Warum anlassloses Testen (fast immer) zufriedenstellt – auch wenn es (fast immer) schadet
Aus dem Netzwerk evidenzbasierte Medizin
Von Prof. Dr. med. Ingrid Mühlhauser im Auftrag des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin e.V. (www.ebm-netzwerk.de)
Dies ist das Land der Überdiagnostik und Übertherapie. So kommentierte schon Werner Bartens in der Süddeutschen Zeitung einen Ländervergleich der OECD für das Jahr 2014 (1).
Gemessen an seiner Wirtschaftsleistung hat Deutschland eines der teuersten Gesundheitssysteme. Bei der Lebenserwartung belegt Deutschland nach einer aktuellen Studie der Universität Rostock im westeuropäischen Vergleich jedoch nur den vorletzten Rang (2). Überdiagnostik und Übertherapie sind nicht nur ein Problem der stationären, sondern auch der ambulanten Versorgung. Erst kürzlich beklagten im britischen Ärzteblatt prominente deutsche Allgemeinmediziner „Overdiagnosis and too much medicine in a world of crises“ (3).
Unnötige Tests und Behandlungen schaden. Gesunde werden zu Kranken, weil sie Diagnosen erhalten, die sie ansonsten nicht bekommen hätten. Für die Solidargemeinschaft entstehen Folgekosten für die Abklärung falscher Verdachtsbefunde. Zeitliche, finanzielle und personelle Ressourcen werden zum Nachteil der Kranken gebunden. Die soziale Ungleichheit wird verstärkt. Und schließlich verstößt anlassloses Testen ohne medizinische Indikation gegen die ärztliche Ethik.
Der Arbeitskreis Frauengesundheit (AKF e.V.) ist der größte zivilgesellschaftliche Verein im deutschsprachigen Raum, der sich seit 30 Jahren kritisch mit Frauengesundheit in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft befasst.
Im letzten Jahr hat der AKF mehrere Fachtage zum Thema Schwangerschaft durchgeführt. Das abschließende Positionspapier konstatiert ein alarmierendes Ausmaß an Überdiagnostik durch medizinisch nicht indiziertes Testen (4). Indikationsstellung und Aufklärungsprozesse blieben dabei intransparent. Der AKF wünscht sich mehr Evidenzbasierung und Qualitätssicherung in der ambulanten Versorgung.
Nicht indiziertes Testen erfolgt wesentlich durch die sogenannten individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) (5). IGeL werden zunehmend an Kassenpatient:innen verkauft (6-8). Ein Viertel der Praxen hat spezielle Sprechstunden für selbstzahlende Kassenpatient:innen, und diese werden bei der Terminvergabe bevorzugt (6).
Die häufigste IGeL bei Frauen im Alter zwischen 20 und 69 Jahren ist die vaginale Ultraschalluntersuchung zur Früherkennung von Eierstock- oder Gebärmutterkrebs. Fast jede vierte Kassenpatientin berichtet in den letzten 3 Jahren, eine solche IGeL angeraten oder erhalten zu haben (7).
Das Screening auf Eierstockkrebs mit dem Ultraschall hat sich in großen randomisiert-kontrollierten Studien als nutzlos erwiesen. Es kann die Sterberaten an Eierstockkrebs nicht reduzieren, führt jedoch zu Überdiagnosen und unnötigen operativen Eingriffen. Medizinische Leitlinien raten ausdrücklich von dieser Untersuchung ab. Somit bezahlen in Deutschland Millionen von Kassenpatient:innen eine privatärztliche Leistung, die nachweislich mehr schadet als nützt.
Auch in der Schwangerschaft werden nicht medizinisch indizierte IGeL häufig an Kassenpatient:innen verkauft. Mehr als 90 Prozent der Schwangeren erhalten ein CTG (Cardiotokographie), obwohl die Mutterschaftsrichtlinien eine solche Untersuchung nur in Ausnahmefällen für indiziert erachten.
