5/2024 5/2024

Unsinnige Regulierungsfantasien

 Von John Afful

Die VDEK-Landesvertretung hat einen Brief mit Wünschen an die Politik geschrieben. Fast alle Vorschläge laufen auf eine Mehrbelastung der KV-Mitglieder hinaus – und gehen an den Versorgungsrealitäten vorbei.

Kürzlich trafen sich Akteure des Hamburger Gesundheitswesens auf Einladung des Ersten Bürgermeisters im Gästehaus des Senats. Es war die zweite Gesprächsrunde dieser Art. Schon nach dem ersten Treffen hatte Dr. Peter Tschentscher die Teilnehmer dazu aufgefordert, ihre Wünsche an die Politik schriftlich zu formulieren.

Die Hamburger Landesvertretung des VDEK schickte daraufhin einen Brief mit „Handlungsansätzen zur Verbesserung der ambulanten Versorgung“, der offenbar mit anderen Kassenarten auf Hamburg-Ebene abgestimmt war.

Der Inhalt des Briefes ist erstaunlich. Beispielsweise fordert der VDEK, die wöchentliche GKV-Mindestsprechstundenzahl der Vertragsärztinnen und Vertragsärzte neu zu definieren: Urlaub, Krankheit und Fortbildung sollen künftig aus dem Mindestsprechstundenkontingent herausgerechnet werden, was faktisch zu einer deutlichen Mehrarbeit in den Praxen führen würde.

Das passt zur Forderung des VDEK auf Bundesebene, die Anzahl der Mindestsprechstunden für GKV-Patienten zu erhöhen.

Liebe Krankenkassen: Es gab unter Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im Rahmen des Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) eine Erhöhung der Mindestsprechzeiten von 20 auf 25 Stunden. Diese Leistungsausweitung wurde bekanntlich unter anderem gegenfinanziert durch eine Regelung, die heute gar nicht mehr gilt: nämlich die extrabudgetäre Vergütung der Behandlung neuer Patienten.

Die Neupatienten-Regelung war wichtig für die Finanzierung der ambulanten Versorgung, denn sie betraf sehr viele Arztgruppen – sehr viel mehr als andere TSVG-Regelungen wie beispielsweise die extrabudgetäre Vergütung für die Behandlung in den offenen Sprechstunden.

Es waren die Krankenkassen, die dann darauf hingewirkt haben, dass die Neupatienten-Regelung wieder zurückgenommen wurde. Vor diesem Hintergrund wäre es für die Kassen angebracht gewesen, zu sagen: Wir unterstützen Forderungen aus der Ärzteschaft, die Mindestsprechzeit wieder zu senken.

Stattdessen nun eine weitere Stunden-Aufstockung zu fordern, ist befremdlich. Zwar rückt die Entbudgetierung der Hausärzte langsam näher, doch für den fachärztlichen Bereich fehlt eine solche Perspektive völlig.

Und wir reden hier nicht über eine Auszahlungsquote von 98 oder 99 Prozent. Wir reden darüber, dass jede vierte oder fünfte Leistung nicht bezahlt wird. Wenn die Krankenkassen ehrlich wären, müssten sie sagen: „Wir fordern, dass die Ärzte noch mehr unbezahlte Leistungen erbringen als bisher.“

Eigentlich besteht im Gesundheitswesen eine Übereinkunft darüber, dass Patienten künftig nicht mehr völlig ungesteuert die ambulante oder stationäre Versorgung in Anspruch nehmen sollten. Es wäre naheliegend, sich Gedanken über Steuerungsinstrumente zu machen, die dafür sorgen, dass medizinische Ressourcen sinnvoller eingesetzt werden. Ideen hierzu sucht man im VDEK-Brief aber vergeblich.

Was halten die Kassen von unserem Vorschlag, Anreize dafür zu schaffen, dass Patientinnen und Patienten erst die 116 117 anrufen und eine Ersteinschätzung erhalten, bevor sie blindlings in eine Praxis laufen? Hausarztpraxen sollten nicht von Patientinnen und Patienten mit leichtem Schnupfen überrannt werden. Solche Fälle können im Vorfeld telefonisch erledigt werden. Bei der Frage, ob die Weiterbehandlung eines Patienten besser beim Neurologen oder beim Psychiater stattfinden soll, ist ärztliche Expertise gefragt. Hier kann die Hausarztpraxis dafür sorgen, dass ein Patient sicher in eine passende Versorgungseinheit weitergelotst wird.

