Wir sind in der Verantwortung
Von Dr. Gerd Fass
Die Praxisklinik Mümmelmannsberg muss renoviert werden. Das gefährdet ein traditionsreiches Projekt der Hamburger Ärzteschaft zur Versorgung des Stadtteils. Welche Zukunftsszenarien sind denkbar?
Die Praxisklinik Mümmelmannsberg ist seit Jahrzehnten der zentrale Anlaufpunkt für die medizinische Versorgung des Stadtteils. Doch das Gebäude wird älter, der energetische Zustand ist unzureichend. Immer wieder gibt es Diskussionen, ob eine Renovierung im laufenden Betrieb möglich ist oder ob die medizinischen Einrichtungen umziehen müssen.
Die Unsicherheit über die Zukunft des Gebäudes erschwert Investitionen. Viele der in der Praxisklinik niedergelassenen Praxen geraten durch erdrückend hohe Betriebskosten und die schwierige Honorarsituation in Bedrängnis.
Dieser Artikel beleuchtet die Probleme des Projekts und skizziert mögliche Lösungsszenarien.
Projekt der Ärztinnen und Ärzte
In den 1970er Jahren entstand im Osten Hamburgs ein neuer Stadtteil: Mümmelmannsberg, damals 20.000 Einwohner. Kaum Privatpatienten, hohe Morbidität, viele Kinder und Jugendliche.
Die KV Hamburg betrieb in dieser Zeit aktive Strukturpolitik, um einem Versorgungsgefälle zwischen den wohlhabenden und ärmeren Gebieten innerhalb Hamburgs entgegenzuwirken.
Sie gewährte Zuschüsse für Praxen in schwachversorgten Gebieten. Und sie gründete als privatrechtliche Gesellschaft den "Hamburger Ärztefonds", um Ärztehäuser und Praxiskliniken zu bauen. Fast die Hälfte der KV-Mitglieder beteiligten sich an diesem Projekt.
Am 16. Januar 1978 wurde die Praxisklinik Mümmelmannsberg eröffnet. Das auf Initiative der Hamburger Ärzteschaft realisierte Versorgungsmodell war ein Erfolg. Doch die Erwartung, dass die dort praktizierenden Ärztinnen und Ärzte nach einiger Zeit das Objekt selbst erwerben würden, erfüllte sich nicht.
1985 wurde die Praxisklinik an die Dr. Guth Klinikgruppe verkauft. Die Ärztinnen und Ärzte in freier Praxis zahlten nun Miete an ein Privatunternehmen. 2014 übernahm die zur Alanta Health Group gehörende „SKH Stadtteilklinik“ den stationären Bereich und kaufte später auch das Gebäude.
Ich bin seit fast 20 Jahren in der Praxisklinik Mümmelmannsberg niedergelassen, viele Kolleginnen und Kollegen sind ebenfalls seit Jahrzehnten hier.
Es gibt noch immer fast alle medizinischen Fachrichtungen im Gebäude. Die etwa 27 Vertragsärztinnen und -ärzte arbeiten in selbstständige Praxen und in MVZ. Etwa zehn Arztsitze gehören der „SKH Stadtteilklinik“.
Wir ärztliche Kollegen und angeschlossene Therapeuten kennen uns, arbeiten zusammen, tauschen uns über unsere Patienten aus. Wir haben Operationssäle, eine belegärztliche Station und eine psychiatrische Tagesklink. Außerdem findet man im Gebäude eine Physiotherapiepraxis, eine Apotheke, einen Hörgeräteakustiker und eine Fililale des Gesundheitskiosks Billstedt-Horn.
Drei Zukunftsszenarien
Seit Jahren treffen wir Ärztinnen und Ärzte uns mit den Eigentümern und mit Vertretern des Bezirks, um darüber zu sprechen, wie es angesichts der Renovierungsbedürftigkeit des Gebäudes mit der Praxisklinik weitergehen könnte. Auch im Sanierungsbeirat des Stadtteils ist die Praxisklinik immer wieder Thema. Drei Szenarien werden derzeit diskutiert.
Szenario 1: Die Praxisklinik schließt, und die medizinischen Einrichtungen suchen sich auf eigene Faust andere Räume in der Umgebung. Das ist kein gutes Szenario. Wir kennen das Immobilienangebot in Mümmelmannsberg: Es ist völlig unmöglich, für die medizinischen Einrichtungen der Praxisklinik im Umkreis von wenigen Kilomentern geeignete Räume zu finden. Die älteren Kolleginnen und Kollegen würden vermutlich in Rente gehen, die jüngeren in andere Gegenden umziehen. Das wäre das Ende der wohnortnahen Versorgung in Mümmelmannsberg: Die Paxisklinik zerlegt sich in Einzelteile, die entweder absterben oder über das gesamte Stadtgebiet verstreut werden.
