Gesundheitliche Vorausplanung ("Advance Care Planning") für valide umsetzbare Patientenverfügungen
Aus dem Netzwerk evidenzbasierte Medizin
Evidenz zu einer hoch relevanten, komplexen Public-Health-Intervention
Von Prof. Dr. Tanja Krones im Auftrag des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin e. V. (www.ebm-netzwerk.de)
Dass wir bei Medikamenten, Operationstechniken oder bevölkerungsweiten Krebsscreening-Programmen oder strukturierten Behandlungspfaden nach der Evidenz für Nutzen, Schaden, Effizienz und (Kosten)-Effektivität fragen, und diese bei positiver Evaluation im solidarischen Gesundheitssystem refinanzieren, ist für uns mittlerweile selbstverständlich.
Hierbei werden die Entwicklung, Implementierung und Evaluation von medizinischen Interventionen zunehmend multiprofessionell und gemeinsam mit Patient:innen vorangetrieben. Dass die Verfassung und Umsetzung von Patientenverfügungen, wie ein Testament, primär eine juristisch abgesicherte Angelegenheit ist, es um ein Papier geht, welches notariell beglaubigt und (manchmal) von einem Arztstempel verziert in der Schlafzimmerschublade verschwindet, und erst dann herausgezogen wird, wenn «nichts mehr geht», ist ein Bild, welches sich im deutschsprachigen Raum recht lange gehalten hat.
Dabei geht es um etwas ganz anderes: Darum, dass Patient:innen in allen Situationen, in denen sie akut, temporär oder chronisch nicht in der Lage sind, selbst zu entscheiden, medizinisch so behandelt werden, wie dies ihren wohlerwogenen Wünschen entspricht. Der kanadische Bioethiker Peter Singer war einer der ersten, der den Begriff der gesundheitlichen Vorausplanung Mitte der 1990er Jahre prägte:
»Advance Care Planning ist ein Prozess, in welchem ein Patient, in Absprache mit Gesundheitsfachpersonen und anderen wichtigen Bezugspersonen, Entscheidungen über seine oder ihre zukünftige Behandlung trifft. Basierend auf dem ethischen Prinzip der Autonomie und der rechtlichen Voraussetzung der informierten Zustimmung, hilft Advance Care Planning, sicherzustellen, dass eine informierte Zustimmung auch respektiert wird, wenn der Patient nicht in der Lage ist, am Prozess der Behandlungsentscheidung teilzunehmen. Ärzte können dabei eine wichtige Rolle spielen, indem sie Patienten über Advance Care Planning informieren, ihnen entsprechende Ressourcen bereitstellen und sie im Beratungsprozess unterstützen und dabei helfen, Patientenverfügungen entsprechend der Prognose anzupassen.«* (Singer et al, 1996:1689, Übers. TK)
Advance Care planning (ACP), die gesundheitliche Vorausplanung inklusive der Erstellung von individuellen Patientenverfügungen, wird also als fortlaufende Behandlungsplanung für mögliche Situationen der Einwilligungsunfähigkeit definiert. Es bezeichnet einen Prozess im Gesundheitswesen, in welchem Ärzt:innen und, gemäß einer neueren international abgestützten Definition auch weitere qualifizierte Gesundheitsfachpersonen (Rietjens et al 2017, Sudore et al 2017), durch professionelle Information, Kommunikation, Dokumentation und Implementierung daran beteiligt sind, eine patientenorientierte Behandlungsqualität sicherzustellen. ACP ist damit nichts anderes als eine komplexe Intervention, an welche dieselben Anforderungen an Struktur,- Prozess- und Ergebnisqualität gestellt werden müssen, wie an alle anderen (komplexen) medizinischen Interventionen.
ACP in Deutschland
2015 hat der deutsche Gesetzgeber im Rahmen der Verabschiedung des Hospiz- und Palliativgesetzes ACP mit dem neuen Paragraphen 132g ins Sozialgesetzbuch V integriert. Seither können «zugelassene Pflegeeinrichtungen (…) und Einrichtungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen» den Versicherten eine «gesundheitliche Versorgungsplanung für die letzte Lebensphase anbieten».
Die Entscheidung wurde auch aufgrund der Ergebnisse einer prospektiven, kontrollierten, nicht randomisierten inter-regionalen Interventionsstudie in Deutschland getroffen (in der Schmitten et al. 2014). Diese konnte nachweisen, dass durch das teils auch in randomisiert-kontrollierten Studien und verschiedenen Gesundheitssystemen untersuchte und auf die Deutsche Situation übertragene US amerikanische ACP Programm «Respecting Choices» (https://respectingchoices.org), die Anzahl umsetzbarer Patientenverfügungen von Bewohner:innen in Pflegeheimen signifikant erhöht werden konnte.
