5/2023 5/2023

Alle krank?

Kolumne

von Dr. Christine Löber, HNO-Ärztin in Hamburg-Farmsen

Alle paar Jahre habe ich eine Sepsis, sogar eine kalte Sepsis, denn ich besitze kein Thermometer. Sonst bin ich nie krank, denn ich bin ja Ärztin, wir haben von Natur aus keine Krankheiten.

Die Sepsis kommt immer, wenn ich zuviel zu tun habe. Mich überfällt ein diffuses Gefühl des Nahtods, und dann muss ich mit der Sepsis per pedes in eine ZNA eilen. Da lasse ich mir Sepsis-Blut abnehmen und gehe dann wieder nach Hause. Natürlich bin ich immer völlig gesund. Aber eben auch nicht. Aber in einer ZNA völlig falsch.

In diesen Momenten bin ich eine ganz normale Patientin. Krank, aber auch nicht krank. Auch nicht zwangsläufig psychisch krank, das wird den ganzen Leuten ja gern unterstellt, die scheinbar grundlos in eine Notaufnahme oder eine Praxis rennen.

Wir Deutschen gehen aus irgendwelchen Gründen unheimlich gern zum Arzt. Ich erinnere eine Zahl von vor ein paar Jahren, da ging die/der Deutsche 18mal im Jahr zum Arzt. Mitunter hat man nun das Gefühl, dieser Wert nähert sich eher 18mal pro Quartal an.

Sehr schwierig ist, dass sich mit diesem Phänomen niemand befasst. Jens Spahn hat ja immer eindrucksvoll proklamiert, dass wir hier das beste Gesundheitssystem der Welt hätten. Ein Glück, denn hier sind ja alle immer krank!

Die Antwort auf diese ganzen Kranken: Mehr Sprechstunden anbieten (das schaffen die faulen Ärzte schon!), permanent medizinische Versorgung bereitstellen, immer mehr Angebot schaffen, alle sollen jederzeit wegen allem irgendwo zum Arzt gehen können. Dann ist das Gesundheitssystem endlich wirklich das beste der Welt. More, more, more/ How do you like it, how do you like it.

Diese Antwort ist deshalb so fatal, weil es vor der Antwort überhaupt keine vernünftige Fragestellung gab.

Und eine der vielen wichtigen Fragen behandelt das unerklärliche Siechtum der Bevölkerung: Warum sind die Leute dauernd krank? Was haben diese Leute? Und wenn sie gesund zum Arzt gehen, was sind die Beweggründe? Warum machen sie permanent Arzttermine, tauchen dann aber gar nicht auf? Und, extrem wichtig: Was für eine Rolle spielt es, dass man einfach eine Karte durchziehen und Wunschuntersuchungen verlangen kann, von denen der Nachbar erzählt hat?
(Natürlich werden diese in der Regel nicht erfüllt, aber das Thema Anspruchshaltung wird noch eine gesonderte Kolumne bekommen, weil auch das ein zentrales Problem ist, wie wir alle wissen.)

Nun zurück zu den ganzen Krankheiten. Vorstellungsgründe beim Arzt können sein: Der Schnupfen ist seit gestern nicht weg, vor zwei Wochen hat einmal der Kopf wehgetan, man möchte mal ohne Beschwerden ein MRT von irgendwas haben „zum Check“. Aus meiner ZNA-Zeit erinnere ich gut „Schmutzige Hände nach Gartenarbeit“ und „Trockener Mund“ nachts um vier.

Ein interessantes Phänomen lässt sich in Social Media beobachten. Da wird sehr gerne und ausführlich darüber berichtet, was man alles für Krankheiten hat.

