4/2024 4/2024

Hilfsmittel gegen Dekubitus

Aus dem Netzwerk evidenzbasierte Medizin

Patientenrelevante Evidenz verfügbar machen

Von Prof. Dr. Katrin Balzer im Auftrag des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin e.V. (www.ebm-netzwerk.de)

Ein Dekubitus gilt in der Versorgung von Menschen mit Pflegebedarf als überwiegend vermeidbares adverses Ereignis, das die Gesundheit und Lebensqualität der Betroffenen schwer beeinträchtigen kann [1,2].
Die jährliche Inzidenz unter Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohnern in Deutschland wird auf 7 % geschätzt [3], für die ambulante Pflege sind keine Daten hierzu verfügbar. Die Punktprävalenz in der stationären und ambulanten Langzeitpflege liegt bei 5 % [4,5].

Extrapoliert auf die Grundgesamtheit der Menschen in Deutschland, die in Langzeitpflegeeinrichtungen leben oder ambulante Pflege beziehen [6], sind damit bundesweit knapp 100.000 Menschen in der hausärztlichen Versorgung betroffen, zuzüglich einer Dekubitus-Dunkelziffer unter ausschließlich informell versorgten Menschen mit Pflegebedarf.

Evidenzbasierte Leitlinien für die Dekubitusprävention liegen im deutschsprachigen Raum nicht vor. Nach internationalen evidenzbasierten Empfehlungen stellt die Verwendung spezieller druckumverteilender oder druckreduzierender Liege- und Sitzflächen – in Ergänzung zu anderen Maßnahmen wie Bewegungsförderung und regelmäßige Wechselpositionierung – eine wesentliche Säule dieser Prävention dar [7].

Solche Liege- und Sitzflächen sind Bestandteil des Hilfsmittelverzeichnisses nach § 139 SGB V („Hilfsmittel gegen Dekubitus“); ihre Anwendung setzt eine ärztliche Verordnung voraus.
Das aktuelle Hilfsmittelverzeichnis umfasst über 60 Matratzen, Matratzenauflagen oder Bettsysteme als Ganzkörper-Hilfsmittel gegen Dekubitus (im Folgenden zusammengefasst als Matratzen). Diese sind unterteilt in Weichlagerungsmatratzen, Matratzen mit Luftzellenkomponenten, Matratzen zur intermittierenden Entlastung (im Folgenden „Wechseldruckmatratzen“) sowie Kombinationen dieser Produkte und weitere Spezialsysteme [8].

Nach international gängigen Standards wird zwischen reaktiven und aktiven Matratzen unterschieden [1]. Reaktive Matratzen bewirken eine Vergrößerung der Auflagefläche abhängig vom Gewicht pro aufliegendes Körperareal und damit eine Druckreduktion pro Flächeneinheit. Aktive Matratzen arbeiten mit einer elektronisch vermittelten alternierenden Druckentlastung einzelner Körperareale, teils kombiniert mit weiteren Funktionen wie z. B. Luftstrom zur Beeinflussung des Hautmilieus.

Weiterhin werden die Matratzen nach der Art des Materials unterschieden. Dies betrifft vor allem reaktive Matratzen, die entweder ausschließlich aus verschiedenen Schaumstoffgemischen oder aus Luftkomponenten-Schaumstoff-Kombinationen oder hauptsächlich aus Luftkomponenten bestehen.

In einem jüngeren Cochrane Review mit Netzwerkmetaanalyse wurden die Effekte verschiedener Ma­tratzentypen auf die Dekubitusinzidenz evaluiert [9]. Eingeschlossen wurden 40 randomisiert-kontrollierte Studien (RCT), die insgesamt 59 indirekte und 19 direkte Vergleiche zu 13 Matratzentypen abdecken.

Die meisten Studien beziehen sich auf den Vergleich von reaktiven Schaumstoffmatratzen, reaktiven Matratzen mit Luftkomponenten und Wechseldruckmatratzen untereinander sowie jeweils gegenüber Standardkrankenhausmatratzen. Die reaktiven Schaumstoffmatratzen entsprechen am ehesten den „Weichlagerungsmatratzen“ im Hilfsmittelverzeichnis.

