6/2022 6/2022

Digitale Gesundheitsanwendungen aus Sicht der evidenzbasierten Medizin

Aus dem Netzwerk evidenzbasierte Medizin

Von Dr. med. Michaela Eikermann im Auftrag des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin e. V. (www.ebm-netzwerk.de)

Im Dezember 2019 hatte der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die Einführung sogenannter digitaler Gesundheitsanwendungen (DiGA) in die Regelversorgung der gesetzlichen Krankenversicherung als „Weltneuheit“ angepriesen.

Mit den DiGA als Ergänzung der medizinischen Versorgung sollte ein wichtiger Baustein zur Digitalisierung des Gesundheitssystems eingeführt werden. Seit zwei Jahren ist es nun möglich, dass Hersteller Anträge stellen können, um in das Verzeichnis erstattungsfähiger DiGA aufgenommen zu werden, und seit gut 1,5 Jahren sind die ersten Produkte in dem Verzeichnis gelistet und können damit verordnet oder bei der Krankenkasse beantragt werden. Ein guter Zeitpunkt also zusammenzufassen, wie sich das Verfahren seither entwickelt hat, welche Problemfelder insbesondere aus Sicht der evidenzbasierten Medizin erkennbar sind, aber auch welche Erfolge gesehen werden können.

Zum Hintergrund: Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation (Digitale-Versorgung-Gesetz / DVG) im Dezember 2019 haben gesetzlich Krankenversicherte einen Anspruch auf eine Versorgung mit DiGA. So werden entsprechend §33a SGB V Medizinprodukte niedriger Risikoklasse bezeichnet, deren Hauptfunktion wesentlich auf digitalen Technologien beruht und die dazu bestimmt sind, bei den Versicherten oder in der Versorgung durch Leistungserbringende die Erkennung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten oder die Erkennung, Behandlung, Linderung oder Kompensierung von Verletzungen oder Behinderungen zu unterstützen.

Nicht umfasst werden Anwendungen, die im Rahmen der Primärprävention genutzt werden. Voraussetzung für den Leistungsanspruch ist, dass die DiGA ein Prüfverfahren beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) erfolgreich durchlaufen hat und in das Verzeichnis für digitale Gesundheitsanwendungen nach §139e SGB V aufgenommen wurde.

Bei dem Prüfverfahren wird die DiGA auf Funktionstauglichkeit, Sicherheit, Qualität, Datenschutz, Datensicherheit und positive Versorgungseffekte geprüft. Unter dem Begriff der „positiven Versorgungseffekte“ wird entweder ein medizinischer Nutzen verstanden oder sogenannte „patientenrelevante Struktur- und Verfahrensverbesserungen“. Der medizinische Nutzen umfasst patientenrelevante Effekte hinsichtlich der Verbesserung des Gesundheitszustands, der Verkürzung der Krankheitsdauer, der Verlängerung des Überlebens oder einer Verbesserung der Lebensqualität.

Die patientenrelevanten Struktur- und Verfahrensverbesserungen umfassen zum Beispiel eine bessere Koordination von Behandlungsabläufen, einen erleichterten Zugang zur Versorgung, Verminderung therapiebedingter Aufwände und Belastungen, Förderung der Gesundheitskompetenz oder eine Erhöhung der Patientensicherheit.

Wenn ein Hersteller einen Antrag zur Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis stellt, muss er für sein Produkt einen (oder mehrere) positive Versorgungseffekte nachweisen. Er kann den positiven Versorgungseffekt sowohl aus dem Bereich des medizinischen Nutzens als auch aus dem Bereich der Struktur- und Verfahrensverbesserung wählen, beides soll patientenrelevant sein, sich also unmittelbar auf die Patientinnen und Patienten beziehen und nicht z. B. Endpunkte wie Arbeitslast von medizinischem Personal oder ökonomische Kennzahlen abbilden.

