Reformbedürftige Strukturen
Von Antje Thiel
Wie sollte die Notfallversorgung der Zukunft aussehen? Die Frauenkommission der KV Hamburg hat zu dieser Frage eine prominent besetzte Diskussionsveranstaltung organisiert.
Es waren bei Weitem nicht nur weibliche Interessierte, die sich auf Einladung der Frauenkommission der KV Hamburg am 24. Januar 2024 im Großen Saal des Hamburger Ärztehauses versammelt hatten. Kein Wunder, denn das Podium der Diskussionsveranstaltung war hochkarätig besetzt – und die künftige Organisation der Notfallversorgung betrifft Vertragsärztinnen und -ärzte gleichermaßen, ganz unabhängig von ihrem Geschlecht.
„Dies ist allerdings die erste Veranstaltung der Frauenkommission, die kein frauenspezifisches Thema hat“, erklärte Dr. Claudia Haupt bei der Begrüßung der etwa 100 Gäste im Plenum. Die Sprecherin der Frauenkommission stellte aber auch klar: „Die Medizin wird weiblicher, entsprechend muss auch die Notfallversorgung künftig in weiten Teilen von Frauen gestemmt werden. Deswegen haben wir etwas zu sagen, und deswegen müssen wir auch etwas sagen.“
Mit welchen Problemen alle Beteiligten in der Notfallversorgung derzeit zu kämpfen haben, skizzierte die Journalistin und Kommunikationsberaterin Sandra Wilsdorf, die den Abend moderierte: „Die Notfallversorgung ist ein politisches und auch ein emotionales Thema. Denn die Menschen wollen die Gewissheit haben, im Notfall gut versorgt zu sein.“
Doch aktuell beklagten Patientinnen und Patienten lange Wartezeiten in den Notaufnahmen, die Krankenhäuser seien unzufrieden mit der unzureichenden Vergütung von Notfallbehandlungen. Die Niedergelassenen wiederum wehren sich dagegen, die Notfallversorgung in großem Umfang aus ihren eigenen Honoraren zu bezuschussen.
Regelversorgung hat Vorrang
Unzufriedenheit an allen Fronten also. Doch die anschließende Diskussion zeigte: Immerhin enthält das von Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach jüngst vorgestellte Eckpunktepapier nach übereinstimmender Einschätzung der Frauen auf dem Podium etliche brauchbare Ansätze.
So lobte die niedergelassene Kinderärztin und Sprecherin der Frauenkommission, Dr. Claudia Haupt, dass das Eckpunktepapier der Regelversorgung einen Vorrang vor der Notfallversorgung einräume. „Das ist nicht nur aus Kostengründen wichtig“, so Haupt, „sondern auch im Sinne der Behandlungsqualität: Wir kennen unsere Patienten, ihre Vorgeschichte und ihre Medikation. Wir können deshalb grundsätzlich eine bessere Risikobewertung vornehmen und eine passgenauere Therapie anbieten.“
Mit der Notfallversorgung dürfe keine Parallelstruktur geschaffen werden, die Personal bindet, während die Praxen noch geöffnet sind, so Haupt. „Das ist ein Punkt, der uns sehr wichtig ist: Dass wir während der normalen Praxisöffnungszeiten keine zusätzliche kassenärztliche Notfallversorgung anbieten müssen.“
Haupt begrüßte, dass Patientensteuerung offenbar endlich kein Tabuthema mehr sei. „Die Menschen können immer weniger zwischen Gesundheit und Krankheit unterscheiden. Sie stufen sich viel zu schnell als Notfall ein und besuchen dann die Notaufnahmen der Krankenhäuser.“
Modelle für eine sinnvolle Triagierung
Das sei tatsächlich zu einem großen Problem geworden, erklärte Dr. Claudia Brase, Geschäftsführerin der Hamburgischen Krankenhausgesellschaft. „Die Kapazitäten der Krankenhäuser erlauben es manchmal nicht, diese Patientenströme sofort zu versorgen.“ Es komme zu langen Wartezeiten. „Man muss dann immer vermitteln und den Menschen erklären, wer nicht so dringend ist und noch warten muss.“
Brase begrüßte, dass das Bundesgesundheitsministerium den Krankenhäusern die Möglichkeit geben wolle, die Patienten in die passende Versorgung zu steuern. Das sei die richtige Perspektive, denn es sei wichtig, die Notfallversorgung aus Sicht der Patientinnen und Patienten zu denken und sie dort abzuholen, wo sie Hilfe benötigen.