Eine Patientin von mir, Mitte 90, sagt immer: „Ich kann meine Gleichaltrigen nicht mehr ab, die reden nur noch über Krankheiten!“

Im Internet reden aber nun auch die 35jährigen nur noch über Krankheiten.
In einem halb leidenden, halb sich in das schwere Schicksal ergebenden Tonfall wird geseufzt, „Hach, dann geh ich jetzt wohl mal in die Notaufnahme!“ Mitunter meint man, hier sogar ein bisschen Freude und Erleichterung über die neuerliche (Nicht-)Erkrankung festzustellen.

Krankheit gibt Aufmerksamkeit, Zuwendung, viele kleine Herzchen und das Gefühl, nicht allein zu sein. Und seien es fremde Menschen im Internet, die diese Zuwendung schenken. Oder eben das Personal in der ZNA.

Wir kennen das alles, das ist auch nicht neu, aber der Ton wird rauher. Jeden Tag Unterlassene-Hilfeleistungs-Getobe, Klageandrohungen, man wird ja wohl noch 18mal im Quartal zum Arzt gehen dürfen, Wartezimmer-Cancel-Culture!

Selbstverständlich können die Leute nicht wissen, was sie für Krankheiten haben, deshalb besuchen sie uns ja. Ich bin ein furchtbarer Internetjunkie, verteufele das Netz aber sehr, wenn es um die Inspiration zu neuen Krankheitsbildern bei ziemlich gesunden Menschen geht.

Selbstverständlich gibt es die „echten“ Kranken, die unbedingt behandelt werden müssen. Erreichen wir diese Patient:innen mit einem ausufernden Überangebot an angeordneter Versorgung? Eher weniger. Haben wir diese Patient:innen überhaupt identifiziert? Gibt es abseits von Präventionsprogrammen irgendwelche Überlegungen, wie man diese Menschen besser erreichen kann?

Ein befreundeter Kinderarzt hat neulich gesagt, dass das Ausweiten der Notfallsprechstunde bei ihm dazu führt, dass die üblichen Verdächtigen mit den unauffälligen Kindern eben noch zweimal mehr mit banalem Schnupfen vorstellig werden, während die Kinder, um die es eigentlich geht, weiterhin nicht zu erreichen sind.

Wir haben eine Situation, in der Kranksein in der Gesellschaft in vielen Fällen einen ausgeprägten sekundären Krankheitsgewinn mit sich bringt. Kranksein ist en vogue.

Kapazitäten wollen unbedingt genutzt werden, denn es wird auch von politischer Seite beigebracht, dass man mit allen Befindlichkeitsstörungen immer irgendwo hingehen soll. Parallel ist die Einschätzung der eigenen Beschwerden in der Bevölkerung erstaunlich schlecht, möglicherweise auch deshalb, weil die erste Referenz das Internet ist.

Die Ressourcen sind aber nur sehr begrenzt vorhanden, die Wertschätzung dieser Ressourcen ist enorm klein, der Umgang damit verschwenderisch. Gleichzeitig ist die Anspruchshaltung in der Bevölkerung unvorstellbar hoch, was alle Aspekte der medizinischen Behandlung angeht.
Wer in dieser Situation als weitere Antwort ohne Fragestellung „Bürgerversicherung!!!“ in den Raum schmeißt, hat die Problematiken nicht ansatzweise verstanden.

Dies hier ist nur ein sehr unvollständiger Anriss eines hochkomplexen Problems, ich bitte das zu entschuldigen.

Fühle mich jetzt sehr erschöpft von einer langen Praxiswoche und dem ganzen Geschreibe.
Sie wissen ja, wo ich dann jetzt wohl hingehen muss, werfen Sie mir viele Herzchen und Umarmungssticker zu.

DR. CHRISTINE LÖBER ist HNO-Ärztin und Buchautorin.
Aktuell im Buchhandel: „Immer der Nase nach“ (zusammen mit Hanna Grabbe), Mosaik Verlag / Hamburg

In dieser Rubrik drucken wir abwechselnd Texte von Dr. Christine Löber, Dr. Matthias Soyka und Dr. Bernd Hontschik.