7-8/2023 7-8/2023

Nachgefragt

Erleben Sie eine Zunahme brenzliger Situationen im Praxisalltag?

Strukturelles Problem

Anzahl und Intensität bedrohlicher Situationen haben in unserem MVZ in Billstedt deutlich zugenommen. Das hat verschiedene Ursachen: Manchmal haben die Patientinnen und Patienten übersteigerte Erwartungen an die Versorgung in einem solidarisch finanzierten Gesundheitssystem – und reagieren wütend, wenn ihre Wünsche nicht erfüllt werden. Es gibt offenbar immer mehr Personen, die meinen, massiv auftreten zu müssen, um überhaupt wahrgenommen und gehört zu werden. Zu diesem Mentalitätswandel kommt allerdings ein strukturelles Problem: Die kinderärztliche Versorgung in Billstedt bricht weg. Wir versorgen 2000 Kinder, doch die Nachfrage ist etwa drei Mal so hoch. Wenn es Termine in ausreichendem Umfang gäbe, wenn jeder Vater und jede Mutter in Billstedt wirklich sicher sein könnte, dass sein oder ihr Kind verlässlich versorgt wird, würde die Anspannung und Gereiztheit in unserm MVZ sofort zurückgehen. Ich schätze, dass wir dann etwa 50 Prozent weniger Probleme mit Beschimpfungen und Drohungen hätten.

Dr. med. Bastian Steinberg,
praktischer Arzt und Palliativmediziner und Inhaber des MVZ ProCura Familienmedizin Billstedt

Erosion der Versorgung

Es gibt mehr Konflikte in unserer Praxis als früher. Das hat auch etwas mit der Erosion der kinderärztlichen Versorgung hier in Jenfeld zu tun. Und ich muss leider sagen: Die KV tut nicht genug, um gegenzusteuern. Freie Arztsitze landen nicht in den Gegenden mit dem höchsten Bedarf – sondern dort, wo es ohnehin schon eine bessere Arzt-Versorgung gibt. Unsere Praxis kann nicht alle Kinder der weiteren Umgebung versorgen. Wir nehmen aktuell keine neuen Patienten mehr auf, müssen immer wieder Eltern abweisen. Ein Problem im Praxisalltag ist, dass viele Familien nicht so gut Deutsch sprechen. Die Abläufe werden oft nicht verstanden, es gibt Missverständnisse. Außerdem spüren auch die von uns versorgten Patienten den strukturellen Mangel, weil Termine knapp sind. Den Unmut darüber bekommen wir ab. Dabei ist es doch eigentlich die Aufgabe der KV, annehmbare Rahmenbedingungen für die Praxen in schlechter versorgten Stadtteilen zu schaffen.

Sven Dade,
Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin in Jenfeld

Steigende Gereiztheit

Wir stellen fest, dass die Geduld der Eltern in unserer Praxis deutlich nachgelassen hat. Die eigenen Bedürfnisse und Ansprüche werden stärker in den Vordergrund gestellt, was manchmal zu unangenehmen Diskussionen führen kann. Über die Gründe für die steigende Gereiztheit kann ich nur spekulieren: Die Corona-Zeit hat viele Familien stark belastet. Sicherlich hat auch die Gesundheitskompetenz der Eltern abgenommen, was dazu beiträgt, dass die Sorge um die Gesundheit der Kinder überdimensioniert groß geworden ist und jedes Problem sofort abgeklärt werden muss. Die Informationsflut im Internet verunsichert die Eltern zusätzlich. Wir haben mit unseren MFA vereinbart: Wenn jemand an der Anmeldung uneinsichtiges und unverschämtes Verhalten an den Tag legt und sich nicht beruhigen lässt, kommen wir Ärztinnen und Ärzte dazu. Das hat Priorität, wir lassen uns in einem solchen Fall auch aus einer laufenden Behandlung holen. In der Regel genügt das, um die Situation zu entschärfen.

Dr. med. Charlotte Schulz,
Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin in Hoheluft-Ost