Das Prüfverfahren wurde als Fast-Track-Verfahren konzipiert, was bedeutet, dass das BfArM drei Monate Zeit hat, festzustellen, ob aus seiner Sicht die Anforderungen erfüllt sind. Werden alle Anforderungen erfüllt, erfolgt eine dauerhafte Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis. Können noch keine ausreichenden Nachweise für positive Versorgungseffekte vorgelegt, die übrigen Anforderungen aber erfüllt werden, kann eine vorläufige Aufnahme für 12 Monate beantragt werden. Innerhalb dieser Erprobungsphase muss die erforderliche Evidenz dann generiert werden. Im Einzelfall kann der Erprobungszeitraum einmalig um bis zu zwölf Monate verlängert werden.

Details zum Prüfverfahren und dem DiGA-Verzeichnis wurden in einer ergänzenden Rechtsverordnung Digitale-Gesundheitsanwendungen-Verordnung (DiGAV) beschrieben und sind im DiGA-Leitfaden des BfArM dargestellt. In der Rechtsverordnung ist u.a. auch festgelegt, welche Anforderungen an Studien zum Nachweis positiver Versorgungseffekte gestellt werden.

Naturgemäß schaut der „EbMler“ an dieser Stelle besonders kritisch hin, ob diese Anforderungen auch geeignet sind, einen kausalen Zusammenhang zwischen der Intervention und dem Ergebnis abzubilden. Zunächst freut man sich, dass festgelegt ist, dass eine vergleichende Studie gefordert ist, die zeigt, dass die Anwendung der DiGA besser ist als die Nichtanwendung. Allerdings werden hierunter retrospektive vergleichende Studien einschließlich retrospektiver Studien mit intraindividuellem Vergleich benannt und nur als Alternative das, was aus Sicht der evidenzbasierten Medizin eigentlich primär gefordert werden sollte, eine prospektive Vergleichsstudie.

Hier zeigt sich also doch eine recht große Diskrepanz zwischen der Idealvorstellung aus EbM-Sicht der randomisierten kontrollierten Studie (RCT) und dem grundsätzlich akzeptierten Design im DiGA-Verfahren, dem intraindividuellen Vergleichen, wobei es sich letztlich um einen vorher-nachher-Vergleich in einarmigen Studien ohne geeignete Kontrollgruppe handelt. Diese Anforderungen an die Evidenz sind erstmal als sehr niedrig einzustufen. Es ist jedoch auch festgelegt, dass der gewählte methodische Ansatz dem positiven Versorgungseffekt, der gezeigt werden soll, angemessen sein muss. Es scheint, als würde auch das BfArM durchaus für bestimmter Fragestellungen RCT fordern, wenngleich gerade für die Langzeitergebnisse häufig die Daten aus dem Interventionsarm allein auszureichen scheinen.

Aktuell sind 31 Produkte im DiGA-Verzeichnis gelistet. Davon sind 19 vorläufig und 12 dauerhaft aufgenommen. Drei der nun dauerhaft aufgenommenen DiGA waren vorher vorläufig aufgenommen und haben im Erprobungszeitraum den geforderten Nachweis des positiven Versorgungseffektes erbringen können.

Allerdings konnten das zwei der drei Produkte nicht für die gesamte vorgesehene Patientengruppe: Die bewegungstherapeutische DiGA Vivira konnte den Nutzennachweis nur für Patientinnen und Patienten der Indikationsgruppe Rückenschmerz erbringen, nicht für die Indikationsbereiche Knie- und Hüftschmerz. Die DiGA „Selfapys Online-Kurs bei Depression“ konnte keinen Nutzen bei Betroffenen mit leichter depressiver Episode zeigen. Die ursprünglich vorläufig aufgenommenen DiGAs Mika und M-sense Migräne wurden im März bzw. April auf Antrag des Herstellers aus dem Verzeichnis gestrichen. Insgesamt wurden seit dem Start des Verfahrens 130 Anträge beim BfArM gestellt (Stand 4.5.22), davon der weitaus größere Teil von knapp 75 Prozent (97 Anträge) zur vorläufigen Aufnahme zur Erprobung. 11 Anträge wurden negativ beschieden, 69 wurden zurückgezogen und 17 Anträge werden aktuell vom BfArM bearbeitet.

