2/2023 2/2023

Klare Worte und Arztsprech

Von Walter Plassmann

Laudatio auf Dr. Dirk Heinrich zu dessen Abschied aus der Vertreterversammlung

Er geht, aber er bleibt. Dr. Dirk Heinrich hat nicht mehr für den Vorsitz der Vertreterversammlung der KV Hamburg kandidiert, gehört ihr in der neuen Amtsperiode noch nicht einmal an. Aber es ist kein Abschied aus der Berufspolitik, sondern „nur“ eine Konzentration auf die Bundesebene, wo er weiter für ärztliche Interessen kämpfen wird. Anlaß für eine (Zwischen-)Laudatio.

Die Politik der SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt habe ihn in die Berufspolitik getrieben, bekannte Heinrich bei seiner letzten Vertreterversammlung. Das ist mehr als verständlich. Denn Heinrich war immer ein Verfechter des in eigener Praxis tätigen Vertragsarztes – und stand damit im kompletten Gegensatz zu Schmidt, der die selbstbewußte Ärzteschaft und ihre Selbstverwaltung ein Dorn im Auge war. „Die wollte eine Staatsmedizin – wie Herr Lauterbach sie auch heute will“, wettert Heinrich noch immer.

Der HNO-Arzt mit Wurzeln aus dem Badischen war immer ein politischer Mensch. So ging er ganz bewußt mit seiner Praxis in einen sozial schwachen Stadtteil. Das hat er zwar verbrämt mit der flapsigen Bemerkung, es sei in Horn weniger langweilig als in einem wohlhabenden Umfeld, aber im Grunde war dies Ergebnis seines tiefen sozial-politischen Engagements.

Das gilt auch für seine seit Jahrzehnten währende Unterstützung der HNO-Versorgung der Bevölkerung in Ruanda. Dort hat er nicht nur ein HNO-Krankenhaus aufgebaut und ausgestattet, sondern hat vor allem Ärztinnen und Ärzte aus- und fortgebildet und so quasi im Alleingang eine jetzt stabile und autonome Kollegenschaft von HNO-Ärzten in diesem afrikanischen Land aufgebaut.

Vor diesem Hintergrund war es kein Wunder, dass er zur ärztlichen Berufspolitik fand. Und das ging schnell. 1996 eröffnete er mit Kollegen seine HNO-Praxis in Horn, und schon fünf Jahre später saß er nicht nur in der Kammerversammlung in Hamburg, sondern auch in der Vertreterversammlung der KV Hamburg.

In der Vertreterversammlung fiel er sofort durch seine pointierten Stellungnahmen auf. Heinrich hat die seltene Gabe, grobe Gemeinheiten in einen locker-lustigen Ton zu verpacken. Dabei kann er die Dinge derart überspitzen, dass sie auch dem nicht so gut informierten Zuhörer klar werden. Erinnert sei an seine Wortschöpfung der „Zalando-Mentalität“ für die massiv gestiegene Anspruchshaltung der Versicherten oder den schönen Ausdruck „Praxis der Sinne“ für HNO-Praxen.

Schon in dieser Zeit fiel auf, was ein Erfolgsgeheimnis seiner Politik gewesen sein dürfte: Er kann Arztsprech. Klar und präzise, ohne Schwurbeleien. Heinrich hat es schon immer verstanden, seine Kolleginnen und Kollegen auf dieser Basis mitzunehmen, dies aber gleichzeitig für die Öffentlichkeit und die Politik zu „übersetzen“. Als die KV Hamburg 2005 gegen das GKV-Modernisierungsgesetz mobil machte und den Saal im ehemaligen Ärztehaus bis auf den letzten Stehplatz füllte, war es Heinrich, der mit seinen pointierten Sätzen die Gründe des Protestes präzise auf den Punkt brachte. Der Saal tobte. Gleichzeitig hatte er es aber auch so formuliert, dass die Journalisten wußten, um was es ging und entsprechend berichten konnten.

Heinrich hatte erkannt, dass die Ärzte, insbesondere die Fachärzte, eine bessere Lobby in Berlin brauchten. Zwar war der dilettantische Versuch der Grünen-Gesundheitsministerin Andrea Fischer gescheitert, die Fachärzte aus dem KV-System zu drängen, aber Heinrich spürte, dass dieser Kampf weitergehen würde. Sein Weg: die Verbände müßten wieder stark werden.

