Wenn soziale Probleme hinzukommen
VON NURAY CAN
Ein Hamburger Projekt bringt Sozialberatung direkt in die Hausarztpraxis – und überwindet damit Hürden, die vielen Menschen bislang den Zugang zur Hilfe erschwerten.
Die Idee, Sozialberatung in die hausärztliche Versorgung zu integrieren, wurde bereits von verschiedenen Seiten angedacht – wie den Hausärztinnen Dr. Christine Schroth der Zweite und Dr. Jana Husemann, die sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln für derlei Strukturen starkgemacht haben. Als ich dann über einen persönlichen Kontakt mit Tobias Münster, dem Geschäftsführer der Hamburger Arbeit, ins Gespräch kam, ergab sich die Gelegenheit, die gemeinsame Idee endlich konkret umzusetzen.
Ich gehöre dem erweiterten Vorstand des Hamburger Hausärzteverbandes an, der das Projekt von Beginn an unterstützte. Gemeinsam mit der wissenschaftlichen Begleitung durch Jana Husemann und der Anbindung an das IPA (Institut und Poliklinik für Allgemeinmedizin) am UKE wurde das Vorhaben von Anfang an evaluiert – eine wichtige Voraussetzung, um langfristige Unterstützung durch die Hamburger Sozialbehörde zu erhalten.
Das Vertrauen ist bereits da
Es ist entscheidend, dass die Sozialberatung direkt in der Hausarztpraxis erfolgt. Denn oftmals kennen die Menschen die Angebote nicht oder scheuen den Gang zu einer Beratungsstelle. In der Hausarztpraxis hingegen gibt es bereits ein Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patienten. Die Menschen berichten in der Sprechstunde über ihre Lebensumstände, über Sorgen und Notlagen: „Ich bekomme aktuell Krankengeld und weiß gar nicht, was danach passiert“, „Mir wird das alles zu viel.“ Wenn die Sozialberatung direkt vor Ort in der Praxis angeboten wird, fällt der erste Schritt leichter.
Am Pilotprojekt waren sechs Hausarztpraxen beteiligt. In meiner Praxis in Jenfeld fand die Beratung jeweils Dienstag und Mittwoch zwischen 9 und 13 Uhr in einem gesonderten Raum statt. Unser Sozialberater Olaf Eschke führte sechs bis acht Gespräche pro Woche. Er nennt sich selbst gern Krisenlotse, wenn er versucht, den Menschen Struktur und einen Plan zu geben, um sie aus der Sackgasse zu lotsen. Nach der Beratung hatten sie mehr Hoffnung und Zufriedenheit – was sich positiv auf ihre Gesundheit auswirkt. Ich bin beeindruckt von dem Projekt, weil es zeigt, wie hoch für meine Patienten der Mehrwert einer Zusammenarbeit zwischen mir als Ärztin und dem Sozialberater ist.
Themen der Sozialberatung
Die Sozialberatung in der Hausarztpraxis unterstützt bei einer Vielzahl von Themen, die für die Lebensqualität und soziale Absicherung der Menschen entscheidend sind wie etwa
Beantragung von Sozialleistungen (Grundsicherung, Wohngeld) oder Klärung von Ansprüchen gegenüber Krankenkassen
Renten- und Erwerbsminderungsanträgen
Reha-Anträgen
Beratung bei Arbeitsplatzverlust, beruflichen Sorgen und arbeitsrechtlichen Fragen
Hilfe bei Wohnungslosigkeit und sozialen Notlagen
Schuldnerberatung und finanzieller Stabilisierung.
Kooperationen als Schlüssel
Ich setze auf Vernetzung und plädiere stets dafür, dass verschiedene Institutionen und Organisationen zusammenarbeiten. Zuletzt war ich bei einer Veranstaltung des UKE zu einem türkischsprachigen Lotsendienst für Onkologie-Patienten. Ich schlug vor, dass die Berater mobil zu uns in die Praxis kommen, denn für unsere Patienten in Jenfeld ist der Weg ins UKE oft sehr weit. Auch das Projekt QplusAlter hat Interesse bekundet, in unserer Praxis Senioren ab 65 Jahren zu beraten. Es ist großartig, wie eine Idee die Tür für weitere Projekte öffnet, und wir so auf diesem Weg verschiedene Beratungsangebote für unsere Patienten zugänglich machen können.
Die Zukunft der Sozialberatung
Schon während meines PJ träumte ich davon, ein Gesundheitszentrum zu eröffnen, in dem verschiedene Gesundheits- und Sozialangebote zusammengefasst sind. Der Traum nimmt Gestalt an und ist nun ein greifbares Ziel.
Die Pilotphase des Projekts zur Sozialberatung lief über sechs Monate. Bei der Auswertung durch das IPA gaben Patienten ein durchweg positives Feedback. Meist konnten die Berater zusammen mit den Patienten schnell und unkompliziert eine Lösung finden – in 75 Prozent der Fälle schon im ersten Gespräch. Die Ergebnisse der Auswertung werden in einer wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht.
Die Hamburger Regierungsparteien haben in ihrem Koalitionsvertrag bereits angekündigt, dass sie innovative Modellprojekte wie die Sozialberatung in hausärztlichen Praxen unterstützen werden. Deshalb sind wir sehr zuversichtlich, dass das Projekt fortgeführt und ausgeweitet werden kann.
NURAY CAN
Fachärztin für Allgemeinmedizin in Jenfeld