14 Produkte und damit mit Abstand die meisten gelisteten DiGA (42 Prozent) werden der Kategorie „Psyche“ zugeordnet. Fünf DiGA adressieren die Kategorie „Hormone und Stoffwechsel“, vier die Kategorie „Muskeln, Knochen und Gelenke“. Die anderen Kategorien des DiGA-Verzeichnisses umfassen nur jeweils 1 bis 2 Anwendungen. Viele DiGA enthalten verhaltenstherapeutische Elemente. Schaut man sich an, welche positiven Versorgungseffekte die Hersteller gezeigt haben oder zeigen möchten und mit welchen Studiendesigns sie das machen, zeigt sich, dass der ganz überwiegende Teil den medizinischen Nutzen adressiert, zum Teil ergänzend einzelne Endpunkte aus dem Bereich der patientenrelevanten Struktur- und Verfahrensverbesserungen. Diese allein werden nur von einer einzigen aktuell gelisteten DiGA betrachtet.

Schaut man ein wenig tiefer auf die Qualität der Evidenz der schon vorliegenden Studien der dauerhaft gelisteten DiGA, stellt man fest, dass in den meisten Fällen nur eine einzelne Studie vorliegt. Häufig muss ein hohes Verzerrungspotential festgestellt werden, wodurch die Qualität der Evidenz abgewertet wird. Dies liegt insbesondere daran, dass es sich um unverblindete Studien handelt und ausschließlich oder überwiegend Endpunkte erfasst werden, die die Patienten selbst berichten. Dies ist in den allermeisten Fällen auch durchaus sinnvoll, ändert aber nichts daran, dass wir weniger sicher den Ergebnissen vertrauen können.

Weiterhin sehen wir in vielen Studien hohe Drop-out-Raten, aus denen sich gleich zwei Probleme ergeben. Zum einen kann man dies als einen Indikator dafür sehen, dass die Adhärenz bei digital umgesetzten medizinischen Maßnahmen geringer ist als bei einer persönlichen Leistungserbringung. Wenn dies schon unter Studienbedingungen zu beobachten ist, dürfte es im Versorgungsalltag noch herausfordernder sein, die Menschen zu motivieren, die verordnete DiGA regelmäßig zu nutzen.

Methodisch ist als problematisch anzusehen, dass nicht in allen Studienpublikationen ein angemessener Umgang mit fehlenden Werten zu erkennen ist. Auch das BfArM scheint hier Mängel zu sehen und fordert zusätzliche Analysen, auf die u.a. in den jeweiligen Bewertungsentscheidungen im DiGA-Verzeichnis hingewiesen wird. Leider sind diese zusätzlichen Analysen nicht öffentlich zugänglich, so dass es in manchen Fällen schwierig ist, sich ein eigenes Bild zu machen, zumal häufig keine Daten öffentlich zugänglich sind, aus denen man eigene Berechnungen anstellen kann.

Die Preise der DiGA können im ersten Jahr von den Herstellern frei festgelegt werden. Erst danach wird der Vergütungsbetrag zwischen Hersteller und GKV-Spitzenverband (GKV-SV) verhandelt. Erfolgt keine Einigung, erfolgt die Festlegung des Vergütungsbetrages durch die DIGA-Schiedsstelle. Der Herstellerpreis im ersten Jahr kann auch insofern frei festgelegt werden, als dass es keine unterschiedlichen Vorgaben in Bezug darauf gibt, ob die DiGA dauerhaft aufgenommen ist und damit bereits den Nachweis eines positiven Versorgungseffektes erbracht hat oder ob diese erst vorläufig aufgenommen ist und noch keine ausreichende Evidenz vorliegt.

Die Preise der aktuell gelisteten DiGA liegen bei den dauerhaft aufgenommenen DiGA zwischen 204 € und 599 €, im Mittel bei 397 €. Vier dieser Preise wurden durch die Schiedsstelle festgesetzt und liegen zwischen 210 € und 243 €, wobei es dabei teilweise zu deutlichen Abschlägen gegenüber den freien Herstellerpreisen im ersten Jahr kam. Bei den vorläufig aufgenommenen DiGA liegen die Herstellerpreise zwischen 119 € und 718 €, im Mittel bei 467 €. Insgesamt fehlt es an Transparenz zu den Preisen und den dahinter liegenden Kostenkalkulationen.