Also übernahm er 2004 den HNO-Landesverband in Hamburg, 2008 den HNO-Bundesverband. 2010 wurde er zum Vorsitzenden des NAV-Virchowbundes gewählt, der damals selig vor sich hin schlummerte. Und 2012 gründete er den „Spitzenverband Fachärzte Deutschlands“, kurz SpiFa.

Parallel intensivierte er seine Arbeit in der KV Hamburg. Es war keine Frage, dass er Sprecher des neuen Beratenden Fachausschusses der Fachärzte werden würde. Das war 2005. Acht Jahre später zog sich der damalige VV-Vorsitzende Dr. Michael Späth aus der KV-Politik zurück, und Heinrich wurde sein Nachfolger. Nun zeigte sich diese sehr besondere und seltene Mischung, die ihn als Berufspolitiker auszeichnet.

Er vereint ärztliches Ethos und politisches Engagement, er kann Interessen vertreten und politische Kompromisse aushandeln, denkt strategisch und nicht ausschließlich taktisch, hat ein gesundes Verhältnis zur Macht und kann sich sowohl nach innen wie nach außen verständlich machen. Kein Wunder, dass er auch auf der Bundesebene Gehör fand.

2011 kandidierte er für den Vorsitz der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Sein Gegenkandidat war Amtsinhaber Dr. Andreas Köhler. Natürlich hatte er gegen Köhler keine Chance, aber zwei Dinge fielen auf: seine kämpferische Rede spielte in einer völlig anderen Liga als die defensiv angelegte Bewerbungsrede von Köhler. Und immerhin gaben knapp 30 Prozent der Delegierten dem damals weitgehend unbekannten HNO-Arzt aus Hamburg ihre Stimme.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Heinrich bereits beschlossen, die Vertretung der fachärztlichen Interessen voranzubringen. Sie sollten eine ähnlich schlagkräftige Vertretung auf der Bundesebene bekommen wie es der Hausärzteverband im Windschatten der Hausarzt-zentrierten Versorgungsverträge geworden war. So gründete er den SpiFa als Verband der fachärztlichen Berufsverbände, also als Verbändeverband, was hohe Anforderungen an die Führung stellt. Trotzdem, ihm gelang das eigentlich Unmögliche. Der SpiFa konnte auf eigene wirtschaftliche Beine gestellt werden und macht mittlerweile erfolgreiche Lobbyarbeit für die niedergelassenen Ärzte im allgemeinen und die Fachärzte im besonderen.

Der Erfolg brachte Heinrich allerdings in eine Zwickmühle. Als Vertreterversammlungs-Vorsitzender war er Teil der KV-Selbstverwaltung. Den SpiFa erfolgreich zu etablieren, führte ihn aber zwangsläufig mitunter in Gegensatz zur KV-Politik. Heinrich hat zwar mit großer Aufmerksamkeit versucht, die unterschiedlichen Aufgaben auseinanderzuhalten, aber er konnte nicht verhindern, dass seine Aussagen mitunter für Irritationen – vor allem im KV-System – sorgten.

Das galt aber mehr für die Bundespolitik. In Hamburg engagierte er sich vorbehaltlos für die KV und deren Mitglieder. Er vertrat mit Verve die Interessen der Ärzte und Psychotherapeuten, organisierte Protestmaßnahmen, wenn es denn anders nicht ging und hielt eine kluge Balance zwischen der Selbstverwaltung und dem hauptamtlichen KV-Vorstand. Er ließ dem KV-Vorstand immer freie Hand in allen operativen Fragen, brachte sich aber ein, wenn es um die politisch-strategische Ausrichtung ging. Das hat der Vorstandsarbeit insgesamt gut getan.

In seinen neuneinhalb Jahren als Vertreterversammlungs-Vorsitzender hat Heinrich bewiesen, dass er auf vielen Feldern sattelfest ist. Er ist eben nicht nur der ewige Protestler – worauf sich viele ärztliche Berufspolitiker beschränken –, sondern er gestaltet auch gerne und gut. So hat er die drei Versorgungsforschungstage, die die KV Hamburg veranstaltet hat, inhaltlich maßgeblich geprägt und mit hohem Engagement auch vertreten.