Auffallend ist die hohe Rate von 80 Prozent Risikoschwangerschaften in Deutschland. Es werden medizinisch fragliche Indikationen gestellt. Nach Abrechnungsdaten der KBV hatten 2020 bereits 16 Prozent der Schwangeren einen Gestationsdiabetes. Hingegen verzeichnet die "Bundesauswertung zum Erfassungsjahr 2020 Geburtshilfe" des IQTiG nur bei etwa neun Prozent der stationär Gebärenden einen Gestationsdiabetes. Die Gesundheitsinformation des IQWiG nennt weiterhin eine Rate von fünf Prozent.
Schwangerschaftsdiabetes ist keine harmlose Diagnose. Das engmaschige Monitoring der Zuckerwerte, Diätpläne und nicht selten Insulinspritzen greifen tief in das Leben einer Schwangeren und deren Familien ein.
Die Mutterschaftsrichtlinien sehen ein 2-stufiges Testverfahren vor. Hingegen empfahl die bisherige S3-Leitlinie den 1-stufigen oralen Glukosetoleranztest als Selbstzahlerleistung zu bevorzugen.
Eine randomisiert-kontrollierte Studie (RCT) unterstützt nun das 2-stufige Verfahren (9). Die Studie fand deutlich weniger Diagnosen Gestationsdiabetes beim 2-stufigen im Vergleich zum 1-stufigen Testen (8,5 Prozent versus 16,5 Prozent), ohne Auswirkungen auf klinisch relevante Endpunkte bei Mutter und Kind.
Eine weitere aktuelle RCT deutet zudem darauf hin, dass die derzeit empfohlenen Grenzwerte für die Diagnose Gestationsdiabetes zu tief liegen. Eine relativ geringe Anhebung der Grenzwerte war mit einer deutlich geringeren Diagnoserate an Gestationsdiabetes verbunden (6 Prozent versus 15 Prozent), ebenfalls ohne wesentliche Auswirkungen auf die klinischen Ergebnisse (10).
Demnach könnten derzeit an die 10 Prozent der Schwangeren eine medizinisch nicht gerechtfertigte Diagnose Schwangerschaftsdiabetes erhalten. Die S3-Leitlinie soll bis Ende 2024 aktualisiert werden. Aber schon bisher betonen die Mutterschaftsrichtlinien, dass das Screening auf Gestationsdiabetes lediglich ein Angebot ist. Ausdrücklich soll den Frauen ermöglicht werden, eine informierte Entscheidung zu treffen, ob sie diese Untersuchung in Anspruch nehmen wollen oder nicht. Eine spezielle Informationsbroschüre wird bereitgestellt. Die Aufklärungsprozesse bleiben jedoch intransparent, eine systematische Evaluation dazu fehlt.
Es gibt hunderte unterschiedliche und wechselnde IGeL (7). Nach Schätzungen kaufen die Versicherten jährlich für mehr als eine Milliarde Euro IGeL (8). Mehrere Versichertenbefragungen zeigen, dass die Patient:innen nicht die notwendige Aufklärung dazu erhalten, wie sie beispielsweise von der Bundesärztekammer und nach dem Patientenrechtegesetz verpflichtend vorgesehen ist (5-8).
Dennoch ist die Mehrheit der Kassenpatient:innen mit der ambulanten Versorgung zufrieden (7). Häufig werden IGeL von den Patient:innen selbst nachgefragt oder sogar gegen ärztlichen Rat verlangt. Es stellt sich die Frage, warum gesunde bzw. beschwerdefreie Versicherte zusätzlich zu ihren Kassenbeiträgen für medizinische Tests bezahlen, für die ein Nutzen nicht belegt ist oder die sogar nachweislich der Gesundheit schaden können.
Die Ursachen für das offensichtlich widersinnige Verhalten sind vielfältig. Der Glaube an „je früher, desto besser“, „mehr hilft mehr“ und „Testen schadet nicht“ ist in der Bevölkerung fest verankert. Vor allem gesundheitsbewusste Frauen aus dem bürgerlichen Milieu zeigen eine hohe Bereitschaft, zusätzliche medizinische Leistungen zu bezahlen (7).
