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Strategien gegen Misshandlung

 Von Andreas Schaupp und Dr. Sigrid Renz

Der Schutz vulnerabler Patientengruppen vor Gewalt ist ein Bestandteil des Qualitätsmanagements. Wie können Praxen diese Vorgabe umsetzen? Hier ein Vorschlag für die Erstellung eines machbaren Schutzkonzepts.

Seit 2020 werden medizinische Einrichtungen durch die aktuelle Qualitätsmanagement-Richtlinie dazu verpflichtet, ihr betriebliches Qualitätsmanagement um den Aspekt “Prävention von und Hilfe bei Missbrauch und Gewalt” zu ergänzen.
Ziel ist es, Missbrauch und Gewalt vorzubeugen, zu erkennen und adäquat darauf zu reagieren. Medizinische Einrichtungen sollen sich mit dem Thema befassen und über geeignete Maßnahmen entscheiden. Einrichtungen, die Kinder und Jugendliche versorgen, müssen konkrete Schritte unternehmen und ein Schutzkonzept erstellen.

Das Thema ist von großer gesellschaftlicher Relevanz. Zu den vulnerablen Patientengruppen zählen unter anderem Kinder und Jugendliche sowie Frauen und hilfsbedürftige Personen.
Die Zahl der bekannt gewordenen Kindeswohlgefährdungen durch Vernachlässigung, psychische, körperliche oder sexuelle Gewalt hat 2022 in Deutschland einen neuen Höchststand erreicht. Die Jugendämter meldeten rund 62.300 Kindeswohlgefährdungen. Das waren rund 63 Prozent mehr Fälle als zehn Jahre zuvor (Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes vom 2. August 2023).

Verlässliche, aber ältere Daten gibt es für die Gefährdung erwachsener Frauen: In einer für Deutschland repräsentativen Studie von 2004 gaben 37 Prozent der befragten Frauen an, im Erwachsenenalter Opfer von körperlicher Gewalt und von Übergriffen geworden zu sein.
Ärzte und Ärztinnen sind dieser Studie zufolge in vielen Fällen entscheidende Ansprechpersonen für gewaltbetroffene Frauen (Müller U, Schröttle M: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. 2004).

VORSCHLÄGE ZUR UMSETZUNG

Wir empfehlen, dass sich die Mitglieder des Praxis-Teams zusammensetzen, um gemeinsam über den Umgang mit der Richtlinie zu diskutieren. Die Teammitglieder sollten über die bisherigen Erfahrungen in der Praxis mit (potenziellen) Gewalt­opfern sprechen – sowie über “red flags”, also über Warnzeichen, die auf Misshandlung hindeuten.
Eine hervorragende Einführung in das Thema, aber auch eine fundierte Materialsammlung zu den verschiedenen Aspekten (Prävalenz, Hinweise auf Gewalt, Schweigepflicht, Handlungsschritte) bietet die Website www.befund-gewalt.de, die das Public Health Zentrum Fulda und das UKE zusammengestellt haben.

In einem weiteren Schritt sollte das Team darüber beraten, wie eine Implementierung der Richtlinie in das eigene Qualitätsmanagement aussehen könnte. Das hängt unter anderem von der Einrichtungsgröße und Einrichtungsform ab.
Als Grundlage für die Erstellung eines Schutzkonzepts können die Textvorlagen und Musterdokumente des von der KBV entwickelten Qualitätsmanagementsystems QEP dienen, das die Vorgaben der Richtlinie verarbeitet hat. Diese Textvorschläge können an die speziellen Bedürfnisse der Praxis angepasst werden.
Auch andere Qualitätsmanagementsysteme oder beispielsweise die “Handreichung zur Erstellung von Schutzkonzepten” der Hamburger Sozialbehörde können wichtige Anregungen geben.

Am Ende des Umsetzungsprozesses könnte ein Schutzkonzept stehen, das sich beispielsweise aus folgenden drei Dokumenten zusammensetzt:

  • Stufenschema: Vorgehen bei einem (möglichen) Misshandlungsfall

  • Liste mit Ansprechpartnern, die bei einem (möglichen) Misshandlungsfall unterstützen und beraten können

  • Selbstverpflichtungserklärung zum achtsamen Verhalten der Teammitglieder

Grundgedanke des Schutzkonzeptes ist: Die Praxis soll für das Thema sensiblisiert werden und Handlungsabläufe vorbereiten, auf die man im Ernstfall zurückgreifen kann. Wer sich erst über das korrekte Vorgehen Gedanken machen und beispielsweise die rechtlichen Grundlagen oder hilfreiche Ansprechpartner recherchieren muss, wenn ein mutmaßliches Gewaltopfer vor ihm sitzt, verliert möglicherweise wertvolle Zeit.

Die Beteiligung des Teams am Entstehungsprozess des Schutzkonzeptes ist essentiell. Die Mitarbeit der Teammitglieder fördert deren Identifikation mit dem Ergebnis. Außerdem kennen die Teammitglieder die Abläufe in der Praxis und wissen, wie das Schutzkonzept implementiert werden muss, damit es Beachtung findet.

STUFENSCHEMA: VORGEHEN BEI EINEM (MÖGLICHEN) MISSHANDLUNGSFALL

Für den Bereich der Kindeswohlgefährdung gibt es ein Gesetz, welches das Vorgehen bei einem Verdachtsfall kodifiziert (Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz KKG, § 4 Beratung und Übermittlung von Informationen durch Geheimnisträger bei Kindeswohlgefährdung). Aus diesem Gesetz lässt sich ein Stufenschema ableiten, das Ärztinnen und Ärzten einen rechtssicheren Handlungsablauf vorgibt (siehe Kasten).