Die Autorengruppe ermittelte eine signifikante Reduktion der Dekubitusinzidenz durch reaktive Luftkomponenten-Matratzen oder durch Wechseldruckmatratzen sowie eine nichtsignifikante Reduktion durch reaktive Schaumstoffmatratzen, jeweils im Vergleich zu Standardkrankenhausmatratzen [9].

Ebenso zeigte sich eine nichtsignifikant höhere Dekubitusinzidenz unter Anwendung von Wechseldruckmatratzen im Vergleich zu reaktiven Luftkomponenten-Matratzen. Die Größe der absoluten Risikodifferenzen sind für diese Vergleiche nicht berichtet.

Genauere Angaben liegen für den Vergleich zwischen reaktiven Luftkomponenten-Matratzen oder Wechseldruckmatratzen gegenüber speziellen Schaumstoffmatratzen (also „Weichlagerungsmatratzen“) vor: Demnach erleiden unter reaktiven Luftkomponenten-Matratzen 49 von 1000 dekubitusgefährdeten Menschen einen Dekubitus, unter reaktiven Schaumstoffmatratzen 106 von 1000. Dieser signifikante Unterschied zugunsten der Luftkomponenten-Matratzen entspricht einer absoluten Risikoreduktion um knapp 6 % (95 %-Konfidenzintervall (KI) -2,6 %; -7,5 %).

Für Wechseldruckmatratzen wurde eine signifikante absolute Risikoreduktion um knapp 4 % (95 %-KI -0,8 %; -6,2 %) gegenüber reaktiven Schaumstoffmatratzen ermittelt; dies sind 39 Betroffene pro 1000 dekubitusgefährdete Menschen weniger [9].

Für alle genannten Vergleiche wurde die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz als gering oder sehr gering eingestuft, bedingt durch Verzerrungspotenziale in den RCT, Heterogenität der Studienergebnisse oder statistisch unsichere Effektgrößen [9].

Insgesamt deuten die Ergebnisse der Netzwerkmetaanalyse – mit Unsicherheiten – auf relative Vorteile von reaktiven Luftkomponenten-Matratzen gegenüber Wechseldruckmatratzen sowie dieser beiden Matratzentypen gegenüber rein schaumstoffbasierten „Weichlagerungsmatratzen“ und Standardmatratzen.

Für dekubitsgefährdete Patientinnen und Patienten ist der Effekt präventiver Maßnahmen auf das Risiko des Auftretens eines Dekubitus die wichtigste Zielgröße [10].
Das Hilfsmittelverzeichnis enthält keine evidenzbasierten Angaben zu diesen Effekten. Unterschiede im Nutzen verschiedener Produkte bleiben damit für Nutzerinnen und Nutzer verborgen.

Dafür finden sich wissenschaftlich nicht gestützte Aussagen wie „Eine dauernde Weichlagerung birgt das Risiko, dass die Versicherten ihr Körperschema verlieren können, dass die Beweglichkeit eingeschränkt werden kann und dass es zu einer Reduzierung von Spontanbewegungen kommen kann …“ [8].

Als Medizinprodukt der Risikoklasse 1 sind für den medizinischen Nutzennachweis „angemessene medizinische Bewertungen auf der Basis von Fallserien/Anwendungsbeobachtungen“ ausreichend, als relevante Zielgrößen sind hierfür das Mikroklima der Haut, die Druckentlastung und -verteilung, die Schwerkraftminderung sowie die Positionierung der Versicherten genannt [8].

Diese Zielgrößen sind keine patientenrelevanten Nutzenkriterien nach § 35b SGB V und entsprechen nicht den Erwartungen der Betroffenen. Es ist fraglich, inwieweit sie geeignet sind, eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Hilfsmittelversorgung gemäß § 139 Absatz 2 SGB V zu gewährleisten.