Der Mangel an kritischer Gesundheitskompetenz und das weiterhin hohe Vertrauen in die Ärzteschaft erlauben ein Vergütungsmodell, das durch Überdiagnostik und Übertherapie inzwischen zu einem relevanten Problem für unser Gesundheitssystem geworden ist.
Basiskompetenzen in evidenzbasierter Medizin wären notwendig, um Sinn und Unsinn von medizinischem Testen zu verstehen. Die folgende Abbildung skizziert ein Schema zur Reflektion warum die Nutzlosigkeit oder sogar Schädlichkeit von Untersuchungen bei Personen ohne Beschwerden – anlassloses Testen – fast immer mit Zufriedenheit bzw. Erleichterung einhergeht, egal wie das Testergebnis ausfällt.
In der Regel lässt sich am Einzelfall nicht beurteilen, ob eine Untersuchung bei Gesunden nützlich ist oder nicht. Dazu braucht es aussagekräftige randomisiert-kontrollierte Studien. Der Trugschluss von kausalen Zuordnungen wird jedoch nicht erkannt. Bauchentscheidungen versagen hier, die persönliche Erfahrung ist irreführend und steht einer rationalen Auflösung entgegen.
Ärzt:innen, die sich bemühen, ihren Patient:innen die Unsinnigkeit anlasslosen Testens zu erklären, haben es nicht leicht. Unterstützung bietet nun die DEGAM an mit einem Projekt, das als living guideline zum „Schutz vor Über- und Unterversorgung – gemeinsam entscheiden“ angelegt ist (11). Aus Sicht der Evidenzbasierten Medizin ist der vorgeschlagene Ansatz der gemeinsamen informierten Entscheidung erfolgversprechend, sofern auch die Rahmenbedingungen für die Umsetzung einer patient:innen-zentrierten Medizin in Deutschland befördert werden.
UNIV.-PROF. DR. MED. INGRID MÜHLHAUSER
Universität Hamburg
MIN Fakultat
Gesundheitswissenschaften
E-Mail: Ingrid.Muehlhauser@uni-hamburg.de
Literatur
1) Bartens W (2016) Warum Deutschland lange nicht das gesündeste Land Europas ist. SZ vom 25.11.2016
2) Jasilionis D et al (2023) The underwhelming German life expectancy. European Journal of Epidemiology 38: 839–850
3) Kühlein T et al (2023) Overdiagnosis and too much medicine in a world of crises. BMJ 382: 1865
4) Arbeitskreis Frauengesundheit (2023) Der Arbeitskreis Frauengesundheit (AKF e.V.) fordert Transparenz und Evidenzbasierung in der ambulanten Versorgung von Schwangeren. 02.03.2023
5) Eikermann M (2022) Bewertung individueller Gesundheitsleistungen im IGeL-Monitor. KVH-Journal 12: 22-25
6) Ärztenachrichtendienst Verlags-AG (änd) (2023) Selbstzahlersprechstunde für Kassenpatienten: Hohes Interesse in der Ärzteschaft. 03.02.2023
7) Drews M, Reiners N (2023) IGeL-Report 2023. Ergebnisse der Versichertenbefragung. 10.03.2023
8) Zok K (2019) Private Zusatzleistungen in der Arztpraxis - Ergebnisse einer bundesweiten Repräsentativ-Umfrage unter gesetzlich Versicherten. WIdO-monitor 16(1): 1–12
9) Hillier TA et al (2021) A pragmatic, randomized clinical trial of gestational diabetes screening. NEJM 384: 895-904
10) Crowther CA et al; GEMS Trial Group (2022) Lower versus higher glycemic criteria for diagnosis of gestational diabetes. NEJM 387: 587-598
11) Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin e.V. (2023) S2e-Leitlinie zum Schutz vor Über- und Unterversorgung – gemeinsam entscheiden.