Szenario 2: Das Gebäude der Praxisklinik wird saniert. Allerdings wäre es schwierig, während der Modernisierungsarbeiten den Betrieb in den Praxen und dem stationären Bereich weiterlaufen zu lassen. Bei einem Teil der medizinischen Einrichtungen ginge das wahrscheinlich, doch einige Praxen müssten sich wohl Ausweichquartiere besorgen. Ein doppelter Umzug wäre allerdings mit enormen Kosten verbunden. Wahrscheinlich würden nicht alle Ärztinnen und Ärzte in das modernisierte Gebäude zurückkehren. Wenn eine Praxis in ein wohlhabenderes Viertel umgezogen ist und sich dort etabliert hat, bleibt sie vermutlich dort.
Szenario 3: Die medizinischen Einrichtungen der Praxisklinik ziehen gemeinsam in einen Neubau. Das wäre sicherlich die beste Lösung. Neben der Praxisklinik steht eine Seniorenwohnanlage – ebenfalls aus den 1970er Jahren –, die schon seit längerer Zeit abgerissen werden sollte. Zwischenzeitlich waren dort Geflüchtete untergebracht. Nun will die SAGA das Haus abreißen und dort ein siebenstöckiges Gebäude bauen. Ich kann nicht sagen, wie realistisch es ist, dass die medizinischen Einrichtungen der Praxisklinik dort gemeinsam einziehen können. Ich kann nur sagen: Wohnraum zu schaffen, genügt nicht. Ein Wohnquartier braucht Infrastruktur und eine medizinische Versorgung. Und das gilt auch für ärmere Stadtteile.
Nehmen wir an, die SAGA wäre damit einverstanden, dass die medizinischen Einrichtungen der Praxisklinik in das neue Gebäude ziehen. Es würde sicherlich drei bis fünf Jahre dauern, bis die Seniorenwohnanlage abgerissen und das neue Gebäude fertiggestellt ist. Bis dahin müssten wir also noch in der alten Praxisklinik bleiben. Der Eigentümer müsste das Gebäude funktionsfähig halten. Und die Praxen müssen eine finanzielle Unterstützung der KV bekommen, um durchzuhalten.
Wirtschaftliche Situation der Praxen
Derzeit arbeiten viele der Praxen in der Praxisklinik finanziell am Limit. Die Mieten sind ziemlich hoch. Das möchte ich dem Eigentümer nicht zum Vorwurf machen. Schon der Vorbesitzer hat hohe Mieten verlangt – die „SKH Stadtteilklinik“ hat die Preise nicht gesenkt, aber auch nicht erhöht. Die Energiekosten indessen laufen völlig aus dem Ruder – was natürlich damit zu tun hat, dass das Gebäude alt und schlecht isoliert ist.
Der größte Kostenfaktor jedoch sind die Personalkosten. Die Gehälter für MFA sind in den vergangenen Jahren um etwa 20 Prozent gestiegen. Wir konkurrieren um medizinische Fachkräfte mit Kliniken, Krankenkassen und Praxen in wohlhabenderen Gegenden, die deutlich mehr Gehalt bieten können.
Den hohen Kosten steht eine miserable Einkommens-Situation gegenüber. Während der Corora-Krise konnten wir nur in geringem Umfang operieren. Das hat unsere Reserven aufgebraucht. Wir haben Corona-Hilfen in Anspruch genommen, die wir zurückzahlen müssen.
Im Jahr 2023 wurde die Neupatienten-Vergütung gekippt. Mit einem Schlag sind wir auf eine Vergütungsquote von 85 Prozent zurückgefallen. Vollständig bezahlt werden meine ambulanten Operationen, doch derzeit ist unsicher, ob wir dieses Tätigkeitsfeld in der Praxisklinik aufrechterhalten können.
Die Praxen in den ärmeren Stadtteilen sind bei den Verdienstmöglichkeiten systematisch benachteiligt: Einnahmen aus der Behandlung von Privatpatienten und für IGeL-Leistungen machen in anderen Praxen einen großen Teil des Umsatzes aus. Wir haben fast keine Privat-Einnahmen und fast keine Einnahmen aus IGeL-Leistungen. Viele Einwohner des Stadtteils leben in prekären sozialen Verhältnissen. Und es ist ja erwiesen: Der mit Armut einhergehende Stress macht krank. Die von uns versorgten Patienten weisen eine überdurchschnittlich hohe Morbidität auf.