Für die Stufe 4 haben die Hamburger Jugendämter einen Meldebogen entwickelt, der von den Ärztinnen und Ärzten ausgefüllt und per Fax oder Brief an den örtlichen Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) geschickt werden kann.
In der Qualitätsmanagement-Richtlinie geht es aber nicht nur um Kinder. Werden in der Praxis vor allem Erwachsene behandelt, kann das Team ein angepasstes Stufenschema hinzufügen.
Hierfür ist wiederum die Website www.befund-gewalt.de hilfreich. Auf dieser Seite finden die Praxen gut aufbereitete Informationen zu den Themen “Einen Verdacht ansprechen”, “Verletzungen dokumentieren” und “Unterstützung anbieten” – und ein Schaubild mit einem Handlungsablauf für haus- und fachärztliche Praxen. Auch dieses Schaubild ist als Vorlage für ein praxisindividuelles Schema im Rahmen des Qualitätsmanagements geeignet.

Für alle Patienten gilt: Wenn eine für sie akute Gefahr für Leib oder Leben nicht anders abgewandt werden kann, darf der Arzt die Schweigepflicht brechen und beispielsweise die Polizei einschalten. Das ist in § 34 StGB geregelt (rechtfertigender Notstand).

LISTE MIT ANSPRECHPARTNERN

Die im Stufenschema für das Vorgehen bei einem möglichen Misshandlungsfall genannten Ansprechpartner sowie andere relevante Institutionen und Beratungsstellen sollten in einer Liste zusammengetragen werden – damit im Ernstfall nicht erst lange nach Kontaktdaten gesucht werden muss.
Beispielsweise sollte in der Liste die Telefonnummer des Jugendamtes hinterlegt sein. Die Praxis sollte sich präventiv beim örtlichen Jugendamt erkundigen, an wen man sich wenden kann, um bei einem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung eine Beratung in Anspruch zu nehmen (siehe Stufe 3 des Stufenschemas "Vorgehen bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung nach § 4 KKG"). Außerdem muss verzeichnet sein, an wen der Meldebogen geschickt werden kann (Stufe 4).
Über die Aufnahme weiterer Institutionen in die Liste können sich die Team-Mitglieder verständigen.

TELEFONLISTE

In Hamburg sollten die Kontaktdaten der Rechtsmedizin verzeichnet sein (siehe Eintrag in der Telefonliste oben).
Das Institut für Rechtsmedizin am UKE bietet niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten an, sie bei einem möglichen Misshandlungsfall oder einer möglichen Kindeswohlgefährdung kollegial zu beraten. Für eine kollegiale Beratung muss man sich nicht von der Schweigepflicht entbinden lassen. Man kann den Namen des Patienten offenbaren – muss dies aber nicht tun.

Außerdem führt das Institut rechtsmedizinische Konsiliaruntersuchungen durch. Dabei werden die Verletzungen rechtsverwertbar dokumentiert. Falls vorhanden, werden biologische Spuren gesichert. Eine detaillierte, gerichtsverwertbare Dokumentation der Verletzungen kann wichtig für die strafrechtliche und zivilrechtliche Aufarbeitung des Geschehens sein – und den Geschädigten helfen, gegen den Täter juristisch vorzugehen. Termine gibt es nur nach telefonischer Absprache.

Die Ärztekammer Hamburg hat auf ihrer Website die Kontaktdaten von Anlaufstellen und Hilfseinrichtungen bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung und auf häusliche Gewalt zusammengestellt. Aus dieser Übersicht können Kontaktdaten in die Liste übernommen werden – oder in der Liste kann auf die Übersicht verwiesen werden.

SELBSTVERPFLICHTUNGSERKLÄRUNG

Die Qualitätsmanagement-Richtlinie schreibt auch vor, Missbrauch und Gewalt “innerhalb der Einrichtung ” zu verhindern.
Das Universitätsklinikum des Saarlandes beispielsweise hat in einem Umgangs- und Verhaltenskodex unter anderem festgelegt, dass Patientinnen und Patienten so wenig wie möglich und nur so weit entkleidet werden, wie es aus pflegerischen, diagnostischen oder therapeutischen Gründen erforderlich ist.
Weiter heißt es in dem Kodex, dass bei pflegerischen, diagnostischen oder therapeutischen Maßnahmen im Intimbereich von Patientinnen und Patienten nach Möglichkeit immer eine weitere Person im Raum anwesend ist.

In der vom Qualitätsmanagementsystem QEP vorgeschlagenen “Selbstverpflichtungserklärung Kinderschutz” geht es vor allem um die Verhinderung von Grenzverletzungen in der Praxis:

Eine KBV-Vorlage für eine Selbstverpflichtungserklärung finden Sie hier: KBV: Interventionen bei Gewalt → (nach unten scrollen) Arbeitsmaterialien Schutzkonzept für die Praxis → Selbstverpflichtungserklärung (Die Vorlage ist in einem offenen Format erstellt, sodass sie bearbeitet und erweitert werden kann.)

Bei der Erstellung des Schutzkonzepts geht es nicht um Perfektion oder Vollständigkeit. Am wichtigsten ist es, überhaupt damit zu beginnen.

Die Auseinandersetzung mit dem Thema soll nach Fertigstellung der ersten Version des Schutzkonzeptes fortgesetzt und in den Praxisalltag eingebaut werden – beispielsweise, indem Verdachtsfälle besprochen und aufgearbeitet werden.
Je nach Bedarf können die Dokumente im Lauf der Zeit überarbeitet und ergänzt werden.

ANDREAS SCHAUPP, Geschäftsführer der DeltaMed Süd – Unternehmensberatung im Gesundheitswesen
www.deltamedsued.de

DR. SIGRID RENZ, Kinder- und Jugendärztin in Hamburg-Eimsbüttel

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