5/2022 5/2022

"Wer kann spontan hinfahren?"

Interview

Die Versorgung ukrainischer Flüchtlinge in der Erstaufnahmeeinrichtung leistete zunächst eine freiwillige Initiative. Dr. Janneke Ohlhoff über die ersten Tage einer erfolgreichen Selbstorganisation.

Sie gehören zu jenen Freiwilligen, die in den Hamburger Messehallen eine medizinische Erstversorgung für Geflüchtete aus der Ukraine aufgebaut haben. Wie konnten Sie so schnell reagieren?

ohlhoff: Wir Hamburger Kinderärztinnen und -ärzte sind gut vernetzt. Seit Coronazeiten gibt es einen großen Verteiler. Außerdem haben viele von uns 2015/2016 in der Flüchtlingsversorgung in unterschiedlichen Gruppierungen geholfen: Ich war mit der Allgemeinmedizinerin Inga von Waldersee in der Schnackenburgsallee aktiv, während Martin Rustige mit einem sehr aktiven Team aus MFAs, Kinderkrankenpflegern und -schwestern und Kinderärztinnen und -ärzten in Einrichtungen des DRK im Einsatz war. Über diesen Kontakt wurde Martin Rustige vom DRK-Mitarbeiter Carsten Moll am Morgen des 8. März gebeten, für die pädiatrische Versorgung der angekommenen Familien mit Kindern in den Messehallen zu sorgen. Martin Rustige war mit seiner Familie gerade im Skiurlaub. Er startete einen Aufruf in den Messenger-Gruppen: „Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wichtiger Aufruf für einen Einsatz heute in der Erstaufnahme Messehallen für Flüchtlingen aus der Ukraine!“ Es seien in der Nacht viele Flüchtlinge angekommen, darunter auch viele Kinder und auch viele akut erkrankt. Ein Container sei vor Ort, ob jemand hinfahren könne, um zu helfen und auch eine erste Einschätzung vorzunehmen.

Wo waren Sie, als Sie diese Nachricht erhielten?

Ohlhoff: Ich saß gerade mit meinem Sohn beim Frühstück und antwortete ganz spontan: „Ich fahre jetzt hin mit Minimal-Equipment.“ Ich telefonierte mit dem DRK-Mitarbeiter Carsten Moll, fragte, was an Ausstattung gebraucht wurde, und erfuhr bei diesem Gespräch auch, dass es noch keinen Erwachsenenmediziner vor Ort für diesen Tag gab. Deshalb informierte ich meinen Mann Karsten Ohlhoff, von dem ich wusste, dass er sich freimachen konnte. Ich telefonierte dann mit der KV und dem Altonaer Kinderkrankenhaus (AKK), um spontane und unkonventionelle „Amtshilfe“ zu erbitten. Mit einer Erstausstattung, die ich aus meiner Praxis und der Kindernotfallpraxis im AKK zusammengesammelt hatte, radelte in die Messehallen. So hat das alles begonnen.

Wie viele Helferinnen und Helfer waren dort?

Ohlhoff: Als ich vollbeladen mit meinem Fahrrad in den Messehallen ankam, stand schon Julian Jochims, Kinderkrankenpfleger aus dem Mariahilf, parat. Während wir Kinder anschauten, machte mein Mann Karsten einen Aufruf und bat alle Geflüchteten, sich zu melden, wenn sie eine chronische Erkrankung hatten oder ein Medikament und Hilfe brauchten. Das war schon ein kleiner Tsunami. Als Dolmetscherin stand eine 13-jährige ukrainische Jugendliche zur Verfügung, die seit einigen Jahren mit ihrer Familie in Hamburg lebt. Die Mutter übersetzte derweil in der Halle. Schon am nächsten Tag vergrößerte sich das Team. Moritz Flick (Anästhesist aus dem UKE) und Wiebke Herr (Internistin) kümmerten sich um die Patienten, da war die von Karsten erstellte Patientenliste schon sehr hilfreich. Es wurden alphabetische Ordner angelegt, kyrillisch geschriebene Dokumentationsbögen entworfen und kopiert, Sachen besorgt … Ein medizinisch vorgebildeter ghanaischer Übersetzer, der Russisch, Ukrainisch, Englisch und Deutsch kann, hat uns unterstützt. Martin Rustige organisierte derweil von der Ski-Piste aus die Dienstplanung für die nächsten zwei Wochen für die Ärzte, während Julian Jochims die Dienstplanung im MFA-Team organisierte. Es fanden sich Frühschichten für Allgemeinmedizinerinnen und Nachmittagsschichten für Kinderärzte, MFAs und Allgemeinmediziner. Es ist schon beeindruckend, wie schnell sich so viele engagierte Menschen fanden. Zu Kommunikationszwecken wurden diverse Nachrichtengruppen gebildet. Es war gut, in dieser Zeit etwas tun zu können.

Wie war der Kinderarzt-Container ausgerüstet?