Der Migrantenanteil in Mümmelmannsberg ist hoch. Man muss mit Händen und Füßen sprechen oder den Handy-Übersetzer zu Hilfe nehmen.
Viele unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können Fremdsprachen. Bisweilen haben die Patienten jemanden dabei, der übersetzen kann. Ich mag diese Zusammensetzung der Patientenschaft gerne, doch die Kommunikation nimmt sehr viel Zeit in Anspruch. Die Arbeit macht mir Spaß, ich gehe gerne mit den Patienten um. Aber es ist zurzeit nicht möglich, hier in Mümmelmannsberg finanziell über die Runden zu kommen.
Fünf selbstständige Fachärztinnen und -ärzte aus der Praxisklinik Mümmelmannsberg sind während der vergangenen Jahre bereits weggezogen oder haben ihre Praxen geschlossen.
Was muss jetzt passieren, damit die Versorgung in Mümmelmannsberg sichergestellt wird?
Einige unserer größten Probleme wären gelöst, wenn unsere Leistungen vollständig bezahlt würden. Die Zwangs-Rabatte sind ein Ärgernis für alle Ärztinnen und Ärzte, doch sie stellen eine existenzielle Gefahr für die Praxen in den ärmeren Stadtteilen dar. Jetzt wird immerhin die hausärztliche Versorgung entbudgetiert. Ich unterstütze die Forderung des Virchowbundes, im fachärztlichen Bereich als Übergangslösung zuerst all jene Ärztinnen und Ärzte zu entbudgetieren, die ihre Praxis in sozialen Brennpunkten betreiben.
Die Stadt Hamburg muss eine klare Entscheidung treffen und sagen: „Wir brauchen hier in Mümmelmannsberg weiterhin eine wohnortnahe haus- und fachärztliche Versorgung. Deshalb stellen wir ein vernünftiges Gebäude zur Verfügung, in das die Praxisklinik als Ganzes einziehen kann.“ Die Behörden sollten die Verantwortung übernehmen für die städtebaulichen Strukturen des Stadtteils. Wenn es keine passenden Räumlichkeiten gibt, können Ärztinnen und Ärzte nicht praktizieren.
Einige der Praxen in der Praxisklinik werden finanziell nicht durchhalten, bis ein neues Gebäude fertiggestellt ist. Wir brauchen eine Unterstützung von der KV. Ärztinnen und Ärzte, die in ärmeren Stadtteilen arbeiten, haben drei Nachteile: kaum Privat-Einnahmen, Patienten mit höherer Morbidität und einen größeren Kommunikationsaufwand. Diese systematischen Besonderheiten müssen in der Honorierung abgebildet werden. Die Praxisklinik ist ein Projekt der Hamburger Ärztinnen und Ärzte, die sich in den 1970er Jahren für die Sicherstellung in den ärmeren Stadtteilen verantwortlich gefühlt haben. An diese Tradition sollten wir anknüpfen.
Wenn wir nichts unternehmen, werden wir nicht nur in Mümmelmannsberg, sondern in allen ärmeren Stadtteilen ein massives Versorgungsproblem bekommen.
Schon heute sterben die Menschen in Billstedt und Wilhelmburg im Schnitt zehn bis 15 Jahre früher als in reicheren Gegenden wie Blankenese. Angesichts der höheren Morbidität der Einwohner in sozialen Brennpunkten wäre eine dichtere medizinische Versorgung notwendig, stattdessen fehlt es an medizinischen Einrichtungen.
Und das Problem verschärft sich: Praxen ziehen fort oder finden keine Nachfolger. Und nun steht ein großes Projekt der Hamburger Ärzteschaft auf dem Spiel, das fast ein halbes Jahrhundert lang erfolgreich war.
Ich plädiere dafür, dass die Eigentümer und die Ärzte der Praxisklinik, Vertreter der Stadt und Vertreter der KV gemeinsam eine tragfähige Lösung erarbeiten. Unsere Verantwortung gegenüber den Einwohnern des Stadtteils erfordert entschlossenes Handeln, um eine weiterhin qualitativ hochwertige medizinische Versorgung sicherzustellen und die soziale Ungleichheit im Gesundheitswesen zu bekämpfen.
DR. GERD FASS,
Facharzt für Chirurgie, Unfallchirurgie und Orthopädie