Das Eckpunktepapier des Bundesgesundheitsministeriums sieht vor, an Krankenhäusern integrierte Notfallzentren (INZ) einzurichten – bestehend aus der Notaufnahme, einer KV-Notdienstpaxis und einer zentralen Ersteinschätzungsstelle. Die Verantwortung für den „gemeinsamen Tresen“ obliegt dem Eckpunktepapier zufolge nicht der KV, sondern dem Krankenhaus.
„Wie kam es zu der Idee, dass der gemeinsame Tresen unter der Hoheit der Krankenhäuser stehen soll?“, fragte Dr. Claudia Haupt. „Wie haben ja Pilotprojekte, die zeigen: Wenn die Hoheit über den gemeinsamen Tresen bei der KV liegt, sinkt der Anteil der stationären Fälle – was ja durchaus Kostenreduktion bedeutet.“
Als Klinikvertreterin antworte Dr. Claudia Brase darauf, für die Bevölkerung sei schließlich nicht ersichtlich, dass es sich bei einem INZ um eine Kooperation mehrerer Institutionen handelt. „Für die Patientinnen und Patienten ist das einfach das Krankenhaus – und was im Krankenhaus passiert, wird dem Krankenhaus zugeschrieben. Deshalb ist es zwingend, dass das Krankenhaus als Hausherr auch die Entscheidungshoheit hat“, sagte Brase.
Idealerweise sollte die Ersteinschätzung aber bereits stattfinden, bevor sich die Menschen überhaupt auf den Weg in eine medizinische Einrichtung machen, meint die KV Hamburg. „Mir geht das Eckpunktepapier in diesem Punkt noch nicht weit genug“, erklärte dazu die stellvertretende KV-Hamburg-Vorstandsvorsitzende Caroline Roos. „Wir haben ja das Phänomen, dass die Patientinnen und Patienten ungesteuert in die Versorgung kommen. Das führt dazu, dass Menschen, die hausärztlich behandelt werden könnten, die Kapazitäten für echte Notfälle blockieren.“
Roos forderte eine früh einsetzende Patientensteuerung – schon bevor die Patientinnen und Patienten sich auf den Weg machen. „Wir brauchen Anreize und auch eine Verpflichtung, erst die 116117 anzurufen, wo man Beratung und Orientierung erhält. Regelversorgung vor Notfallversorgung, das muss unser Mantra sein, sonst geht alles den Bach runter.“
Kostenneutrale Durchführung der Reformen?
Zur Frage der Finanzierung hatte Caroline Roos eine klare Meinung: „Wer bestellt, muss auch bezahlen. Eine gute Gesundheitsversorgung ist der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält, deshalb müssen die erforderlichen Weichen gestellt werden.“ Wer Interesse an einer starken und zuverlässigen Versorgung habe, müsse auch die entsprechenden Mittel bereitstellen.
Das Stichwort Mehrausgaben löste bei Kathrin Herbst, Leiterin der Landesvertretung Hamburg des Verbands der Ersatzkassen, als Vertreterin der Krankenkassen einen wenig überraschenden Abwehrreflex aus: „Die finanzielle Lage der Krankenkassen ist prekär, Reformen müssen daher kostenneutral durchgeführt werden.“
Herbst verwies auf den Sicherstellungsauftrag der KV und auf die Morbiditätsorientierte Gesamtvergütung, mit der auch die Organisation des Notdienstes außerhalb der Praxisöffnungszeiten abgedeckt sei.
Differenzen sind überbrückbar
Für die Politik saß die Hamburger Gesundheitssenatorin Melanie Schlotzhauer auf dem Podium. Sie bemühte sich, die unterschiedlichen Perspektiven miteinander zu versöhnen: „In Wahrheit sind alle Ihre Positionen gar nicht so weit auseinander.“
Die bestehenden Differenzen müssten überbrückt werden, „denn das Gesundheitswesen in seinem derzeitigen Zustand ist reformbedürftig. Es wird von vielen als dysfunktional und nicht zugänglich empfunden.“ Auch aus diesem Grund führe an einer sinnvollen Patientensteuerung kein Weg vorbei.
Schlotzhauer plädierte dafür, die Entscheidung, an welchen Krankenhäusern INZ eingerichtet werden, dem Land zu übertragen. Denn ihrer Erfahrung nach agiere die Selbstverwaltung mit ihren komplexen Entscheidungsprozessen in der Regel zu langsam. „Am Ende muss ohnehin die Politik die Verantwortung tragen, dann übernehmen wir das im Zuge der Krankenhausplanung doch lieber gleich selbst.“
Digitale ebenso wie persönliche Ansprache
Neben einer zügigen Neugestaltung der Notfallversorgung sprach sich die Senatorin aber auch für langfristige Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheitskompetenz aus.
