für die Versorgung von geriatrischen Patienten und Palliativpatienten.
Diese Konstruktion geht sicherlich zu Lasten von Ärztinnen und Ärzten auf hausärztlichen Sitzen, die nicht alle Kriterien dessen erfüllen, was landläufig als hausärztlicher Versorgungsauftrag angesehen wird. Betroffen sind Praxen, die sich spezialisiert haben – aber auch Einzelpraxen, die zwar hausärztliche Versorgung im engsten Sinne machen, aber keine Abendsprechstunden und nur in begrenztem Umfang Hausbesuche durchführen können. Alle Voraussetzungen für die Abrechnung der Vorhaltepauschale zu erfüllen, wird größeren Praxen und MVZ wesentlich leichter fallen.
Vor diesem Hintergrund und in Abetracht des Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetzes (KHVVG), das unter bestimmten Voraussetzungen eine Öffnung der Krankenhäuser für die hausärztliche Versorgung vorsieht, wird man wohl sagen müssen: Der Bundesgesundheitsminister hat eine Neigung dazu, hausärztliche Versorgung in Zentren zu organisieren. Eine Stärkung der wohnortnahen Versorgung in kleineren Einheiten ist ihm offenbar kein Anliegen.
Allerdings: Angesichts der Dimension an Honorarzuwächsen, die hier in Hamburg mit der Entbudgetierung einhergehen, fallen die Effekte der Vorsorge- und der Vorhaltepauschale nicht allzu stark ins Gewicht. Unterm Strich werden alle Hausärztinnen und Hausärzte vom GVSG profitieren.
Es ist in der Hamburger Hausärzteschaft noch immer ein hohes Maß an Skepsis gegenüber dem GVSG vorhanden. Das ist verständlich: Auch die Kinderärztinnen und Kinderärzte haben nicht an eine echte Verbesserung durch die Entbudgetierung geglaubt, bevor das Geld tatsächlich auf ihrem Konto war.
Sobald die Entbudgetierung der hausärztlichen Leistungen beschlossen ist und ein Hausarzt sofort davon profitieren möchte, kann er seine Vorauszahlung anpassen lassen. Die Vorauszahlung beträgt ein Viertel des zu erwartenden Umsatzes. Wenn abzusehen ist, dass der Umsatz um knapp 20 Prozent steigt, kann man natürlich eine entsprechend höhere Vorauszahlung beantragen. Niemand muss warten, bis er seinen ersten „entbudgetierten“ Honorarbescheid bekommt.
Das Tor zur Entbudgetierung ist aufgestoßen. Nun müssen wir auch für die spezialisierte Versorgung eine vollständige Bezahlung der erbrachten Leistungen durchsetzen. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit – und eine realistische Strategie, um (im Zusammenhang mit einer effektiven Patientensteuerung) die ambulante Versorgung insgesamt zukunftsfest zu machen.
JOHN AFFUL
Vorsitzender der KV Hamburg