5/2024 5/2024

Investorgetragene renditeorientierte Patientenversorgung

Aus dem Netzwerk evidenzbasierte Medizin

Sind die Studienergebnisse auf das deutsche Gesundheitssystem übertragbar?

Von Prof. Dr. Ingrid Mühlhauser und Prof. Dr. Gabriele Meyer im Auftrag des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin e.V. (www.ebm-netzwerk.de)

Deutschland und andere Industrienationen verzeichnen einen bemerkenswerten Anstieg an investorgetragenen und auf Rendite ausgerichtete Einrichtungen (IRE) der Patientenversorgung. Bereiche der Daseinsfürsorge wurden in den letzten Jahren zu lukrativen Anlagen für weltweite Finanzinvestoren.

An das EbM Netzwerk wurde kürzlich folgende Frage gerichtet: „Gibt es Evidenz dafür, dass private bzw. gewinnorientierte Versorgungseinheiten eine andere Versorgung anbieten als gemeinwohlgebundene Versorgungseinheiten? Gemeinwohlgebunden würde bedeuten: ärztlich geführt – weil die Ärztinnen und Ärzte über das Berufsrecht gemeinwohlgebunden sind / gemeinnützig / kommunal geführt / Universität – über diese Definition könnte man natürlich streiten.“

Eine erste Sichtung der publizierten Literatur ergab für die ambulante Versorgung in Deutschland keine entsprechenden kontrollierten Studien. Das Britische Ärzteblatt hat jedoch kürzlich eine themenrelevante Übersichtsarbeit einer Autorengruppe aus den USA, Kanada und Israel veröffentlicht (1). Die Mehrzahl der hier eingeschlossenen Studien wurde in den USA und im stationären, insbesondere im Altenpflegebereich, durchgeführt.

Es liegen jedoch auch Analysen aus Europa und für den ambulanten Sektor vor. Die wesentlichen Merkmale der Übersichtsarbeit sind in der BOX 1 zusammengefast.

Die Autor:innen verzeichnen in allen untersuchten Versorgungssystemen einen deutlichen Trend einer Zunahme an IRE. Aus ihren Auswertungen schlussfolgern sie, dass IRE oftmals assoziiert sind mit negativen Ergebnissen in Bezug auf Kosten für Patient:innen und Kostenträger sowie heterogene bis schädliche Einflüsse auf die Versorgungsqualität. Da die Studien jedoch ein relevantes Verzerrungspotenzial aufweisen und überwiegend auf die USA fokussieren, bliebe die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf andere Länder unklar (1). In einer weiteren aktuellen großen Fall-Kontroll-Studie wird für die stationäre Versorgung in den USA ein deutlich höheres Risiko für im Krankenhaus erworbene unerwünschte Ereignisse unter IRE im Vergleich zu anderen Trägerschaften ermittelt (2).

Externe Validität von Studien
Aus der Perspektive der Evidenzbasierten Medizin stellt sich die Frage nach der Übertragbarkeit der verfügbaren Evidenz auf das deutsche Gesundheitssystem bzw. der Verallgemeinerbarkeit. Dies im Gegensatz zur internen Validität, die sich auf die methodische Qualität und die Glaubwürdigkeit der Studie bzw. des Reviews bezieht. Die Prüfung der Übertragbarkeit der Studienergebnisse auf den einzelnen Patienten bzw. ein Gesundheitsproblem ist ein wesentliches Kriterium bei der Bewertung der bestverfügbaren Evidenz zu einer bestimmten Fragestellung. Dabei geht es nicht um die Frage, ob mein Patient oder mein Setting genau jenem in der Studie entspricht (was so gut wie niemals der Fall wäre). Zu prüfen wäre vielmehr, was dagegen spricht, dass die Ergebnisse aus der Studienpopulation übertragbar sind und in einem weiteren Schritt, inwiefern sich die Ergebnisse der Studie bei Übertragung auf die Zielpopulation ändern könnten (3).