Für eine evidenzbasierte Dekubitusprävention in der Praxis ist zu fordern, dass Angaben im Hilfsmittelverzeichnis künftig die beste verfügbare wissenschaftliche Evidenz zum patientenrelevanten Nutzen berücksichtigen. Alle beteiligten Berufsgruppen ebenso wie Betroffene und ihre informellen Pflegepersonen sollten zudem niedrigschwelligen Zugang zu verständlichen evidenzbasierten Empfehlungen für die Dekubitusprävention haben.

PROF. DR. RER. CUR. KATRIN BALZER
Sektion für Forschung und Lehre in der Pflege am Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie
Universität zu Lübeck, Ratzeburger Allee 160, 23562 Lübeck
E-Mail: katrin.balzer@uksh.de

Literatur:

1) European Pressure Ulcer Advisory Panel (EPUAP), National Pressure Injury Panel and Pan Pacific Pres-sure Injury Alliance. Prevention and Treatment of Pressure Ulcers/Injuries: Clinical Practice Guideline. The International Guideline. Emily Haesler (Ed.). EPUAP/NPIAP/PPPIA, 2019.
2) Burston A, Miles SJ, Fulbrook P. Patient and carer experience of living with a pressure injury: A meta-synthesis of qualitative studies. J Clin Nurs 2023;32(13-14): 3233–3247. https://doi.org/10.1111/jocn.16431
3) Behrendt S, Schwinger A, Tsiasioti C, Stieglitz K, Klauber J. Qualitätsmessung mit Routinedaten im Pflegeheim am Beispiel Dekubitus. Gesundheitswesen. 2020; 82(S 01): S52–S61. https://doi.org/10.1055/a-1057-8799
4) Lichterfeld-Kottner A, Lahmann N, Kottner J. Sex-specific differences in prevention and treatment of institutional-acquired pressure ulcers in hospitals and nursing homes. J Tissue Viability 2020; 29(3): 204–210. https://doi.org/10.1016/j.jtv.2020.05.001
5) Raeder K, Strube-Lahmann S, Müller-Werdan U, Kottner J, Lahmann NA, Suhr R. Prävalenz und Einflussfaktoren von chronischen Wunden bei Klienten von ambulanten Pflegediensten in Deutschland. Z Evid Fortbild Qual Gesundhwes 2019; 140:14–21. https://doi.org/10.1016/j.zefq.2019.01.001
6) Statistisches Bundesamt (Destatis). Pflegestatistik. Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung. Deutschlandergebnisse. 2021. https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Pflege/Publikationen/_publikationen-innen-pflegestatistik-deutschland-ergebnisse.html (letzter Zugriff 19.02.2024).
7) Gillespie BM, Latimer S, Walker RM, McInnes E, Moore Z, Eskes AM, Li Z, Schoonhoven L, Boorman RJ, Chaboyer W. The quality and clinical applicability of recommendations in pressure injury guidelines: A systematic review of clinical practice guidelines. Int J Nurs Stud 2021; 115: 103857. https://doi.org/10.1016/j.ijnurstu.2020.103857
8) GKV-Spitzenverband. Hilfsmittelverzeichnis. Hilfsmittelverzeichnis. Hilfsmittel gegen Dekubitus. 2024, https://hilfsmittel.gkv-spitzenverband.de/home/verzeichnis/6b532eb4-72b1-4107-8e20-d1b5239bc1b0 (letzter Zugriff 24.02.2024).
9) Shi C, Dumville JC, Cullum N, Rhodes S, McInnes E, Goh EL, Norman G. Beds, overlays and mattresses for preventing and treating pressure ulcers: an overview of Cochrane Reviews and network metaanalysis. Cochrane Database of Systematic Reviews 2021, Issue 8. Art. No.: CD013761. https://doi.org/10.1002/14651858.CD013761.pub2
10) Haesler E, Pittman J, Cuddigan J, Law S, Chang YY, Balzer K, Berlowitz D, Carville K, Kottner J, Litchford M, Moore Z, Mitchell P, Sigaudo-Roussel D. An exploration of the perspectives of individuals and their caregivers on pressure ulcer/injury prevention and management to inform the development of a clinical guideline. J Tissue Viability 2022; 31(1): 1–10. https://doi.org/10.1016/j.jtv.2021.10.008