»Das muss man gelernt haben«
Interview
Was leistet ein Primärarztmodell? Prof. Dr. Martin Scherer erklärt, wie eine zentrale Steuerungsinstanz Ordnung ins System bringen könnte – und warum Patientinnen und Patienten nicht selbst am besten wissen, welche medizinische Versorgung sie benötigen.
Laut Koalitionsvertrag setzt die neue Regierung auf ein verbindliches Primärarztsystem. Was sagt die wissenschaftliche Evidenz zu diesem Projekt?
scherer: Nationale und internationale Studien zeigen, dass eine konsequente hausärztliche Steuerung die Versorgung verbessert – insbesondere die Versorgung vulnerabler Gruppen. Krankenhausaufenthalte können vermieden, die Anzahl der Notfallbehandlungen kann verringert und die Behandlungskontinuität gesteigert werden. In unserem derzeitigen System fehlt eine solche Steuerungsinstanz. Bei Patienten mit sechs oder sieben chronischen Krankheiten sollten sich nicht sechs oder sieben Spezialisten darüber streiten müssen, wer der steuernde Arzt ist. Und ich beobachte, dass auch jüngere Patientinnen und Patienten mehr Steuerung bräuchten. Viele von ihnen haben Gesundheitsängste – was dazu führt, dass sie manchmal drei oder vier Praxen hintereinander aufsuchen und entsprechende Mengen an Röntgenbildern, MRT und Meinungen zum selben Problem sammeln. Da gibt es viel Überversorgung.
Das könnte ein Primärarztsystem verhindern?
scherer: Ja, sicher. Offenbar gibt es viel Unwissenheit darüber, was primärärztliche Koordination bedeutet. Es ist eine Aufgabe, die weit über das Schreiben von Überweisungen hinausgeht. Man muss die Kompetenz haben, mit einem „unausgelesenen“, also nicht vorgefilterten Patientenkollektiv umzugehen: Ist „abwartendes Offenlassen“ indiziert? Handelt es sich um einen abwendbar gefährlichen Verlauf? Zu den Inhalten der primärärztlichen Koordination gehören das Impfmanagement, die umfassende Prävention, das Poly- oder Multimedikationsmanagement, die psychosomatische Grundversorgung, Umgang mit Multimorbidität, Palliation, Haus- und Heimbesuche, Case Management, sozialmedizinische Aspekte. Und es geht darum, den Einsatz von Ressourcen zu koordinieren und Überversorgung zu vermeiden – wozu auch der Schutz vor nicht-nützlicher Medizin gehört. All das sind Kompetenzen, die man gelernt haben muss.
Gibt es denn genug Ärztinnen und Ärzte in Hamburg, die solche Kompetenzen haben?
scherer: Es werden immer mehr. Aber natürlich brauchen wir eine weitere Stärkung des hausärztlichen Bereichs. Ich halte es beispielsweise für nötig, über eine Bedarfsplanung in der Weiterbildung nachzudenken. Es kann nicht sein, dass wir es dem Zufall überlassen, wie viele der nachrückenden Ärztinnen und Ärzte am Ende in diesen wichtigen primärversorgenden Bereich gehen. Insgesamt sind wir auf einem guten Weg. Wir haben das Kompetenzzentrum Weiterbildung, das in Kooperation mit der KV und der Ärztekammer betrieben wird. Die Anzahl der Ärztinnen und Ärzte, die sich für eine Weiterbildung in der Allgemeinmedizin entscheiden, steigt an. Wir sollten allerdings dafür sorgen, dass sich die Hausärztinnen und Hausärzte mehr auf das konzentrieren können, wofür sie durch fünf Jahre Weiterbildung qualifiziert wurden. Dafür ist es nötig, nicht-ärztliche medizinische Fachkräfte stärker einzubinden und kluge Delegationsmodelle zu entwickeln.