Die Unschärfe der Begriffe Übertragbarkeit, Generalisierbarkeit, Direktheit (directness), Reproduzierbarkeit oder Anwendbarkeit sind Gegenstand aktueller Forschung. Derzeit gibt es keine ausreichend validierten Bewertungsinstrumente zur Beurteilung der externen Validität von systematischen Übersichtsarbeiten bzw. von randomisiert-kontrollierten Studien (RCT), die in ein Review eingeschlossen werden (4). In einer Delphi-Studie wurde kürzlich ein Konsensus über die Definition des Begriffs „externe Validität“ und über Kriterien zu ihrer Beurteilung in RCTs erzielt. Die Kriterien adressieren die Bereiche Population, Intervention, Vergleichsintervention/Kontrolle, Ergebnisparameter und Setting (5).

Je komplexer die Interventionen und je komplexer die Settings, in die interveniert wird, umso bedeutsamer ist die Beurteilung der Übertragbarkeit. Für die Studienergebnisse zum Thema investorgetragene renditeorientierte Eigentümerschaft und Patientenversorgung im deutschen Gesundheitssystem erscheinen vor allem zwei Aspekte hinsichtlich der Übertragbarkeit von Bedeutung: der Standard, mit dem jeweils verglichen wird, und das Setting einschließlich des Vergütungssystems. Im Folgenden werden einige Aspekte zum Vergleich für die Langzeitpflege im Alten- und Pflegeheim und die ambulante Versorgung in der ärztlichen Praxis skizziert.

Setting Pflegeheim
Ländervergleichende Studien von Pflegeheimen legen nahe, dass sich die Zugangswege ins Pflegeheim, die Merkmale und Konstitution bei Einzug sowie die Verweildauer der Bewohner:innen unterscheiden (6).
Hinzu kommen systembedingte und kulturelle Unterschiede, so hinsichtlich medizinischer Versorgung und therapeutischer Angebote (7), aber auch der Qualifikation des Personals (8). Der Einfluss von Rendite ausgerichteten Einrichtungen auf die Qualität der Pflege ist in den letzten Jahren mehrfach Gegenstand internationaler, zumeist auf Routinedaten basierender Untersuchungen gewesen (1).
Mit der Einführung der Pflegeversicherung vor fast 30 Jahren hat der deutsche Staat die Pflegeeinrichtungen – also einen Teil der Daseinsfürsorge – gewinnorientierten Märkten überantwortet (BOX 2).

Die Auswirkungen auf die Qualität der Pflege, das Wohlergehen der Bewohner:innen und des Personals sind in Deutschland nicht systematisch untersucht. Es finden sich jedoch keine Anhaltspunkte anzunehmen, dass die Ergebnisse von Analysen zu den Auswirkungen von IRE aus internationalen Studien nicht auf Deutschland übertragbar sein sollten.

Setting ärztlich geführte Praxis als Teil eines Gesundheitssystems im Umbruch
In Deutschland ist ein erheblicher Anteil der stationären Versorgung bereits in privater Trägerschaft. Die ärztliche Praxis wird überwiegend erlösorientiert mit gemischter Finanzierung geführt. Analysen zur Qualität der medizinischen Versorgung bescheinigen dem deutschen Gesundheitssystem ein erhebliches Ausmaß an Überdiagnostik und Übertherapie (9).
Gemessen an der wirtschaftlichen Leistung hat Deutschland eines der teuersten Gesundheitssysteme, eine hohe Arztdichte und Spitzenwerte bei Patientenkontakten (10). Gleichzeitig klagen Patienten zunehmend über lange Wartezeiten auf Arzttermine. Gemessen an Patientenergebnissen liegt Deutschland im europäischen Vergleich oftmals nur im Mittelfeld. Bei der Dauer eines Patientenkontakts ist Deutschland mit durchschnittlich 7,6 Minuten weit hinter anderen westlichen Ländern positioniert (an der Spitze befindet sich Schweden mit 22,5 Minuten) (11).
Die Gesundheitsversorgung erscheint nicht grundsätzlich am Patientenwohl orientiert. Kommerzielle Fehlanreize manifestieren sich in einem Übermaß an unnötigen und teils sogar gesundheitsschädlichen privatärztlichen (IGe-)Leistungen auch für Kassenpatienten. Hingegen wird das Patientenrechtegesetz in Bezug auf Aufklärung zu medizinischen Maßnahmen und die informierte partizipative Patientenentscheidungsfindung nicht umgesetzt (12).

