Deeskalations-Strategien in der Praxis
Von Andreas Schaupp
Wie schützen sich Praxismitarbeiter vor bedrohlichen Situationen? Die gemeinsame Erarbeitung von Regeln und Anti-Gewalt-Maßnahmen hilft dabei, die Sicherheit im Arbeitsalltag zu erhöhen.
Wenn sich Praxen auf bedrohliche Situationen im Arbeitsalltag vorbereiten wollen, ist es empfehlenswert, eine Strategie im Team zu entwickeln. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter setzen sich zusammen und definieren zunächst einen Katalog mit Verhaltensregeln.
Dabei geht es auch um Ansprüche, die das Team an sich selbst stellt: „Wie wollen wir mit den Patientinnen und Patienten umgehen?“ Die Antwort könnte sein: „Freundlich, aufmerksam und hilfsbereit.“
Doch es gibt natürlich auch berechtigte Erwartungen des Praxisteams an das Verhalten der Patientinnen und Patienten. Und da wären diese Grundregeln naheliegend: „Wir erwarten, dass die Patientinnen und Patienten uns gegenüber höflich sind. Wir erwarten, dass sie Anweisungen befolgen und sich reibungslos in den Praxisbetrieb einpassen.“ Das Praxisteam sollte auch eine rote Linie festlegen: Wenn ein Patient etwas lauter und erregt spricht, ist das wohl noch zu akzeptieren. Die rote Linie wird aber überschritten, wenn der Patient eine Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter anschreit. Wenn er beleidigend wird, wenn er herabsetzende oder rassistische Bemerkungen macht. Wenn er Gewalt androht oder sogar tätlich wird.
Das Praxisteam sollte sich im Rahmen der Entwicklung einer Strategie gegen bedrohliche Situationen mit verschiedenen Aspekten der Deeskalation auseinandersetzen. Dabei hilft ein Modell, das in vielen Fortbildungen und Seminaren herangezogen wird und sich in der Praxis bewährt hat.
Die erste Stufe dieses Modells umfasst Maßnahmen, die bereits im Vorfeld ansetzen: Wie lässt sich die Entstehung von Gereiztheit, Unmut und Aggression verhindern? Beispielsweise ist es hilfreich, sich zu überlegen, wie eine freundliche, professionelle Kommunikation in den Standardsituationen des Praxisalltags auszusehen hat.
Dazu gehört beispielsweise, die Person an der Anmeldung so früh wie möglich zu registrieren. Die Praxismitarbeiterin stellt Augenkontakt her, spricht höflich, lässt vielleicht den Namen einfließen: „Vielen Dank, Herr Meyer, bitte setzen Sie sich noch ins Wartezimmer.“
Falls die Praxismitarbeiterin abschätzen kann, wie lange die Wartezeit wird, sollte sie das kommunizieren. Der Patient kann sich dann darauf einstellen und entwickelt keine unrealistischen Erwartungen.
Wenn eine Praxis die Möglichkeit hat, ihre telefonische Erreichbarkeit zu verbessern, ist das eine echte Konflikt-Prävention. Personen, die ein gesundheitliches Problem oder eine Fragestellung haben und die Praxis über ein bis zwei Stunden telefonisch nicht erreichen können, kommen vielleicht persönlich vorbei – und stehen mit aufgestautem Frust und Ärger am Tresen. Solche Situationen zu allseitiger Zufriedenheit aufzulösen, ist nicht einfach.
Auf der nächsten Stufe des Deeskalationsmodells geht es um die Frage: Warum verhalten sich Patientinnen und Patienten aggressiv? Die Menschen, die in die Praxis kommen, sind in der Regel ein bisschen angeschlagen. Sie sind vielleicht verunsichert, haben Ängste und fragen sich: Werde ich mit meinem Problem ernst genommen? Bekomme ich die Hilfe, die ich brauche? Was das Praxisteam von diesen Menschen zu sehen bekommt, ist also oftmals nicht die beste, souveränste und entspannteste Version ihrer selbst. Sich dies zu vergegenwärtigen, kann dabei helfen, ungeduldiges oder gereiztes Verhalten von Patientinnen und Patienten besser einzuordnen.
