"Anlass zur Wachsamkeit"
Ausstellung: Arzt und Patient im Nationalsozialismus
Das Zentrum für Antisemitismusforschung hat die Geschichte der KBV-Vorläuferorganisation KVD (Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands) erforscht. Im Interview berichtet der Historiker Dr. Ulrich Prehn über das bürokratische Räderwerk der NS-Verwaltung, die Entrechtung jüdischer Ärzte und eine erstaunliche Fallgeschichte aus Hamburg.
Was hat Sie im Rahmen Ihrer Forschungsarbeit besonders überrascht oder persönlich bewegt?
PREHN: Besondere Überraschungsmomenteergaben sichaus der Durchsicht der Aktenbeständeder KVD (KassenärztlichenVereinigung Deutschlands),die wir im Auftrag derKBV durchgesehen und ausgewertethaben. So fand ich zumBeispiel eines Tages in einemder Kartons, der überwiegendVerwaltungsunterlagen mitvöllig anderen thematischenBezügen enthielt, einen Aktenordner,dessen Rücken mit nureinem einzigen Wort beschriftetwar: „Juden“. Andere indem Aktenordner enthalteneBeschriftungen, zum Beispiel„Ausschaltung der jüdischenÄrzte“, spiegeln direkt die zeitgenössischeNS-Terminologiewider. Gesammelt finden sichdort die maßgeblichen Verordnungenzur Entrechtung derjüdischen Ärzt:innen – überwiegendals Rundschreiben,zum Teil aber auch abgedrucktim Deutschen Ärzteblatt.Ich fand darunter auch ein19-seitiges Rundschreibendes Reichsärzteführers andie Ärztekammern vom 17.Oktober 1938, das in folgenderFormulierung gipfelt: „Eskann nicht unser Ziel sein, dieWartezimmer der deutschenÄrzte mit Juden zu bevölkern.“Konkret hieß das: Ausgewählte(deutsch-)jüdische Ärzt:innen,die man zu „Krankenbehandlern“degradiert hatte, solltendie medizinische Versorgung„ihresgleichen“ gewährleisten,damit deutsche (nichtjüdische) Ärzt:innen sich ausschließlichum die sogenannten deutschenVolksgenossen kümmern konnten.
Warum empfehlen Sie KV-Mitarbeiter:innen die Ausstellung?
prehn: : Ich denke, das Beispiel des Aktenordners, den ich gerade erwähnte, bringt es doch ganz gut auf den Punkt. Mitarbeiter:innen einer Kassenärztlichen Vereinigung sind ja in ihren arbeitsbezogenen Entscheidungen, ihrem ganz alltäglichen Verwaltungshandeln ebenfalls an Verordnungen, gesetzliche Vorgaben und so weiter gebunden. Gesetzt den Fall, es fänden ganz allmählich zunächst kaum wahrnehmbare, dann womöglich immer radikalere Verschiebungen solcher rechtlichen Grundlagen – in Bezug auf welche auch immer denkbare Gruppe – statt, wäre unbedingt Vorsicht geboten. Und es bedürfte einer möglichst großen Zahl von Menschen, die bereit wären, sich solchen Entwicklungen entgegenzustellen. Anlass zur Wachsamkeit in dieser Hinsicht bietet das aktuelle Anwachsen politischer Kräfte am rechten Rand in Deutschland ja zweifellos!
Die Ausstellung enthält Fallgeschichten. Weshalb haben Sie genau diese ausgewählt?
prehn: Die Fallgeschichten haben sich beinahe „natürlich“ aus den Aktenfunden im KBV-Archiv ergeben. Bestes Beispiel hierfür ist die Geschichte der unangepasst-mutigen, aus Sicht ihrer Vorgesetzten „renitenten“ und in politisch-weltanschaulicher Hinsicht „unzuverlässigen“ KVD-Angestellten Gerta Disselkamp, die wir auf dem Ausstellungs-Banner „Ärztliche Standesorganisationen und ihre Gefolgschaft“ erzählen. Andere „Fallgeschichten“ mussten wir andernorts, das heißt in anderen Archiven und Sammlungen, suchen. Denn Unterlagen, die Auskunft über etwa solche das Arzt-Patient-Verhältnis unmittelbar betreffenden Themenfelder geben wie Zwangssterilisationen oder den sogenannten Krankenmord im Nationalsozialismus, enthalten die Aktenbestände des Alt-Archivs der KBV nicht. Wichtig war uns, die Fallgeschichten nicht nur aus der Perspektive von Ärztinnen und Ärzten, Ärzte-Funktionären und Vertretern der ärztlichen Standesorganisationen zu erzählen, sondern immer auch einen Blick auf Patientinnen und Patienten zu werfen und sie möglichst weitgehend selbst zu Wort kommen zu lassen.
Sind auch Fallgeschichten von Hamburger Ärztinnen und Ärzten darunter?
prehn: Allerdings. In neun von insgesamt vierzehn Interviewausschnitten, die wir an den Medienstationen zeigen, sind Hamburgerinnen oder Hamburger die Protagonist:innen. Sie sind zumeist Familienangehörige von jüdisch-deutschen Ärzt:innen oder von Opfern des NS-Krankenmordprogramms. Eins der besonders beeindruckenden Interviews, das wir in der „Werkstatt der Erinnerung“ (dem Oral-History-Archiv der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg) fanden, wurde 2002 mit dem 1916 geborenen Hans Engel geführt – Sohn des aus Hamburg vertriebenen Ärzteehepaars Dr. Heinrich Engel und Dr. Toni Engel (geb. Blumenfeld). Hans Engel selbst emigrierte 1935 nach Großbritannien, wo er Medizin studierte. 1943 schloss er sich der britischen Armee an und nahm später als Stabsarzt an der Landung in der Normandie teil. Besonders berührend sind seine Schilderungen darüber, wie er ab Ende April 1945 bei der medizinischen Versorgung der Insassen des Kriegsgefangenenlagers Sandbostel half. Dort befanden sich auch viele Häftlinge des KZ Neuengamme, die auf einem sogenannten Todesmarsch dorthin gebracht worden waren. Die Befreier dieses Lagers – unter ihnen Hans Engel – retteten vielen der völlig entkräfteten, unterernährten Menschen das Leben.
Interview: Marthe Hartig
Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen bzw. deren Nachkommen (unter anderem mit Hans Engel): www.systemerkrankung.de