Hier sei der Öffentliche Gesundheitsdienst, der aktuell ein kommunales Gesundheitsförderungsmanagement ausbaue, ebenso gefragt wie die Peer-to-Peer-Beratung in Unterkünften für Geflüchtete.
„Denn manche Gruppen erreicht man nur schwer digital, da braucht es das persönliche Gespräch“, sagte sie und erinnerte an eine Kooperation der Behörde mit einzelnen Moscheen, die während der Corona-Pandemie ihre Besucher im Rahmen des Freitagsgebetes über die Maskenpflicht aufgeklärt hatten.
Die Krankenkassen sehen auch in der Weiterentwicklung der elektronischen Patientenakte (ePA) Chancen für Aufklärung. „Ich glaube, mit der ePA wird sich die Kommunikation zwischen Krankenkassen und ihren Versicherten verbessern“, meinte Kathrin Herbst. So könnten die Krankenkassen ihren Versicherten beispielsweise Wege aufzeigen, in welchen Situationen man sich an welche Einrichtung wenden sollte.
Caroline Roos wiederum regte an, für die Vermittlung von Gesundheitskompetenz – „also die Dinge, die man früher von seinen Großeltern gelernt hat“ – könne man auch die Hotline der 116117 nutzen.
Niedrigschwellige Lösungen für Versorgungsbedarf
Dem Ruf nach mehr Beratung und Orientierung schloss sich auch die Vertreterin der Hamburger Ärztekammer an. Deren Vizepräsidentin Dr. Birgit Wulff betonte: „Die meisten Menschen brauchen doch einfach nur eine kurze Einschätzung, was bei bestimmten Symptomen zu tun ist. Der Bevölkerung muss klargemacht werden, dass nicht jedes Unwohlsein ein Notfall ist. Das kommt mir in der aktuellen Diskussion noch zu kurz. Es gibt sehr viel Versorgungsbedarf, den man eigentlich ganz niedrigschwellig lösen kann.“
Dafür sei auch nicht unbedingt eine Konsultation vor Ort erforderlich, erklärte Dr. Claudia Haupt: „In einem Modellprojekt für die pädiatrische Versorgung konnten wir neun von zehn Fällen per Videoberatung abschließen.“
Bei den Ratsuchenden habe es sich vorrangig um Eltern von Babys gehandelt, aber auch von Kindern mit hohem Fieber oder Kindern, die gestürzt waren. „Die Eltern bedanken sich dann überschwänglich für die Beratung und sind außerdem froh, wenn sie sich gar nicht erst auf den Weg machen müssen.“
Keine Parallelstruktur
Im Plenum stieß diese Schilderung zunächst auf geteiltes Echo. So befürchtete eine Zuhörerin, dass die Inanspruchnahme auch hier ausufern könnte: „Der Ausbau von Bereitschaftsdienst und Telefonberatung würde den Menschen suggerieren, dass sie immer dort anrufen können. Und genau das tun sie dann auch immer wieder.“
Eine andere Stimme aus dem Publikum warnte davor, mit rund um die Uhr verfügbaren Telefon- und Videoberatungen eine zusätzliche Versorgungsschiene einzuführen: „Das sind doch alles Dinge, die über die haus- und kinderärztlichen Praxen laufen sollten!“
Die Frauen auf dem Podium stellten klar, dass die Praxen die ersten Ansprechpartner bleiben und die geschilderten Angebote für jene Fälle gedacht sind, in denen die Praxen nicht erreichbar sind.
Insgesamt bewerteten alle Beteiligten den Diskussionsabend als äußerst positiv.
Gesundheitssenatorin Schlotzhauer brachte es auf den Punkt: „Wir müssen uns austauschen und die Vorschläge der Bundesebene gemeinsam diskutieren.“ Weder aus ärztlicher, noch aus Patientensicht dürfe man unnötig Zeit verlieren.
„Vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels und begrenzter finanzieller Ressourcen brauchen wir neue Lösungen, um im Sinne der Patientinnen und Patienten in unserer Stadt weiterhin eine gute und wohnortnahe Notfallversorgung gewährleisten zu können. Diese müssen wir gemeinsam erarbeiten.“
ANTJE THIEL
ist freie Medizinjournalstin