Die freien Herstellerpreise bewegen sich dabei auf einem Preisniveau, das in dieser Höhe sicher kaum jemand erwartet hätte und das trotz aller Aufwände, die die Hersteller in der Entwicklung und Betreibung der DiGas haben, so nicht gerechtfertigt erscheint und den Eindruck einer gewissen Goldgräberstimmung aufkommen lässt. Irritiert darf man aus Sicht der evidenzbasierten Medizin v. a. auch über das Preisniveau der vorläufigen DiGA sein, die bisher keinen positiven Versorgungseffekt zeigen konnten, zumal es ja bereits Beispiele gibt, dass dieser zumindest für einzelne Indikationen innerhalb des Erprobungszeitraums auch nicht erbracht werden konnte.

Umfassende Zahlen zur Verordnungs- oder Nutzungshäufigkeit sind nicht bekannt. Die Techniker Krankenkasse (TK) beschreibt in ihrem DiGA-Report 2022 die Zahlen, die die TK für ihre Versicherten zwischen Oktober 2020 und Dezember 2021 erhoben hat. Demnach wurden insgesamt 19.025 Codes generiert, mit denen die Versicherten die jeweilige DiGA freischalten können. Der überwiegende Anteil der Codes (92 Prozent) wurde von den TK-Versicherten auch eingelöst. Die meisten DiGA wurden durch Ärzt*innen oder Psychotherapeut*innen verordnet, nur wenige Versicherte hatten sich direkt an ihre Krankenkasse gewandt.

Es gibt starke Unterschiede zwischen den DiGAs in Bezug auf die Häufigkeit der Verordnung. Etwa 77 Prozent der Freischaltcodes beziehen sich auf die fünf DiGA mit den höchsten Nutzungszahlen. Dies waren in dem berichteten Zeitraum die DiGAs Vivira, Kalmeda, M-sense, zanadio und somnio. Nur die Schlafstörungs-DiGA wurde direkt dauerhaft in das DiGA-Verzeichnis aufgenommen. Bei den anderen vier Produkten handelt es sich ursprünglich um Erprobungs-DiGA.

Wie bereits beschrieben, wurde M-sense mittlerweile aus dem DiGA-Verzeichnis gestrichen und bei Vivira konnte der Nutzennachweis nur für die Indikation Rückenschmerz erbracht werden, nicht für die anderen Indikationsbereiche. Dass damit ausgerechnet DiGA in der Versorgung angekommen zu sein scheinen, die eben noch keine ausreichende Evidenz gezeigt haben oder bei denen dieser Nachweis nicht wie geplant gelungen ist, hinterlässt ein ungutes Gefühl und Zweifel, ob das Verfahren in dieser Form wirklich sinnvoll angelegt ist.

Es wird spannend sein zu sehen, wie sich die Evidenzgenerierung in dem jeweiligen Erprobungszeitraum entwickeln wird. Welche positiven Versorgungseffekte können wirklich nachgewiesen werden, wie häufig müssen die Erprobungszeiträume verlängert werden, wie viele DiGA oder wie viele Teilindikationen einzelner DiGA werden nach dem Erprobungszeitraum aus dem Verzeichnis gestrichen. Daran knüpft sich auch ganz praktisch die Frage an, wie dies kommuniziert wird um sicherzustellen, dass die Information bei den verordnenden Leitungserbringenden ankommt.

Wird die DiGA komplett gestrichen, ist das sicher weniger kritisch, dann erhalten die Versicherten die Information spätestens, wenn sie die Verordnung bei ihrer Krankenkasse einreichen. Fallen aber nur einzelne Indikationen einer DiGA weg, fällt das nicht in jedem Fall auf und ist durchaus kritischer zu sehen, da es passieren könnte, dass eine DiGA weiterhin für eine Indikation verordnet wird, für die kein positiver Versorgungseffekt erbracht wurde oder für die schlimmstenfalls negative Effekte gezeigt wurden.