Am häufigsten haben es Praxisteams mit expressiver Aggression zu tun – also mit aggressivem Verhalten aufgrund von Angst oder Verzweiflung. Daneben gibt es auch instrumentelle Aggression – also aggressives Auftreten, das darauf ausgerichtet ist, etwas zu erreichen: Jemand möchte heute noch einen Termin bekommen oder möchte zum Arzt vorgelassen werden.
Auch wenn die Person einfach nur einen unbeherrschten und aggressiven Charakter zu haben scheint: Man sollte niemals gänzlich ausschließen, dass hinter seinem Auftreten ein nachvollziehbares Anliegen steckt.
Eine weitere Stufe des Deeskalationsmodells umfasst Strategien und Kommunikationstechniken, die dabei helfen, angespannte Situationen zu beruhigen. Ein Beispiel: Ein Patient kommt aus dem Wartezimmer an den Tresen und beschwert sich erregt: „Ich warte jetzt schon eine Dreiviertelstunde. Mein Folgetermin ist geplatzt. Was ist denn eigentlich los hier in der Praxis? Warum können Sie Ihre Termine nicht einfach einhalten?“ Wenn die Praxismitarbeiterin auf der Sachebene reagiert und sagt: „Moment, ich schau nach, woran es liegt“, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass dieses Gespräch nicht gut verläuft. Warum? Weil der Patient sein Anliegen nicht auf der Sachebene, sondern auf der Beziehungsebene geschildert hat. In diesem Fall ist ein kleiner Zwischenschritt nötig: Die Mitarbeiterin sollte die Beschwerde auf der Beziehungsebene annehmen und zunächst Verständnis signalisieren: „Tut mir leid, dass Sie warten mussten. Ich kann verstehen, dass Sie sich ärgern.“
Das genügt meist schon, um die Wogen zu glätten. Danach kann die Mitarbeiterin den Patienten auf die Sachebene mitnehmen: „Wir schauen gleich mal nach, woran es liegt.“ Dieser gemeinsame Schritt von der Beziehungsebene auf die Sachebene wird selten gemacht, ist aber sehr effektiv.
Nehmen wir an, der Patient an der Anmeldung wird immer ungehaltener – die rote Linie ist aber noch nicht überschritten. Wie gehe ich damit um? Wie vermeide ich, dass die Situation weiter eskaliert? Ungünstig ist immer, wenn der Patient auf die Mitarbeiterin herabsehen kann. Deshalb sollte man aufstehen. Es ist wichtig, ruhig und gelassen zu bleiben, das eigene Sprechtempo normal zu halten und sich nicht von der Aggression anstecken zu lassen. Idealerweise sollte man den Patienten mit Namen ansprechen: „Herr Meyer, bitte achten Sie auf Ihren Ton.“ Man signalisiert dem Patienten auf eine freundliche aber sehr bestimmte Art: Es ist unangemessen, laut zu werden.
Vielleicht haben die Praxismitarbeiterinnen und Praxismitarbeiter vereinbart, mit kritischen und potenziell bedrohlichen Situationen nicht alleine, sondern immer mindestens zu zweit umzugehen. Die betroffene Praxismitarbeiterin sagt dann: „Moment, ich hole eine Kollegin dazu.“
Wenn die Kollegin von sich aus bemerkt, dass es einen Konflikt gibt, sollte sie hingehen und unterstützen. Es ist eine andere Konstellation, wenn der aufbrausende Patient nicht einer, sondern zwei oder drei Mitarbeiterinnen gegenübersteht. Vielleicht dachte er zuerst: „Na, die kann ich jetzt mal kleinmachen.“ Daraus wird nichts, wenn die Kolleginnen zeigen, dass sie zusammenstehen.