Die Krankenkassen scheinen die Diskussion über eine Kostenersparnis durch Patientensteuerung und Vermeidung von Fehlallokationen nicht führen zu wollen – obwohl völlig klar ist, dass dies dringend notwendig wäre. Stattdessen sagen sie: „Naja, dann fordern wir eben weitere Behandlungskapazitäten auf Kosten der Ärzte.“

Das wird nicht funktionieren, denn wir alle wissen: Es gibt einen Nachwuchsmangel in der Ärzteschaft.

Es gibt zu wenig Medizinstudienplätze. Selbst wenn wir jetzt die Studienkapazitäten ausbauen, würde es lange dauern, bis das spürbare Auswirkungen auf die Versorgung hätte. Immer mehr Ärztinnen und Ärzte arbeiten in Teilzeit. Die Lust, 70-Stunden-Wochen in der Praxis abzuleisten, hat ganz offenbar stark abgenommen.

Wäre es da nicht sinnvoller, sich darüber Gedanken zu machen, wie man die Attraktivität der ärztlichen Tätigkeit stärken kann?

Je weiter die ärztlichen Kapazitäten abnehmen, desto drängender wird die Beantwortung dieser Frage. Ein wertschätzender Umgang mit den ärztlichen und psychotherapeutischen Leistungsträgern, ein konsequenter Abbau von Gängelung und eine gute finanzielle Perspektive wären vor diesem Hintergrund sicherlich die erfolgversprechenderen Strategien.

Die VDEK-Landesvertretung formuliert in ihrem Brief noch einen Vorschlag, der von Unkenntnis der Versorgungsrealität zeugt: dass der Zulassungsausschuss jeder Ärztin und jedem Arzt „ein Mindestversorgungsspektrum in Form eines konkret definierten Versorgungsauftrages vorgeben sollte“. Fortbildungen, die notwendig sind, um ein vom Zulassungsausschuss definiertes fachärztliches Leistungsspektrum vollständig zu erbringen, sollen dann verpflichtend werden. Bei Zuwiderhandlung droht Honorarkürzung.

Da gibt es gleich mehrere Probleme: Wenn der Zulassungsausschuss festlegt, dass bestimmte Leistungen angeboten werden müssen, heißt das noch lange nicht, dass diese auch nachgefragt und in Anspruch genommen werden. Versorgung in dieser Detailgenauigkeit am grünen Tisch zu planen, ist nicht möglich.

Bei operativen Leistungen kommt hinzu: Nicht jeder Arzt hat einen Operationssaal oder kann einen solchen (beispielsweise in einem Krankenhaus) zu vertretbaren Preisen mieten.

Ein leitender Gedanke bei der Krankenhausreform von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach war, dass medizinische Einrichtungen eine gewisse Expertise vorweisen sollten: Man möchte ja gerade nicht, dass jeder einfach quer durch den Fachbereich mal dies und mal das macht.

Insofern darf man schon die Frage stellen: Liebe Krankenkassen, ist es nicht auch in Eurem Sinne, wenn ein Facharzt, der begnadet operiert, dies auch schwerpunktmäßig tun kann? Und wenn ein Facharzt, der im konservativen Bereich tätig sein möchte, vor allem dieser Neigung nachgehen kann?

Eine dirigistische Festlegung von Versorgungsaufträgen würde die Versorgung verschlechtern, weil sie Flexibilität, Zielgenauigkeit und Patientenorientierung hemmt.

Die Forderung offenbart zudem ein konzeptuelles Missverständnis: Bedarfsplanung plant nicht den Versorgungsauftrag für eine Ärztin oder einen Arzt. Bedarfsplanung plant nicht den Anteil konservativer und operativer Leistungen innerhalb eines Fachgebiets.

Was Bedarfsplanung plant, ist das Verhältnis zwischen den Sitzen eines Fachgebiets und der Einwohnerzahl.

