Nachgefragt
Welche Erfahrungen haben Sie mit der Versorgung von Geflüchteten gemacht?
Psychotherapie
Ich behandle seit mehr als 15 Jahren traumatisierte Patientinnen und Patienten – darunter viele auch aus Russland, Kasachstan, Aserbaidschan, Armenien. Ich spreche Russisch, und in den letzten Wochen habe ich die ersten ukrainischen Flüchtlinge bei Centra, dem Koordinierungszentrum für traumatisierte Geflüchtete, gesehen. Einerseits unterscheiden sich die Probleme der ukrainischen Flüchtlinge nicht grundsätzlich von denen anderer Geflüchteter: Sie wurden aus ihrer Umgebung gerissen, haben ihr Zuhause, ihre Freunde, die ganze kulturelle Verbundenheit verloren. Auf unbestimmte Zeit. Anderseits werden Geflüchtete aus Afghanistan, Irak, Iran und anderen Ländern zusätzlich belastet durch unsicheren Aufenthaltsstatus, Abschiebung und das Verbot, eine Tätigkeit auszuüben. Wenn Menschen Krieg, Gewalt und Verfolgung erleben, egal in welchem Land, hat es ähnliche Auswirkung auf den psychischen Zustand. Der russische Angriff in der Ukraine führt wahrscheinlich zu einer der größten Menschenfluchten seit dem 2. Weltkrieg. Bei Flüchtlingen aus der Ukraine wurde zum allerersten Mal die europäische Richtlinie „zum vorübergehenden Schutz“ von massenhaft Vertriebenen angewendet, die in Deutschland unter Paragraph 24 (Ausländergesetz) definiert ist. Menschen aus der Ukraine können völlig unkompliziert ein bis maximal drei Jahre Aufenthalt in Deutschland bekommen, können Jobs annehmen und Arbeit suchen sowie soziale und medizinische Leistungen in Anspruch nehmen. Ich erwarte eine zunehmende Nachfrage nach Therapieplätzen bei Menschen aus der Ukraine, wobei die Störungsbilder neben Traumafolgestörungen sicherlich auch im Bereich von Anpassungsstörungen, depressiven Störungen und Angststörungen zu finden sind.
Allgemeinmedizin
Wir bieten an einem Abend pro Woche spezielle Sprechstunden für ukrainische Geflüchtete an. Die Abläufe im System scheinen zu funktionieren: Die Ukrainerinnen und Ukrainer, die zu uns kommen, haben Bescheinigungen, wonach sie bei der AOK Bremen/Bremerhaven angemeldet sind. Wir können also problemlos überweisen und Medikamente aufschreiben. Unser Team bezahlen wir für die Überstunden, und die Übersetzung müssen wir „zukaufen“: Das ist unser Obolus für die ukrainischen Geflüchteten. Fast alle Patientinnen und Patienten aus der Ukraine wirken spürbar belastet, sie sind sehr gut organisiert und haben nachvollziehbare Gründe, die Sprechstunde zu nutzen. Allerdings müssen wir längere Termine einplanen: Wir machen Anamnese, fragen den Impfstatus ab. Manchmal ist es sehr aufwändig, die Patientinnen und Patienten auf die hierzulande verfügbaren Medikamente umzustellen. Anhand von Internetrecherchen muss man klären: Welche Wirkstoffe sind in den bisher eingenommenen Medikamenten enthalten? Wie heißen die in Deutschland gängigen Äquivalente? Inzwischen haben wir beschlossen, dass es zwei Abend-Sprechstunden für ukrainische Geflüchtete pro Woche geben soll. Der Andrang wird größer. Ob wir das Angebot auf Dauer aufrecht erhalten können, hängt unter anderem davon ab, in welchem Umfang die Übersetzer verfügbar sind. Auf jeden Fall werden wir anhand der KV-Arztsuche einen Flyer mit russischsprachigen Facharzt-Praxen zusammenstellen, den wir geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern in die Hand drücken können.
Gynäkologie
Seit den ersten Tagen nach Kriegsbeginn kommen Geflüchtete aus der Ukraine in meine Praxis. Viele dieser Patientinnen sind in sich gekehrt, traurig und schockiert. Man merkt ihnen an, dass sie einen schweren Weg hinter sich haben. Die meisten von ihnen sind allein nach Deutschland gekommen – schwanger, einige hochschwanger, aber ohne ihre Männer, die sie in der Ukraine zurücklassen mussten. Die ukrainischen Frauen, die ich behandelt habe, kommen meist aus den großen Städten und sind hinsichtlich ihrer Schwangerschaft gut aufgeklärt. Viele haben ein Äquivalent zu unserem Mutterpass dabei, einen Arztbrief oder andere medizinische Unterlagen. Ich kann diese Dokumente lesen und mit den ukrainischen Patientinnen direkt kommunizieren. Meine Familie kommt aus Moldavien, ich spreche Russisch. Auch die Ukrainerinnen sprechen Russisch, die Sprache ist mit dem Ukrainischen eng verwandt. Diese Nähe macht den Krieg noch unbegreiflicher.