Eine Krankenversicherung ist genug
Kolumne
von Dr. Bernd Hontschik
Chirurg in Frankfurt/Main
Sie sind Mitglied in einer Gesetzlichen Krankenkasse, wie 90 Prozent der Bevölkerung? Sie gehen davon aus, dass Ihr Krankenkassenbeitrag auch bei Ihrer Krankenkasse landet, bei der Sie Mitglied sind? Das ist ein Irrtum. Leider ist ja die Gesundheitspolitik hinter den großen Krisen unserer Zeit kaum noch zu sehen, und wenn, geht es entweder um die völlig missglückte Krankenhausrevolution oder um Cannabis.
Dabei ist der aktuelle Zuschnitt der Gesetzlichen Krankenversicherungen nach wie vor ein Skandal, ein teurer noch dazu.
Obwohl alle Krankenkassen einen völlig identischen Auftrag haben, nämlich Gesundheit erhalten, wiederherstellen und verbessern, leisten wir uns in Deutschland den Luxus von 95 Gesetzlichen Krankenkassen.
Immerhin ist das schon ein Fortschritt: Gab es Ende des 19. Jahrhunderts noch Tausende von Kassen, Orts-, Betriebs-, Fabrik-, Bau- Innungs-, Knappschafts-, Hilfskassen und Gemeinde-Krankenversicherungen, später noch dazu die Ersatzkassen für Angestellte, so waren es 1970 noch 1815, 1990 noch 1147, im Jahr 2000 noch 420, und heute gibt es nur noch 95 Kassen.
Aus meiner Sicht sind das immer noch 94 zu viele. Eine wäre völlig genug.
Seit Jahren wird über die Umgestaltung der Gesetzlichen Krankenversicherung gestritten. Die von der CDU favorisierte „Kopfpauschale“ sieht einen feststehenden, für jeden gleich hohen Versicherungsbeitrag pro Kopf vor. Das SPD-Modell von Grünen und Linken heißt „Bürgerversicherung“: Alle Bürger würden in die Versicherungspflicht einbezogen, die Beitragshöhe richtete sich nach dem Einkommen.
Nach der Bundestagswahl 2005 kam es zu einer Großen Koalition, keine der beiden Parteien konnte sich durchsetzen. Diese zwei an sich völlig unvereinbaren Modelle wurden daher vermischt, und heraus kam zum 1. Januar 2009 ein Hybrid: der Gesundheitsfonds.
Was ist das eigentlich? Sämtliche Beitragszahlungen landen seitdem nicht mehr bei Ihrer Krankenkasse, sondern zuerst in einem großen Topf, dem sogenannten Gesundheitsfonds. Aus diesem Fonds erhalten die Krankenkassen nun Geldzuweisungen. Die entscheidende Größe für die Höhe dieser Geldzuweisungen ist die Morbidität der Mitglieder: Je mehr Kranke und je schwerer die Krankheiten, desto höher die Zuweisung aus dem Gesundheitsfonds.
Dazu bedurfte es nun eines komplizierten Ausgleichsystems. Grundlage dafür ist eine Liste von mehr als achtzig chronischen, ausgabenintensiven Erkrankungen. Je mehr solch schwere Erkrankungen eine Krankenkasse an das Bundesversicherungsamt melden kann, desto mehr Geld erhält sie aus dem Gesundheitsfonds. Für dieses neu entstandene bürokratische Ungetüm wurde der Begriff des "Morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs" (Morbi-RSA) erfunden.
Die Folge dieses Paradigmenwechsels war wie ein Donnerschlag bis in die letzte Praxis des Landes zu spüren. Die Krankenkassen waren von einem Tag auf den anderen nicht mehr daran interessiert, möglichst gesunde Versicherte in ihren Reihen zu haben. Im Gegenteil: Je schwerer die Krankheit, desto mehr Geld floss.
Nun schwärmten speziell ausgebildete „Berater“ über das Land und besuchten die Arztpraxen. Ihre Botschaft war, dass ein grippaler Infekt doch auch als Verdacht auf Lungenentzündung verschlüsselt werden, hinter einer Schwindelattacke ein leichter Schlaganfall stecken und ein Rückenschmerz zur rheumatischen Erkrankung erklärt werden könnte. Das Ganze nannte man „Upcoding“.
Es gab für Ärzte und Ärztinnen seitens der Krankenkassen sogar eine Prämie pro Fall. Obwohl diese kriminellen Praktiken durch Whistleblower längst bekannt geworden waren, konnte noch 2016 Jens Baas, der Chef der mit fast zehn Millionen Mitgliedern größten deutschen Techniker-Krankenkasse, einen Sturm im Blätterwald auslösen, als er verkündete, dass Krankenkassen ständig weiter „schummeln“ und Ärztinnen und Ärzte weiterhin zu ständigem Betrug und Veruntreuung anhalten würden.
Die Ursache für die genannten Perversionen erkennt man schon am Namen des Gesetzes. Es hieß bezeichnenderweise „Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung“.
Es stellt sich die Frage, worum Krankenkassen eigentlich konkurrieren könnten? Haben nicht alle Kassen den völlig gleichen Auftrag? Die grandiose Idee der allgemeinen Krankenversicherung bestand doch in der Abdeckung des ökonomischen Erkrankungsrisikos des Einzelnen durch die Solidarität aller.
Warum gibt es heute überhaupt noch 95 Krankenkassen, 95 Verwaltungungsapparate, 95 Verwaltungssitze mit 95 Vorständen und 95 Aufsichtsgremien? Ist nicht der Gesundheitsfonds selbst schon Beweis genug, dass es nur einer einzigen Krankenkasse bedarf, auch wenn das sicherlich nicht die Absicht seiner Erfinder war.
Aber statt jetzt den einmal geschaffenen Gesundheitsfonds umgehend als einheitliche Krankenversicherung zu nutzen, wird das zentral gesammelte Geld mit größtmöglichem bürokratischem Aufwand wieder in die alten Strukturen hinein aufgeteilt: Ein Schildbürgerstreich, eine Geldverschwendung und Bürokratie pur.
DR. MED. BERND HONTSCHIK ist Chirurg und Buchautor.
Zuerst abgedruckt in der Frankfurter Rundschau – Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors
Aktuell im Buchhandel: „Heile und herrsche. Eine gesundheitspolitische Tragödie“, Westend-Verlag
E-Mail: chirurg@hontschik.de
https://chirurg.hontschik.de/
In dieser Rubrik drucken wir abwechselnd Texte von Dr. Bernd Hontschik, Dr. Christine Löber und Dr. Matthias Soyka.