„Viele dicke Bretter“
INTERVIEW
Die Vertreterversammlung der KV Hamburg hat einen dritten Repräsentanten an ihre Spitze berufen, um der psychotherapeutischen Perspektive mehr Geltung zu verschaffen. Was treibt das neu zusammengesetzte Führungsteam um?
Neben dem Vorsitzenden und dem stellvertretenden Vorsitzenden der Vertreterversammlung gibt es jetzt noch die Position eines „fachlichen Beisitzers Psychotherapie“. Weshalb?
reusch: Die Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sollten eine größere Sichtbarkeit bekommen, sowohl auf dem Podium während der Vertreterversammlungen als auch in der direkten Zusammenarbeit mit dem Vorstand. Die Position des „fachlichen Beisitzers Psychotherapie“ ist nur ein Zwischenschritt. Die Intention ist, einen zweiten stellvertretenden Vorsitzenden zu installieren. Dafür benötigen wir allerdings die Zustimmung der Behörde, und die steht noch aus.
Parey: Für Herrn Reusch als Gebietsarzt und mich als Hausarzt ist es natürlich schwierig, die Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten zu repräsentieren und deren Interessen angemessen zu vertreten. Deshalb begrüße ich es sehr, dass diese neue Position geschaffen wurde.
frey: Es gibt eine gesetzliche Regelung, dass maximal zehn Prozent der Vertreterversammlungs-Mitglieder Psychotherapeutinnen beziehungsweise Psychotherapeuten sein dürfen, auch wenn wir mittlerweile deutlich mehr als zehn Prozent der Mitglieder der KV stellen. Wir sind im höchsten Gremium der KV also unterrepräsentiert. Deshalb ist es wichtig, gegenüber dem Vorstand und den beiden Vertreterversammlungs-Vorsitzenden beratend tätig zu werden und unsere Perspektive erläutern und einbringen zu können. Umgekehrt erfahre ich jetzt natürlich auch mehr über die ärztlichen Themen. Der Austausch und die Zusammenarbeit sind eine Bereicherung für uns alle.
reusch: Die Schaffung eines dritten Repräsentanten der Vertreterversammlung ist Teil einer etwas umfassenderen Neustrukturierung der Selbstverwaltung. Auch in anderen Bereichen und Gremien haben wir Veränderungen vorgenommen, um mehr Personen die Möglichkeit zu geben, sich einzubringen und mitzuwirken.
Wie kann ein normales KV-Mitglied Einfluss nehmen auf die Diskussionen und Entscheidungen der KV? Gibt es da einen offiziellen Weg?
frey: Da gibt es ganz viele Wege. Die meisten KV-Mitglieder kennen eine Person, die in der Selbstverwaltung aktiv ist – beispielsweise als Mitglied der Vertreterversammlung. Ich werde oft von KV-Mitgliedern angesprochen. Es werden dann Sachverhalte an mich herangetragen, die mir in einigen Fällen gar nicht bewusst sind. Diese Themen bringe ich dann in die Vertreterversammlung oder in andere Gremien ein.
Parey: Man kann sich auch an den Beratenden Fachausschuss des jeweiligen Versorgungsbereichs, die Kreisvorsitzenden oder die Berufsverbandsvorsitzenden wenden, wenn man ein Anliegen hat.
Reusch: Die KV-Vorstände stehen natürlich ebenfalls für Gespräche mit den KV-Mitgliedern zur Verfügung. Theoretisch können wir KV-Mitgliedern auch ein Rederecht in Gremien einräumen. Manchmal muss allerdings zunächst mal geklärt werden, ob die Selbstverwaltung überhaupt die Möglichkeit hat, im konkreten Fall Einfluss zu nehmen. Aber selbstverständlich sind wir für Fragen, Anliegen, Vorschläge und Beschwerden der KV-Mitglieder immer offen.
Die KV hat im Januar eine kinderärztliche Eigeneinrichtung in Rahlstedt eröffnet. Wie ist Ihre Haltung zu diesem Versorgungsmodell?
reusch: Das ist eine Ausnahmelösung, die man aber durchaus wählen kann, wenn es nötig ist. Eigentlich sollte die Regelversorgung alles abdecken: Es muss dafür gesorgt sein, dass man eine Praxis auch in ärmeren Stadtteilen wirtschaftlich führen kann. Ich bin aber der Ansicht, dass die Versorgungsprobleme in ärmeren Stadtteilen nicht alleine von der KV gelöst werden können. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
parey: Wir machen in solchen Praxen ja zu einem großen Teil auch Sozialarbeit. Oftmals gibt es Sprachprobleme. Nun haben wir ja das Glück, dass unsere Gesundheitsbehörde gleichzeitig auch die Sozialbehörde ist. Wenn wir mehr Unterstützung im Bereich der Sozialarbeit und der Kommunikation bekämen, könnten wir uns wieder stärker auf die Medizin konzentrieren.
