Was hat Alstertal, was Jenfeld nicht hat?
VON NURAY CAN
Warum ich mich lieber in einem schlechter versorgten Stadtteil niederlasse
Als ich mich für eine Niederlassung entschied, war der Standort zunächst nicht von Bedeutung. Doch bei der Besichtigung einer Praxis in Winterhude, in deren Nähe es noch viele weitere gab, stellte ich fest, dass ich dort gar nicht gebraucht wurde. Mir wurde bewusst, dass ich als Ärztin dort erreichbar sein möchte, wo die Patienten von meinem Migrationshintergrund profitieren können. Auch die Nähe zu meiner Wohngegend, deren Strukturen ich kenne, ist mir wichtig. Eine Art Landärztin am Stadtrand, so stelle ich mir das vor.
Zunächst sollte meine Praxis neben meinem Haus in Jenfeld entstehen, doch die Räume wurden nicht rechtzeitig frei. Stattdessen fand ich geeignete Flächen im Einkaufszentrum Jenfeld, einem unschönen, in die Jahre gekommenen Gebäudekomplex. Derzeit bauen wir noch um, die Praxis soll im Spätsommer eröffnet werden.
Ich konnte zwei halbe Kassenarztsitze aus Rahlstedt übernehmen. Eine Verlegung von Sitzen in schlechter versorgte Stadtteile ist unabhängig von der Distanz stets möglich – das hatte ich bei einer Fortbildung zu Praxisabgabe und -übernahme gelernt. Der Versorgungsgrad mit Hausärzten liegt in Jenfeld bei 75 Prozent. Die Idee, hier eine Praxis zu eröffnen, entstand auch durch die reale Notwendigkeit der Verbesserung der hausärztlichen Versorgung.
Etwa 13 Kilometer weiter nördlich des Einkaufszentrums Jenfeld liegt das Alstertal-Einkaufszentrum. Als ich dort vor einigen Monaten zum ersten Mal für das mobile Impfteam im Einsatz war, staunte ich über dessen Schönheit und außerordentlich gepflegte Umgebung.
Ich fragte mich: Was hat Alstertal, was Jenfeld nicht hat? Und ich beschloss, mich für die Steigerung der Attraktivität Jenfelds einzusetzen. Dazu gehört die Eröffnung meiner Praxis. Um auch für die unmittelbare und weitere Umgebung Verbesserungen zu erreichen, möchte ich mich zudem in der Interessengemeinschaft der Gewerbetreibenden in Jenfeld engagieren.
„Mama, ich finde das sehr gut, dass du Ärztin geworden bist, denn wenn wir krank sind, weißt du immer, was zu tun ist“, sagte mein achtjähriger Sohn neulich zu mir. Die Entscheidung, Ärztin zu werden, war also richtig. Als ich 15 Jahre alt war, erkrankte meine Großmutter und musste in einem türkischen Vorort ins Krankenhaus. Ein Kinderarzt hatte Nachtdienst, und mein Großvater musste erst zur Apotheke fahren, um ihr die lebensrettende Infusion zu kaufen. Meine Großmutter verstarb in dieser Nacht. Neben meiner Trauer ärgerte ich mich über diese Umstände und war wütend. Wäre Großmutter in der Stadt oder in Deutschland geblieben, wäre sie noch am Leben, dachte ich. Ich entschied mich, Ärztin zu werden und es besser machen zu wollen.
Als ich im PJ war, hatte ich den Traum, ein Gesundheitszentrum zu gründen, in dem Gesundheits- und Ernährungsberatung sowie Sportkurse und Reha angeboten werden. Der Gesundheitskiosk Billstedt/Horn, den ich während der Pandemie als Impfärztin kennenlernte, kommt diesem Konzept sehr nahe. Der Gesundheitskiosk verbessert die Gesundheitsversorgung in ärmeren, benachteiligten Stadtteilen – und unterstützt die umliegenden Praxen, weil er bei zahlreichen Fragestellungen die umfassende nichtärztliche Beratung übernimmt. Eine Ausweitung der Zahl der Gesundheitskioske ist derzeit geplant und erwünscht. Auch die Eröffnung eines Gesundheitskiosks in Jenfeld wird diskutiert, worüber ich mich sehr freue.
Was sind die Gründe dafür, dass sich Ärzte in bestimmten Stadtteilen niederlassen? Man kann sicherlich davon ausgehen, dass die Niederlassung dort erfolgt, wo mit einer erfolgreichen Praxisführung gerechnet werden kann. Eine Praxis ist letztendlich auch ein Unternehmen. Doch maximale Gewinnerzielung ist für die Wahl des Praxisstandorts nur selten ausschlaggebend – das zeigt eine von mir durchgeführte Umfrage unter fast hundert Hamburger Hausärzten. Nur eine Person stimmte der Aussage zu: „Die Standortwahl erfolgte hier, weil es lukrativer erscheint.“ Die wichtigsten Kriterien für die Wahl des Niederlassungsorts sind meiner Umfrage zufolge die Liebe zum Stadtteil und die Nähe zum eigenen Wohnort.
Das deckt sich weitgehend mit meinen eigenen Präferenzen und Erfahrungen.
Als Ärztin in Weiterbildung habe ich eineinhalb Jahre in einer Praxis in Uhlenhorst gearbeitet. Später war ich lange in einer Praxis in Tonndorf angestellt, wo ich auch viele Jenfelder Patienten versorgte. Den Umgang mit Patienten aus ärmeren Gegenden empfand ich als sinnvoll und erfüllend. Ich wünsche mir, dass weitere ärztliche Kolleginnen und Kollegen nach Jenfeld kommen und die Versorgung der Patienten durch kurze Wege im fachärztlichen Austausch verbessert wird. Vielleicht lernen sie den Stadtteil lieben, wenn sie feststellen, dass sie hier gebraucht werden, und ihnen Menschen begegnen, die freundlich, genügsam und dankbar sind.
NURAY CAN
Fachärztin für Allgemeinmedizin