Was passiert, wenn ein Patient die rote Linie überschreitet? Wenn er eine Praxismitarbeiterin beschimpft und beleidigt? Immer ruhig bleiben. Nicht selbst aufbrausen und nicht zurückschimpfen. Die Mitarbeiterin kündigt an: „Wir werden jetzt die Praxisleitung hinzuziehen.“
Bis zur roten Linie können die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Regel die Konflikte sehr gut selbst managen. Ist die rote Linie überschritten, geht es auch um das Hausrecht. Dann sollte die Ärztin oder der Arzt hinzukommen, und sie oder er diskutiert nicht lange, sondern stellt sich auf die Seite des Teams und macht eine klare Ansage: „Herr Meyer, wenn Sie hier behandelt werden wollen, möchte ich Sie bitten, mit meiner Mitarbeiterin ordentlich zu sprechen. Ansonsten würde ich Sie bitten, unsere Praxis zu verlassen.“
Der Auftritt von Ärztinnen oder Ärzten zeigt oftmals deutliche Wirkung. In der Arztpraxis gibt es ja zwei Welten. Patienten, die an der Anmeldung ihren gesamten Ärger und ihre gesamte Wut abladen, können im Sprechzimmer unversehens zur Liebenswürdigkeit in Person werden. Diese Trennung der Welten sollte aufgehoben werden, indem sich die Ärztin oder der Arzt ganz eindeutig vor das Team stellt.
All diese Vorgehensweisen müssen vorher besprochen und vereinbart werden. In Praxen, in denen verlässliche Regeln gelten, können die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Tresen viel souveräner agieren, weil sie wissen: Es gibt Joker, die ich ziehen kann, wenn ich in Bedrängnis komme.
Wenn der Patient trotz Aufforderung die Praxis nicht verlässt oder wenn er gewalttätig zu werden droht, bleibt nichts anderes übrig, als die Polizei zu rufen.
Ein weiterer Teil des Deeskalationsmodells beschäftigt sich mit der Abwehr von körperlichen Angriffen. Sich auf körperliche Auseinandersetzungen vorzubereiten, ist im Rahmen von Kursen und Seminaren, die nur wenige Stunden dauern, kaum möglich. Immerhin kann man eine spezielle Körperhaltung trainieren, um mentalen Gegendruck aufzubauen und einen Angreifer eventuell aufzuhalten. Dabei streckt man dem Angreifer einen Arm mit der aufgestellten Handfläche entgegen und ruft laut und sehr nachdrücklich: „Stopp!“. Die „Stopp-Haltung“ setzt eine Grenze und schafft Distanz.
Sofern man sich nicht im Sprechzimmer oder in einer anderen Eins-zu-eins-Situation befindet, ist damit auch Öffentlichkeit hergestellt, was das Risiko für den Angreifer erhöht und ihn deshalb möglicherweise zum Rückzug veranlasst.
Bei der letzten Stufe des Deeskalationsmodells geht es um die Nachbesprechung einer bedrohlichen Situation in der Praxis. Beschimpfungen und Gewalt sind belastend. Hat es in einer Praxis solche Vorkommnisse gegeben, müssen sie im Rahmen einer Teamkonferenz diskutiert werden. Wie haben wir auf diese Situation reagiert? Was lief gut? Was lief schlecht? Vorwürfe oder Schuldzuweisungen sind bei solchen Nachbesprechungen fehl am Platz. Es geht darum, sich gegenseitig zu unterstützen und in einem konstruktiven Geist zu diskutieren, was beim nächsten Mal besser gemacht werden kann.
Wichtig ist, dass die Mitglieder des Praxisteams wissen: Sie sind nicht alleine und werden auch nicht alleine gelassen.
ANDREAS SCHAUPP
ist Geschäftsführer der DeltaMed Süd – Unternehmensberatung im Gesundheitswesen www.deltamedsued.de
Die KV Hamburg bietet im Herbst Seminare zum Umgang mit aggressiven Patienten an, in denen Deeskalationstechniken vorgestellt und trainiert werden. Wir werden über die Termine informieren.