Die Idee zur Feier des 100-jährigen Bestehens der KV Hamburg hat er begeistert aufgenommen und mit Nachdruck dafür gesorgt, dass die 100 Jahre intensiv aufbereitet werden. Die von Historikern verfaßte Geschichte der KV Hamburg, in der deutlich mehr erzählt wird als nur die Geschichte der KV Hamburg, hat Maßstäbe gesetzt.

Auch hat Heinrich ein gutes Gespür für Chancen. Jede der vielen HVM-Änderungen, die in seine Amtszeit fielen, wurde darauf abgeklopft, welche Chancen sie birgt. In Zeiten knapper Mittel ging es vor allem darum, den Praxen Planungs-Sicherheit und Ruhe im Praxis-Alltag zu geben. Wenn er aber die Möglichkeit sah, noch zusätzliches Geld zu generieren, tüftelte er an Wegen, dies auch zu realisieren. Alles immer unter dem Leitmotiv, es den Praxen so einfach wie möglich zu machen.

Hierbei kam es ihm sehr zugute, dass er immer tätiger Vertragsarzt blieb. Er spürte die Auswirkungen aller Entscheidungen unmittelbar in seiner Praxis und genau so, wie die Kolleginnen und Kollegen, die er vertrat. Das gab seinen Argumenten eine hohe Glaubwürdigkeit.

In der Pandemiezeit bewies Heinrich sein Geschick als Krisenmanager. Als Teil der Task-Force, die KV-Vorstand Caroline Roos im Februar 2020 zu Beginn der Covid-Pandemie gegründet hatte, engagierte er sich kraft- und phantasievoll. Kein Problem, für das er nicht eine Lösung hatte. Und dann kam das Impfzentrum Es könnte sein, dass das knappe Jahr, in der das Impfzentrum geplant, aufgebaut und betrieben wurde, die erfüllteste Zeit im berufspolitischen Leben von Dirk Heinrich war. Hier konnte er jedenfalls viele seiner Talente zusammenführen: vorausschauende Planung, kluge Organisation, unendliches Improvisationstalent, ärztliche Expertise, politisches Gespür, meisterhafte laterale Führung und nicht zuletzt ein unerschöpfliches Kommunikationstalent.

Seine Expertise war nahezu weltweit gesucht. Er gab nicht nur sämtlichen deutschsprachigen Medien Interviews, sondern stand auch in Englisch Rede und Antwort, zierte sogar die Titelseite der New York Times. Mit seinem Handy trieb er nicht nur den mächtigen Apparat der Sozialbehörde vor sich her, sondern auch mitunter den der KV Hamburg. Er war Stammgast in allen Nachrichtensendungen und zierte die Sessel der Talkshows, am liebsten den von Markus Lanz.

In vielen dieser Interviews blitzte auch auf, was den Privatmann Dirk Heinrich kennzeichnet: Er kann Anekdoten – und Witze! – meisterhaft erzählen. Selbst aus leidlich witzigen Gegebenheiten kitzelt er durch eine geschickte Dramaturgie und eine blendende Rhetorik die großen Lacher heraus. Er stand eben nicht nur im Impfzentrum im Mittelpunkt, sondern kann dies auch spielend in jeder Gesellschaft. Kurzweil garantiert.

Mit Heinrich geht auch ein bestimmter Politikstil. Die klare Kante ohne Scheu vor einer Auseinandersetzung ist in der nachrückenden Generation der Standespolitiker selten geworden. Es macht mitunter den Eindruck, als würde heutzutage vor lauter Konsenssuche und vorbeugender Rücksichtnahme verabsäumt, die eigenen Interessen klar und nachdrücklich zu vertreten.
Dirk Heinrich wird dies weiterhin tun. Leider nicht mehr in der KV Hamburg. Aber auf der Bundesebene. Und das wird man auch in Hamburg spüren.

WALTER PLASSMANN
ehemaliger Vorsitzender der KV Hamburg