Die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer kam in ihrer 2019 veröffentlichten Stellungnahme unter Berücksichtigung der internationalen Studienlage zu dem Schluss, dass ACP ein vielversprechendes, in Deutschland aber noch wenig gelebtes Konzept darstellt (ZEKO 2019, DÄ 2019).
Internationale Studienlage
Im selben Jahr der Veröffentlichung dieser ersten systematischen Studie zu Effekten von ACP in Deutschland erschienen zwei systematische Reviews (Brinkmann-Stoppelenburg et al. 2014, Houben et al., 2014), die zu dem Schluss kamen, dass vornehmlich komplexe, auf qualitativ hochwertiger Kommunikation und regionaler Implementierung beruhende ACP Programme nicht nur zu mehr Patientenverfügungen (was lediglich ein Surrogatparameter ist), sondern zu klinisch relevanten Effekten, unter anderem hinsichtlich der Konkordanz von Therapiezielen mit der erzielten Behandlung führen können.
Wie so häufig, konstatierten die Autor:innen jedoch Präzisierungs- und Evidenzlücken, unter anderem in Bezug auf die Beschreibung, was genau in der «ACP-Pille» enthalten ist und welche Parameter die Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität messen sollten. Gemäss den bereits oben erwähnten Delphi-Konsensuspapieren (Rietjens et al 2017, Sudore et al 2017) sind dies primär Parameter, die eine an den Zielen der Patient:innen orientierte Behandlung (engl. «goal concordant care») messen – und dies nicht oder nicht primär «am Lebensende», sondern in verschiedenen Situationen der Einwilligungsunfähigkeit.
In unserer randomisiert-kontrollierten single center Studie in der Schweiz konnten wir das Ergebnis einer australischen Gruppe (Detering et al. 2010) an einer etwas anderen Patientengruppe replizieren, dass durch ein im Krankenhaus implementiertes, komplexes, ebenfalls auf Respecting choices und deren Weiterentwicklung zu «Beizeiten Begleiten» im deutschsprachigen Raum beruhendes ACP Programm, die post-stationäre Behandlung eher an den Wünschen von schwer kranken Patienten ausgerichtet wird (primärer Endpunkt) und die Entscheidungskonflikte von Patienten und Angehörigen in Notfallsituationen hochsignifikant reduziert werden können (Krones et al., 2019). Eine europaweite cluster-randomisierte Studie, die ein ebenfalls auf einer Adaptation des «Respecting choices»-Programms beruhendes ACP Programm in sechs europäischen Ländern (Belgien, Dänemark, Italien, Niederlande, Slowenien, und dem Vereinigten Königreich) untersuchte, konnte keinen Effekt in Bezug auf eine Lebensqualitätsverbesserung (primärer Endpunkt) von onkologischen Patient:innen mit fortgeschrittenen Krebsleiden feststellen, die ACP Gespräche im Krankenhaus oder zuhause durch qualifizierte ärztliche oder nicht-ärztliche Gesprächsbegleiter erhalten haben (Korfage et al., 2020). Die Rate der Inklusion von spezialisierter Palliative Care und die Dokumentation von Patientenverfügungen war in der Interventionsgruppe signifikant erhöht.
Es ist also bei der Evaluation von ACP inklusive der Verschriftlichung von Behandlungswünschen für Situationen der Einwilligungsunfähigkeit in Patientenverfügungen ganz entscheidend,
was genau in der «ACP-Pille» enthalten ist (Art und Durchführung der Kommunikation, Dokumentation und Implementierung),
wer wie qualifiziert mit wem ACP anwendet,
wie und wo genau ACP gemessen wird.
Die internationale Fachgesellschaft ACP-international (www.acp-i.org) veranstaltet aus diesem Grund in 2022 eine kostenlose «around the globe»-Webinar-Reihe, in welcher von Neuseeland, über Singapur bis Brasilien nationale ACP Programme darstellen, was genau in der «ACP Pille» enthalten ist. Einen sehr guten Überblick über Konzept und Evidenz liefert auch ein UptoDate Artikel (Silveira et al 2022). Die Vereinigung Behandlung im Voraus planen (DIV-BVP) und ACP Swiss sind hier ebenfalls vertreten. Die Konzepte, welche in den Studien zur Wirksamkeit von ACP im deutschsprachigen Raum angewandt wurden, sind ausführlicher in einem CME Beitrag (in der Schmitten et al. 2016) und in dem sich auch an die Bevölkerung richtenden Buch «Wie ich behandelt werden will» (Krones und Obrist 2020) beschrieben.
Bedeutung für die aktuelle Praxis
Aktuell wird ACP in Deutschland, wie oben geschildert, allein im Rahmen des Hospiz-und Palliativgesetzes als eine «gesundheitliche Versorgungsplanung für die letzte Lebensphase» refinanziert (siehe entsprechende EbM Ziffer 37400 im KBV-Leistungskatalog). Hierdurch können Bewohner:innen von Pflegeheimen und Menschen in Einrichtungen der Behindertenhilfe «Fallbesprechungen» durch Fachpersonen erhalten, für deren Qualifizierung ein Mustercurriculum erarbeitet wurde. Ärzt:innen können hierbei – ganz im Sinne der internationalen Konzepte- entweder eine mitberatende Funktion innehaben, oder, nach Absolvierung der Qualifikation, die Hauptberatungs-Funktion übernehmen.