Ein wesentlicher Kritikpunkt, der Einfluss auf die Akzeptanz der Produkte bei den Leistungserbringenden haben dürfte, ist die mangelnde Transparenz in Bezug auf die Inhalte der DiGA. Die DiGA sind den Leistungserbringenden nicht im Detail bekannt, ebenso wenig wie den Krankenkassen und in den meisten Fällen auch für die Versicherten selbst. Dies erschwert sicherlich die Einschätzung, ob die DiGA für die jeweilige Patientin oder den jeweiligen Patienten geeignet ist und ob sie die bisherige Versorgung sinnvoll ergänzen könnte. Laut dem DiGA-Report 2022 der TK wurden im Berichtszeitraum 10.000 befristete Testaccounts an Leistungserbringende vergeben, was in Anbetracht der über 180.000 Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen, die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen, eher gering ist. Gleichwohl ist es gerade vor dem Hintergrund der wachsenden Anzahl an DiGA auch perspektivisch kaum möglich, sich mit allen DiGA im Detail inhaltlich auseinanderzusetzen, selbst wenn man den Zugang dazu erhalten könnte. Das erscheint höchstens für Indikationsbereiche machbar, bei denen es nur ein oder wenige Produkte gibt.

Trotz grundsätzlicher Diskussion um die Angemessenheit des Verfahrens an den etablierten Strukturen der Gesundheitsselbstverwaltung vorbei und um die niederschwelligen Mindestanforderungen an die Studien zum Nachweis positiver Versorgungseffekte, handelt es sich bei dem eingeführten Fast-Track-Verfahren um ein strukturiertes Verfahren zur Bewertung digitaler Gesundheitsanwendungen, bei dem die Schaffung von Evidenz ein zentraler Baustein ist. Der so geschaffene Zugang zur Regelversorgung könnte durchaus eine Motivation für Hersteller sein, keine ungeprüften Gesundheits-Apps anzubieten, sondern diese als zugelassene Medizinprodukte in Studien zu überprüfen und höhere Anforderungen an Datenschutz und Datensicherheit zu erfüllen. Darüber hinaus hat das Verfahren durch die vielen erfolgreich durchgeführten und laufenden RCT gezeigt, dass dieses Studiendesign auch für digitale Anwendungen gut machbar und angemessen ist.

Es wäre wünschenswert, wenn die Hersteller auch weiterhin den Blick auf den medizinischen Nutzen richten würden und weiterhin prospektiv vergleichende Studien, idealerweise RCT durchführen würden. Ebenfalls wünschenswert wäre mehr Transparenz in Bezug auf die Bewertungsentscheidung des BfARM. So ist aus den öffentlich zugänglichen Unterlagen z. B. unklar, inwieweit das Verzerrungspotential bewertet wird oder die Validität von Skalen, mit denen die Endpunkte erfasst werden, und ob dies bei der Bewertungsentscheidung eine Rolle spielt. Und auch von den Herstellern nachgeforderte zusätzliche Analysen sind nicht öffentlich zugänglich, selbst dann nicht, wenn sie ausschlaggebend für die Bewertungsentscheidung sind.

Der Einsatz digitaler Anwendungen in der medizinischen Versorgung ist kein gänzlich neuer Gedanke. So wurden bereits seit Beginn der 1990er Jahre softwarebasierte psychotherapeutische Ansätze für psychische Erkrankungen entwickelt, insbesondere für Depression und Angststörungen. Allerdings standen digitale Anwendungen vor Einführung der DiGA v. a. im Rahmen selektivvertraglicher Vereinbarungen oder als Selbstzahlerleistung zur Verfügung. Geht man davon aus, dass digitale Anwendungen grundsätzlich einen Nutzen haben können und damit das Potential haben Versorgungslücken zu schließen bzw. bestehende Versorgung sinnvoll zu ergänzen, kann man es auch als Erfolg betrachten, dass ein Leistungsanspruch für alle Versicherten unabhängig von der jeweiligen Krankenkasse geschaffen wurde.