Übertragbarkeit internationaler Befunde auf das Setting der ärztlich geführten Praxis
Die Defizite im aktuellen deutschen Gesundheitssystem beziehen sich auf die Gesamtheit der stationären und ambulanten Versorgung. Eine klare Differenzierung zwischen stationär und ambulant in Bezug auf die Versorgungsqualität ist nicht möglich. Bei der Übertragung der Studienergebnisse aus den genannten Quellen (1,2) auf die ambulante ärztliche Versorgung stellen sich folgende Fragen: Was ist aktuell in Deutschland der Standard für die ärztlich geführte Versorgungseinheit? Und: Ist der Standard (ärztlich geführte Versorgungseinheit) best practice im Sinne einer gemeinwohlgebundenen Krankenversorgung?

Die Optimierungsbereiche in der ärztlichen ambulanten Versorgung müssen bei der Übertragung von Studienergebnissen geprüft und berücksichtigt werden. Die Unterschiede zwischen investorgetragenen renditeorientierten und gewinnorientierten Praxen könnten aktuell in Deutschland gering sein. Hingegen könnten die Unterschiede deutlicher werden, wenn mit einer best practice Standardversorgung verglichen würde, die durch Evidenzbasierung wahrhaft patienten- und gemeinwohlorientiert wäre. Modelle dazu wie Primärversorgungszentren mit multiprofessionellem Team wurden in anderen Ländern erfolgreich erprobt und könnten auch für Deutschland eine bessere und effizientere Versorgung ermöglichen (13). Aus der Perspektive der Evidenzbasierten Medizin wäre zudem eine prospektiv geplante kontrollierte Evaluation jeglicher Eingriffe in die ärztliche Versorgungspraxis zu fordern. Das gilt in besonderem Maße auch für die Implementierung weiterer investorgetragener und auf Rendite ausgerichteter Einrichtungen der Patientenversorgung.

PROF. DR. MED. INGRID MÜHLHAUSER
Universität Hamburg
MIN Fakultat
Gesundheitswissenschaften
Ingrid.Muehlhauser@uni-hamburg.de
Tel: 040 / 42838 - 3988

PROF. DR. PHIL. GABRIELE MEYER
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Direktorin des Instituts für Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Medizinischen Fakultät

Literatur:

1) Borsa A, Bejarano G, Ellen M, Bruch J D (2023) Evaluating trends in private equity ownership and impacts on health outcomes, costs, and quality: systematic review BMJ 382: e075244 https://www.bmj.com/content/382/bmj-2023-075244

2) Kannan S, Bruch JD, Song Z (2023) Changes in hospital adverse events and patient outcomes associated with private equity acquisition. JAMA 330: 2365–2375. doi: 10.1001/jama.2023.23147

3) Windeler J (2008) Externe Validität. Z Evid Fortbild Qual Gesundheitswesen (ZEFQ) 102: 253–260. doi: 10.1016/j.zefq.2008.04.006

4) Jung A, Balzer J, Braun T, Lüdtke K (2022) Identification of tools used to assess the external validity of randomized controlled trials in reviews: a systematic review of measurement properties. BMC Medical Research Methodology 22: 100. https://bmcmedresmethodol.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12874-022-01561-5

5) Jung A, Braun T, Armijo-Olivo S, Challoumas D, Lüdtke K (2023) Consensus on the definition and assessment of external validity of randomized controlled trials: A Delphi study. Res Syn Meth 1–15. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1002/jrsm.1688

6) Collingridge Moore D, Payne S, et al (2020) Length of stay in long-term care facilities: a comparison of residents in six European countries. Results of the PACE cross-sectional study. BMJ Open 10: e033881. https://bmjopen.bmj.com/content/10/3/e033881