Ohlhoff: Es gab ein Feldbett und einen kleinen Rolltisch. Wir haben dann noch mit dem DRK einen Tisch, mehrere Stühle und Ausstattung organisiert. Das Projekt wurde in den folgenden zwei Wochen ganz wunderbar von den Gruppenmitgliedern getragen. Es wurde organisiert, was notwendig war. Wenn ich in der Gruppe schrieb: "Wir brauchen eine Wickelauflage", dann antwortete gleich jemand: "Bringe ich vorbei." Als viele Kinder und Erwachsene an einem Magen-Darm-Infekt litten, wurden Kartons voller Salzbrezeln in die Container gebracht. Oder es wurde Kochsalznasenspray gekauft. Aber es gab auch Spenden von Apotheken mit Lutschpastillen und Hustensaft, was man nicht rezeptieren konnte. Es wurden Standards entworfen, wie die Versorgung laufen sollte, damit der Nachschub gesichert war.

Wie haben Sie mit den Patienten kommuniziert?

ohlhoff: Einige Geflüchtete können Englisch. In den ersten Tagen haben uns die ukrainischen Hamburgerinnen (Tochter und Mutter) und der ghanaische Übersetzer unglaublich geholfen. Aber auch Google translate funktioniert wunderbar.

Wie unterscheiden sich diese Patienten von jenen, die Sie während des Zuzugs von Geflüchteten 2015/2016 behandelt haben?

Ohlhoff: Viele Menschen, die wir damals versorgt haben, waren über mehrere Jahre hinweg nicht mehr ärztlich gesehen worden. Sie kamen aus langanhaltenden desolaten Kriegszuständen, manche waren schon seit einem halben Jahr auf der Flucht. Die Menschen, die jetzt aus der Ukraine flüchten, wurden aus einem Leben gerissen, das unserem sehr ähnlich ist. Sie kommen aus einem Land, in dem es eine sehr gute medizinische Versorgung gab. Ein Junge, mit dem ich in den Messehallen sprach, hatte am 22. Februar noch eine Koloskopie erhalten – das Ergebnis aber nach Kriegsbeginn nicht mehr mitgeteilt bekommen. Eine Frau sagte mir: „Ich habe ein Mamma-Karzinom, bekomme eine Chemotherapie und benötige in vier Tagen die nächste Infusion.“ Sie hatte sogar den Chemotherapieplan dabei. Wir versuchen in diesen Fällen, eine Fortsetzung der Therapie oder des Behandlungsschemas zu organisieren. Da hilft es auch, eine gut vernetzte Gruppe im Hintergrund zu haben.

Sind die Geflüchteten aus der Ukraine leichter in die Regelversorgung zu integrieren?

ohlhoff: Es ist natürlich gut, dass es diesmal bereits bekannte und bewährte Abrechnungsmodalitäten für die Praxen gibt. Doch man wird den Geflüchteten nicht einfach sagen können: "Hier hast Du eine Krankenversicherungs-Karte, such Dir eine Praxis!" Viele Geflüchtete sind schwer traumatisiert, die lassen ihre Familien nicht allein. Und für Personen, die mit Corona infiziert sind oder Brechdurchfall haben, ist es ohnehin besser, zunächst eine Vor-Ort-Medizin in Anspruch zu nehmen. Man braucht jemanden in der Erstaufnahmeeinrichtung, der ein medizinisches „Gatekeeping“ durchführt und entscheidet: „Dieser Patient wird sofort versorgt. Der hier sollte nächste Woche in einer der Kliniken gesehen werden. Das ist ein Herz-Kindchen, das ambulant geschallt werden kann.“ Wir wenden uns dann gezielt an Personen und Institutionen, die wir kennen, um Patienten in die richtige Versorgung weiterzuvermitteln und die Wege und den Aufwand für die traumatisierten Familien so gering wie irgend möglich zu halten. Und viele, gerade der Erwachsenen, benötigen nur eine Fortsetzung ihrer medikamentösen Therapie – da muss man dann aber erst einmal übersetzen und etwas Nachforschung betreiben. Letztendlich ist denen oft aber mit einem Rezept ausreichend geholfen, und sie müssen nicht eine Praxis aufsuchen, die oft schon mit der Sprachbarriere Schwierigkeiten bekommt.

Nun soll die Versorgung in der Erstaufnahmeeinrichtung institutionalisiert werden. Welche Kon­struktion würden Sie vorschlagen?

ohlhoff: Die Stadt kann ja bereits auf Erfahrungen mit der Versorgung von Geflüchteten zurückgreifen. Die Konstruktion der Jahre 2015/2016 hat sich durchaus bewährt. Damals gab es Honorarverträge, die wir Ärztinnen und Ärzte direkt mit den Betreibern der Erstaufnahmeeinrichtungen abgeschlossen hatten. Das funktionierte sehr gut. Nach einiger Zeit benötigte man diese Strukturen nicht mehr, weil die Geflüchteten in der Regelversorgung angekommen oder nicht mehr in Hamburg waren. So wird es diesmal hoffentlich auch sein. Doch bis dahin sollte man es den Geflüchteten so leicht wie möglich machen. Sie brauchen einen geschützten Ort, der ihnen die Ankunft erleichtert. Mit Schule und Kinderbetreuung. Und mit einer medizinischen Erstbetreuung durch einen festen Stamm von Ärzten und Pflegekräften, die gern mit Geflüchteten arbeiten und die ihre Aufgaben mit viel Engagement erledigen. Die Verteilung auf spezialisierte Medizin sollte sinnvoll und organisiert erfolgen. Eine Triage kann helfen. Wir Ärzte, die wir da gerade arbeiten, sind in Hamburg eben auch gut vernetzt, das kann hierbei sehr hilfreich sein.