Damit wären wir beim Vorschlag des VDEK, Neu-Niederlassungen in unterdurchschnittlich versorgte Stadtteile zu steuern. Der Zulassungsausschuss soll nach Auffassung des VDEK die gesetzliche Möglichkeit bekommen, „verbindliche räumliche Vorgaben innerhalb eines Planungsbezirks“ für eine Neu-Niederlassung festzulegen, was im Klartext heißt: Eine Neu-Niederlassung wäre dann ausschließlich in den vom Zulassungsausschuss festgelegten Stadtteilen möglich. Wenn niemand bereit ist, sich dort niederzulassen, würden die Sitze für eine bestimmte Zeit (beispielsweise ein Jahr) gar nicht besetzt.

Diese Forderung schießt völlig über das Ziel hinaus. Dass Bewerberinnen und Bewerber bevorzugt in schwach versorgten Stadtteilen zugelassen werden und dass die Niederlassung in diesen Stadtteilen durch Investitionszuschüsse aus dem Strukturfonds gefördert wird, ist bereits möglich – und wird derzeit in Hamburg bei der Besetzung von Kinderarztsitzen praktiziert. Ich gehe davon aus, dass diese Maßnahmen wirksam sind und dass es gelingen wird, die derzeit offenen 4,25 Kinderarztsitze wie vom Zulassungsausschuss beschlossen in den Stadtteilen Billstedt, Bramfeld und Rahlstedt zu besetzen.

Im gesamten VDEK-Papier gibt es nur einen Punkt, den wir als KV unterstützen können: den Vorschlag, dass Ärztinnen und Ärzte, die fünf Jahre lang in einer KV-Eigeneinrichtung angestellt waren, automatisch einen Arztsitz zugewiesen bekommen.

Das adressiert ein reales Problem, denn wir können in Eigeneinrichtungen angestellten Ärztinnen und Ärzten nicht garantieren, dass sie irgendwann einen Sitz erhalten. KV-Eigeneinrichtungen funktionieren derzeit (ähnlich wie KV-Notfallpraxen) ohne Arztsitz.

Ich finde es höchst bedauerlich, dass unser Wunsch, als KV selbst Arztsitze halten zu können, in der Bundespolitik keinerlei Berücksichtigung findet. Eigeneinrichtungen sind nicht nur ein Instrument, um Versorgungsengpässe zu beheben.

Unserer Auffassung nach sind es auch „Lernpraxen“, in denen die angestellten Ärztinnen und Ärzte sich ausprobieren und an die Selbstständigkeit herangeführt werden können.

Wir müssen den angestellten Ärztinnen und Ärzten die Perspektive eröffnen können, die Praxis zu übernehmen. Das ist ein konstitutiver Bestandteil unseres Eigeneinrichtungs-Konzepts.

Der KV die Möglichkeit zu geben, selbst Arztsitze zu halten, wäre ganz einfach und ohne irgendwelche Risiken und Kosten umzusetzen. Ein Halbsatz in einem Gesetzgebungsverfahren würde genügen.

Allerdings deutet nichts darauf hin, dass das Bundesgesundheitsministerium bereit ist, unserem Vorschlag Aufmerksamkeit zu schenken und ein leicht lösbares Problem schnell und unkompliziert aus der Welt zu schaffen.

Mein Eindruck ist, dass Karl Lauterbach die medizinische Versorgung stets vom Krankenhaus her denkt und den ambulanten Bereich als nachgelagert wahrnimmt.

Die Entbudgetierung der Hausärzte war Bestandteil des Koalitionsvertrages. Doch statt zu sagen: „Darauf haben sich die Koalitionspartner verständigt, das setzen wir gleich mal um“, hat der Bundesgesundheitsminister die Entbudgetierung der Hausärzte auf die lange Bank geschoben und Themen wie Krankenhausreform, Notfallreform oder Cannabis-Legalsierung vorangestellt. Konzepte, wie die fachärztlichen Praxen finanziert und zukunftsfest gemacht werden könnten, fehlen bis heute.

Ein Bundesgesundheitsminister, dem eine gut ausgestattete, wohnortnahe ambulante Versorgung am Herzen liegt, würde andere Prioritäten setzen.

JOHN AFFUL,
Vorsitzender der KV Hamburg

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