7) Fassmer AM, Pulst A, Spreckelsen O, Hoffmann F (2020) Perspectives of general practitioners and nursing staff on acute hospital transfers of nursing home residents in Germany: results of two cross-sectional studies. BMC Fam Pract 21 (1): 29. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7014634/

8) Rahm Hallberg I, Cabrera E, Jolley D, Raamat K, Renom-Guiteras A, Verbeek H, Soto M, Stolt M, Karlsson S (2016) Professional care providers in dementia care in eight European countries; their training and involvement in early dementia stage and in home care. Dementia 15 (5): 931-957. DOI: 10.1177/1471301214548520

9) Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) e.V. (2023) S2e-Leitlinie zum Schutz vor Über- und Unterversorgung – gemeinsam entscheiden. https://www.degam.de/files/Inhalte/Leitlinien-Inhalte/Dokumente/DEGAM-S2-Leitlinien/053-045%20Schutz%20vor%20Ueber-und%20Unterversorgung/oeffentlich/Publikationsdokumente/4.%20Aktualisierung%202023/Leitlinie%20Schutz%20vor%20%C3%9Cber-%20und%20Unterversorgung%20Langversion%202023.PDF

10) OECD/European Observatory on Health Systems and Policies (2021) Deutschland: Länderprofil Gesundheit 2021, State of Health in the EU, OECD Publishing, Paris/European Observatory on Health Systems and Policies, Brussels. https://health.ec.europa.eu/system/files/2021-12/2021chpde_german.pdf

11) Irving G, Neves AL, Dambha-Miller H, et al (2017) International variations in primary care physician consultation time: a systematic review of 67 countries. BMJ Open 7: e017902. https://bmjopen.bmj.com/content/7/10/e017902

12) Mühlhauser I (2024) Warum anlassloses Testen (fast immer) zufriedenstellt - auch wenn es (fast immer) schadet. KVH Journal 2: 20-23. https://journal.kvhh.net/2-2024/warum-anlassloses-testen-fast-immer-zufriedenstellt-auch-wenn-es-fast-immer-schadet

13) Ulrich LR, Pham TT, Gerlach FM, Erler A (2019) Family Health Teams in Ontario – Vorstellung eines kanadischen Primärversorgungsmodells und Anregungen für Deutschland. Gesundheitswesen 81: 492-497. doi: 10.1055/s-0043-111406

14) Statistica (2024). Pflegeheime nach Trägerschaft in Deutschland bis 2021. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/201876/umfrage/anzahl-von-pflegeheimen-nach-traegerschaft-in-deutschland/

15) Bourgeron T, Metz C, Wolf M (2021) Finanzialisierung in der Altenpflege. Berlin: Finanzwende/Heinrich-Böll-Stiftung. https://www.finanzwende-recherche.de/wp-content/uploads/2021/10/FinanzwendeBourgeronMetzWolf2021Private-Equity-Investoren-in-der-Pflege20211013.pdf

16) Sausse H-G (2023) Ziehen sich die Investoren aus der Altenpflege zurück? https://www.pflegen-online.de/ziehen-sich-die-investoren-aus-der-altenpflege-zurueck

17) Geraedts M, Harrington C, Schumacher D, Kraska R (2016) Verhältnis zwischen Qualität, Preis und Profitorientierung deutscher Pflegeheime. Z Evid Fortbild Qual Gesundh wesen (ZEFQ) 112: 3-10. doi: 10.1016/j.zefq.2016.03.002

18) Evers J, Geraedts M (2023) COVID-19 risks in private equity nursing homes in Hesse, Germany - a retrospective cohort study. BMC Geriatr 23 (1): 648. https://bmcgeriatr.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12877-023-04361-8

19) Pwc (2023) Transaktionsmonitor Gesundheitswesen. Edition 12, Frühjahr 2023. https://www.pwc.de/de/newsletter/transaktionsmonitor-gesundheitswesen/pwc-transaktionsmonitor-gesundheitswesen-edition-12-fruehjahr-2023.pdf