Im Papier der Arbeitsgruppe Gesundheit, das Grundlage für das entsprechende Kapitel im Koalititionsvertrag war, werden die Einsparmöglichkeiten durch die Einführung eines Primärarztsystems mit 500 Millionen Euro jährlich aufwachsend beziffert. Ist das realistisch?
scherer: Ich würde sagen, das ist ziemlich konservativ gerechnet. Kennen Sie das Lied über „Daisy and her boyfriends“? Da heißt es: „And she found one to make her happy, one to make her sad, one to give a good love that she never had.“ Es geht um eine Frau, die für jedes ihrer Bedürfnisse einen anderen Partner hat. Die Deutschen konsultieren im Schnitt etwa 1,7 Hausärzte. Als Mitglieder einer Solidar-Gemeinschaft können wir uns aber nicht erlauben, für jedes Sonderbedürfnis einen anderen Hausarzt heranzuziehen: einen, der Überweisungen ausschreibt, einen, der gut zuhören kann, einen, der eine tolle Akupunktur macht und einen, der anstandslos Physiotherpie verordnet. Ich sehe in meiner Praxistätigkeit stabile chronisch kranke Patienten, die zu acht Fachärzten im Jahr gehen, um sich einen stabilen Befund immer und immer wieder neu bestätigen zu lassen. Bei Mehrfachkonsultationen in der gleichen Sache oder bei nicht notwendiger Medizin gibt es erhebliche Einsparpotenziale. Wir wissen, dass in der hausärztlichen Praxis 80 Prozent der Patienten-Probleme voll und abschließend gelöst werden können. Natürlich muss man überlegen, wie ein Primär-Versorgungsmodell konzipiert sein muss, damit es Wirkung zeigt. Die hausarztzentrierte Versorgung (HZV) ist hierfür ein gutes Beispiel. Ein Primärarztsystem funktioniert nur mit verbindlicher Einschreibung. Außerdem brauchen wir durchdachte Patientenpfade. Und wir brauchen lokale Netzwerke, um Patientinnen und Patienten gezielt an Spezialisten weitervermitteln zu können. Mit einem Überweisungsvorbehalt alleine ist es nicht getan. Sonst stehen die Patientinnen und Patienten am Anfang des Quartals in der Praxis und wollen zehn Überweisungen haben.
Haben Bonus-Systeme oder Kostenbeteiligungs-Modelle eine steuernde Wirkung?
scherer: Die Evidenz zeigt, dass positive Anreize besser wirken als Strafmaßnahmen oder Strafgebühren. Diese Erkenntnis kann man nutzen, indem man Patienten, die einen als sinnvoll definierten Versorgungspfad einhalten, einen Bonus anbietet.
Eines der Hauptargumente gegen ein Primärarztsystem ist: Die Patientinnen und Patienten wissen schon selbst, welche medizinische Versorgung sie benötigen.
scherer:
Kürzlich war ein Ehepaar bei mir, beide über 70 Jahre alt, beide topfit. Die beiden gehen einmal im Jahr zum Kardiologen und lassen ein Herzecho machen. Andere Patienten sagen: Ach, ich hatte schon lange kein MRT mehr, ich bräuchte mal wieder eines. Das ist ein verbreitetes Phänomen: Patientinnen und Patienten haben ein tiefes Bedürfnis, sich ihre Gesundheit immer wieder bestätigen zu lassen. Unser Gesundheitssystem begrenzt das nicht, und wir Ärztinnen und Ärzte sind ziemlich freigiebig mit technischen Untersuchungen: Röntgen, MRT, CT, Endoskopien, Ultraschall. Wenn viele diagnostische Leistungen auf Grundlage einer fraglichen Indikation erbracht werden, produziert das viele Normalbefunde. Dazu hat sich noch eine Kontrolluntersuchungs-Kultur entwickelt. Natürlich gibt es kontrollbedürftige Befunde. Aber Patientinnen und Patienten wollen auch gerne, dass Normalbefunde kontrolliert werden – wieder und wieder. Das ist nicht sinnvoll. Wenn ich einen Normalbefund habe und danach keine Klinik und keine Symptomatik, muss ich es irgendwann einfach mal gut sein lassen. Also, um Ihre Frage zu beantworten: Nein, viele Patientinnen und Patienten wissen nicht selbst, welche medizinische Versorgung sie benötigen. Das können sie auch gar nicht wissen. Deshalb liegt die Lösung in einer guten Aufklärung und einer nachfolgenden, partizipativen Entscheidung mit der Hausärztin.
Interview: Martin Niggeschmidt
Literatur:
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