Wie ist die Situation im Bereich der Psychotherapie?
frey: In der Psychotherapie haben wir leider im gesamten Hamburger Raum eine massive Unterversorgung. Patientinnen und Patienten sind aufgrund von massiven Leiden oft bereit, jede Woche weite Wege in Kauf zu nehmen. Das ist natürlich keine Lösung und besonders für sozial schwächere Patientinnen und Patienten beziehungsweise für Kinder und Jugendliche besonders tragisch. Selbst wenn es eine Psychotherapeutin oder einen Psychotherapeuten um die Ecke gibt, ist die Wahrscheinlichkeit, dort einen Platz zu bekommen sehr gering, und es bleibt keine andere Möglichkeit als im ganzen Hamburger Raum Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten abzutelefonieren. Eine Eigeneinrichtung würde im psychotherapeutischen Fall keinen Sinn machen, da es noch mehr als genügend hoch qualifizierte Kolleginnen und Kollegen gibt, die sich gerne niederlassen wollen, aber bislang keinen Versorgungsauftrag bekommen können.
Kann die Entbudgetierung im hausärztlichen Bereich für eine Entlastung sorgen?
paarey: Ich sehe die Entbudgetierung als Voraussetzung dafür, dass man eine hausärztliche Praxis in Hamburg überhaupt wieder wirtschaftlich führen kann. Wir haben hier eine ganz schwierige Situation: Selbst eine Hundert-Prozent-Vergütung der hausärztlichen Leistungen in Hamburg würde den finanziellen Nachteil gegenüber den anderen Bundesländern nur reduzieren – nicht aber ausgleichen. Die rote Laterne werden wir weiterhin behalten. Andere Bundesländer haben Auszahlungsquoten von 120 Prozent. Aber die Entbudgetierung ist natürlich ein Schritt in die richtige Richtung.
reusch: Wir haben uns über die Entbudgetierung der Kinderärzte gefreut. Wir hoffen, dass die Hausärzte, denen man das lange versprochen hat, jetzt ebenfalls rasch entbudgetiert werden. Und natürlich braucht auch der fachärztliche Bereich eine vollständige Vergütung der erbrachten Leistungen. Die Budgetierung ermöglicht es der Gesetzlichen Krankenversicherung, ein unbegrenztes Leistungsversprechen bei streng limitierten Ressourcen abzugeben. Die Schwierigkeit, diesen Widerspruch im Alltag aufzulösen, wird uns zugeschoben. Das kann nicht sein. Wir fordern, dass die Ärztinnen und Ärzte für das bezahlt werden, was sie tun.
frey: Eine Entbudgetierung im psychotherapeutischen Bereich ist sicher auch wünschenswert. Aber unser Hauptproblem ist, dass die EBM-Leistungen für unseren Versorgungsbereich nicht angemessen vergütet werden. Seit Jahren klagen wir gegen diese systematische Benachteiligung und bekommen jedes Mal vom Gericht Recht. Auf eine Anpassung der Vergütung der „Sprechenden Medizin“ warten wir bis heute.
Die Vertreterversammlung hat im Oktober vergangenen Jahres eine Resolution verabschiedet und die langen Wartezeiten für Kinder und Jugendliche auf eine Psychotherapie angeprangert.
frey: Ja. Die Koalitionsparteien haben vereinbart, die psychotherapeutische Bedarfsplanung zu reformieren, um die Wartezeiten insbesondere für Kinder und Jugendliche zu reduzieren. Leider ist der bislang größte Fortschritt in dieser Angelegenheit, dass das Vorhaben in den Koalitionsvertrag aufgenommen wurde. Mehr hat sich nicht getan. Die Unterversorgung kostet viel Geld. Es gibt Studien der Krankenkassen, wonach jeder Euro, der in eine Psychotherapie investiert wird, zu einer kurzfristigen Einsparung von zwei bis vier Euro führt, weil zum Beispiel Krankenhauseinweisungen vermieden werden. Die Kosten für längerfristige Chronifizierungen sind da noch nicht einmal mitgerechnet. Für psychisch kranke Personen ist es sehr schwer, sich angesichts der desaströsen Versorgungslage bei der Suche nach einem Therapieplatz nicht entmutigen zu lassen. Das größte Problem besteht im Kinder- und Jugendbereich, doch auch für den Erwachsenenbereich muss die Bedarfsplanung reformiert werden. Das Bundesgesundheitsministerium macht derzeit aber keine Anstalten, die angekündigte Reform umzusetzen.
reusch: Politik und Gesellschaft erwarten sehr viel von uns, aber man möchte das nicht bezahlen. Offenbar gibt es in der Öffentlichkeit nur ein begrenztes Verständnis dafür, dass wir eine Doppelfunktion haben und nicht nur für unser Einkommen, sondern auch für die Erhaltung der Versorgungsstrukturen kämpfen. Der Versuch, unsere berechtigten Forderungen als illegitim hinzustellen, hat zu einer Sprachlosigkeit zwischen dem Bundesgesundheitsministerium und der organisierten Ärzteschaft und Psychotherapeutenschaft geführt. Man kann nur hoffen, dass wir aus dieser unguten Situation wieder herauskommen. Es gibt jetzt erste ermutigende Signale, doch wir haben noch viele dicke Bretter zu bohren.