Es wird seit langem kritisiert, dass Deutschland in der Digitalisierung weit hinter anderen Ländern zurücksteht. Durch die COVID-19-Pandemie waren und sind viele Menschen gezwungen, weite Teile ihres Lebens digitaler zu gestalten. Es hat sich auch gezeigt, dass neue – digitalere – Wege gefunden werden müssen, eine gute medizinische Versorgung anbieten zu können, und dass solche Wege auch möglich sind. Es darf bei den durchaus berechtigten Digitalisierungsbestrebungen jedoch nicht vergessen werden, dass die Digitalisierung kein Selbstzweck ist, sondern dass die Versorgung wirklich verbessert werden muss. Man darf an dieser Stelle aber durchaus skeptisch sein, dass es in absehbarer Zeit Daten dazu geben wird, ob dies tatsächlich der Fall ist.

Es gilt auch, sich weiteren Herausforderungen zu stellen. Längst nicht alle Versicherten haben den gleichen Zugang zu digitalen Gesundheitsangeboten bzw. die gleichen technischen Möglichkeiten diese nutzen zu können. Insbesondere ältere Personen oder Menschen mit niedrigerem Einkommen oder geringerer Bildung könnten benachteiligt sein. Da 23 der aktuell 31 gelisteten DiGA nur auf Deutsch vorliegen, können Sprachbarrieren hinzukommen. Dies widerspricht letztlich dem Anspruch an eine gerechte Versorgung.

Auch wird man sich damit befassen müssen, wie digitale Kompetenzen von Versicherten und ggf. auch der Leistungserbringenden weiter gefördert werden können. Die sich in den Studien abzeichnende, oft nicht zufriedenstellende Adhärenz zu den DiGA wird im Versorgungsalltag ein sicher noch größeres Problem sein. Daher wäre es wichtig zu erfassen, was die Adhärenz beeinflusst, und Ideen zu entwickeln, wie die Adhärenz gefördert werden kann.

Perspektivisch sinnvoll wäre es auch, statt der wie bisher eher ungerichteten Entwicklung und Aufnahme immer neuer DiGA, die Anwendungsbereiche zu identifizieren, in denen von Versicherten, Leistungserbringenden und ggf. Kostenträgern ein besonderer Bedarf oder ein besonderes Potential digitaler Anwendungen gesehen wird.

DR. MED. MICHAELA EIKERMANN
Bereichsleiterin Evidenzbasierte Medizin
Medizinischer Dienst Bund
Theodor-Althoff-Str. 47
45133 Essen

Literatur:

1. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. DiGA-Verzeichnis. letzter Zugriff: 09.05..2022 https://diga.bfarm.de/de/verzeichnis

2. Sozialgesetzbuch Fünftes Buch Gesetzliche Krankenversicherung Stand: Zuletzt geändert durch Art. 4 G v. 12.5.2021 I 1087, § 33a SGB V

Digitale Gesundheitsanwendungen. 2021. letzter Zugriff: 09.05..2022 https://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbv/33a.html

3. Sozialgesetzbuch Fünftes Buch Gesetzliche Krankenversicherung Stand: Zuletzt geändert durch Art. 4 G v. 12.5.2021 I 1087, § 139e SGB V

Digitale Gesundheitsanwendungen. 2021. letzter Zugriff: 09.05.2022. https://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbv/139e.html

4. Verordnung über das Verfahren und die Anforderungen zur Prüfung der Erstattungsfähigkeit digitaler Gesundheitsanwendungen in der

gesetzlichen Krankenversicherung (Digitale Gesundheitsanwendungen-Verordnung - DiGAV).

Bundesgesetzblatt Teil I Nr. 18. 2020. letzter Zugriff: 09.05..2022.

http://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&jumpTo=bgbl120s0768.pdf

5. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM).Das Fast-Track-Verfahren für digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) nach § 139e SGB V.

Ein Leitfaden für Hersteller, Leistungserbringer und Anwender. Version 3.1 vom 18.03.2022. letzter Zugriff: 09.05.2022

https://www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Medizinprodukte/

digaleitfaden.pdf;jsessionid=63C7E904006DD5AAABA0A720D2A9A8CC.intranet662?_blob=publicationFile

6. Techniker Krankenkasse. DiGA-Report 2022. letzter Zugriff: 09.05.2022

https://www.tk.de/resource/blob/2125136/dd3d3dbafcfaef0984dcf8576b1d7713/tk-diga-report-2022-data.pdf