Bei ersteren Gesprächen mit einer nicht ärztlichen, ACP-qualifizierten Fachperson, muss der Hausarzt in die Fallbesprechungen einbezogen werden (§132g, Abs. 2). Das so refinanzierte Konzept beruht jedoch nur teilweise auf den «Inhaltsstoffen», die in den Studien zu ACP zu positiven Effekten im Sinne einer an den Patientenwünschen orientierten Behandlung in verschiedenen Situationen der Urteilsunfähigkeit geführt haben. Es wurden nach §132g weder Vorgaben für die Qualifizierung derjenigen gemacht, die die multiprofessionellen Gesprächsbegleiter qualifizieren sollten, noch konnte man sich politisch auf validierte Dokumentationen oder Vorgaben für eine regionale Implementierung einigen.
Dies sind jedoch für eine evidenzbasierte Implementierung von ACP als einer komplexen Intervention ganz entscheidende Aspekte.
Aktuell können sich Ärzt:innen und weitere Fachpersonen für abrechenbare ACP Gespräche in verschiedenen Programmen weiterbilden, deren Ausbilder:innen unterschiedliche Qualifikationen haben, verschiedenste Dokumentationen benutzen oder Implementierungsstrategien vorschlagen. Die Inhalte sind teils nicht transparent und die Effekte der meisten Programme nicht in Studien untersucht worden. Und auch wenn es ein Stück weit nachvollziehbar ist, ACP in Deutschland initial in Hospiz- und Altenpflegeeinrichtungen zu implementieren, so ist es – auf der Basis der internationalen Studien und Konzepte – nicht nachvollziehbar, dass zwar (auch jüngere ) Menschen mit Behinderungen, nicht aber jüngere Menschen ohne Behinderungen, oder chronisch kranke oder hochbetagte Menschen, die nicht in einer Pflegeeinrichtung wohnen, das qualifizierte Angebot erhalten, für zukünftige Notfälle oder länger andauernde Situationen der Urteilsunfähigkeit (z.B. bei Eingriffen mit einem komplikativen Verlauf) individuelle Behandlungsziele und -grenzen qualifiziert zu besprechen und so zu dokumentieren, dass diese auch verstanden werden und umsetzbar sind.
Das bislang einzige kontrolliert in Deutschland untersuchte ACP-Programm wird zur Zeit in einer weiteren cluster-randomisierten Studie im Hinblick auf patientenrelevante Ergebnisparameter bei Bewohner:innen von Senioreneinrichtungen untersucht (G BA 2022). Hierbei arbeiten qualifizierte Hausärzt:innen mit weiteren Gesprächsbegleiter:innen zusammen. Auch wenn diese Ergebnisse sich aufgrund der Corona Pandemie wohl noch hinauszögern werden, ist es für die haus- und fachärztliche Praxis zu empfehlen, sich für die abrechenbare gesundheitliche Vorausplanung für Patient:innen in Senioreneinrichtungen, aber auch für noch nicht transparent abrechenbare Beratungen für chronisch und schwer kranken Menschen mit evaluierten ACP-Konzepten vertraut zu machen. Der aktuelle Standard of Care («Stempel auf allein durch Patient:innen ausgefüllte Patientenverfügungs-Internetformulare») sollte verlassen werden, da er mit hoher Wahrscheinlichkeit keinen Nutzen bringt.
*Original: »Advance Care planning is a process whereby a patient, in consultation with health care providers, family members and important others, makes decisions about his or her future health care. Grounded in the ethical principle of autonomy and the legal doctrine of consent, advance care planning helps to ensure that the norm of consent is respected should the patient become incapable of participating in treatment decisions. Physicians can play an important role by informing patients about advance care planning directing them to appropriate resources, counselling them as they engage in advance care planning and helping them to tailor advance directives to their prognosis.«
PROF. DR. MED. DIPL. SOZ. TANJA KRONES
Vorsitzende des Netzwerks evidenzbasierte Medizin,
Leitende Ärztin Klinische Ethik und
Geschäftsführerin des Klinischen Ethikkommitees des Universitätsspitals Zürich
Referenzen
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Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) - Gesetzliche Krankenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 2477) § 132g. Gesundheitliche Versorgungsplanung für die letzte Lebensphase; https://www.gesetze-im-internet.de/sgb5/_132g.html (Letzter Zugriff am 05.03.2022.)
Stellungnahme Advance Care Planning ZEKO Deutsches Ärzteblatt | DOI: 10.3238/arztebl.2019.zekosnacp_01
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