Psychotherapie stärkt den Menschen – und die Gesellschaft
Von Dr. Johannes Frey
Warum es unterm Strich teurer wird, wenn man an den Ressourcen für psychotherapeutische Versorgung spart.
Zur ambulanten psychotherapeutischen Versorgungslage gibt es sehr unterschiedliche Wahrnehmungen: Haben wir genügend Kapazitäten? Oder herrscht Unterversorgung? Während die gesetzlichen Krankenkassen in einem Positionspapier Vorschläge machen, wie die Versorgung eingeschränkt werden könnte, erleben Vertrags-Psychotherapeut:innen in ihrem Alltag einen massiven Mangel an Ressourcen. Nur einen Bruchteil der Patient:innen, die in unseren Praxen nach einem Therapieplatz fragen, können wir tatsächlich versorgen. Manche finden andernorts Hilfe. Doch laut einer GKV-Versichertenbefragung von 2022 empfinden 34 Prozent der Patient:innen die Wartezeit bis zur Therapie als „zu lang“ oder „viel zu lang“. Im Durchschnitt vergehen fast fünf Monate von der ersten Terminanfrage bis zum Beginn einer Richtlinientherapie (DPtV: Report Psychotherapie 2021, S. 73). Bei Patient:innen, die eine spezialisierte Psychotherapie suchen (z.B. Schmerztherapie, Traumatherapie oder Autismustherapie), sind die Wartezeiten deutlich länger.
Überholte Verhältniszahlen
Etwas zugespitzt könnte man sagen: Die Krankenkassen suchen nach Wegen, den Mangel besser zu verteilen – statt ihn zu beheben. Sinnvoller wäre es, die Bedarfsplanung an die Versorgungsnotwendigkeiten anzupassen und darauf aufbauend eine sinnvolle Patientensteuerung einzuführen. Die derzeitige Bedarfsplanung basiert auf Zahlen von 1999. Zwar wurde sie über die Jahre hinweg der Bevölkerungsentwicklung angepasst, doch die grundlegenden Verhältniszahlen zwischen Psychotherapie-Sitzen und Bevölkerung sind dieselben geblieben. Das Problem ist: Die Situation im Jahr 1999 kann nicht als Maßstab für den tatsächlichen Versorgungsbedarf gelten. Das Psychotherapeutengesetz trat damals gerade erst in Kraft. Viele Psychotherapeut:innen arbeiteten noch außerhalb des GKV-Systems, und zahlreiche Patient:innen mussten ihre Behandlungen selbst bezahlen. Auf dieser überholten Grundlage steht eine nominelle Überversorgung (aktuell Versorgungsgrad in Hamburg: 154 Prozent) einer realen Unterversorgung gegenüber.
Lohnende Investition
Warum sich die Krankenkassen so entschieden gegen einen Ausbau ambulanter psychotherapeutischer Kapazitäten wehren, ist schwer nachvollziehbar – denn auch sie würden profitieren. Eine von der Techniker Krankenkasse finanzierte Langzeitstudie zeigte schon 2011: Jeder in ambulante Psychotherapie investierte Euro führt innerhalb eines Jahres zu einer Einsparung von etwa zwei bis vier Euro. „Den wirtschaftlichen Hauptnutzen haben in erster Linie die Arbeitgeber durch die verbesserte Produktivität ihrer Mitarbeiter“, so die Studienautoren, „in zweiter Linie aber auch die Krankenkassen durch geringere Ausgaben beim Krankengeld sowie höhere Beiträge der Versicherten in einem regulären Arbeitsverhältnis.“
Wenn psychische Erkrankungen chronifizieren, weil die Patient:innen keine ambulante Therapie bekommen, werden sie im Krankenhaus behandelt – was ungleich teurer ist und oft nicht zu einer abschließenden Behandlung führt. Danach ist meist wieder eine ambulante Psychotherapie indiziert. Wenn auch dann keine Therapieplätze zur Verfügung stehen, müssen die Patient:innen möglicherweise ein weiteres Mal stationär stabilisiert werden – und so setzt sich der Kreislauf fort. Für die Kosten eines achtwöchigen Klinikaufenthalts könnte man eine Patient:in einige Jahre lang ambulant psychotherapeutisch behandeln. Die Krankenkassen plädieren dafür, kurzfristig im ambulanten Bereich zu sparen – und machen das System dadurch insgesamt teurer.
Verfehlte Steuerung
Patient:innen brauchen Orientierung und Steuerung – und die psychotherapeutische Sprechstunde ist dafür grundsätzlich ein gutes Instrument. Hier können Bedarfe ermittelt und Versorgungsoptionen vermittelt werden. Manche Patient:innen werden an eine Selbsthilfegruppe oder eine Sozialberatung verwiesen, andere in eine Klinik. Der weitaus größte Teil der Patient:innen in unseren Sprechstunden benötigt eine ambulante Psychotherapie. Doch was nützt eine Steuerung, wenn die wichtigste Anschluss-Option oft gar nicht angeboten werden kann? Wenn die Hoffnung der Menschen, über die Sprechstunde in eine psychotherapeutische Versorgung zu kommen, enttäuscht wird? Ich muss den Patient:innen oft von vornherein sagen: „Ich kann Ihnen gerne eine Beurteilung geben, ob sie eine Psychotherapie benötigen. Aber ich habe keinen Therapieplatz frei.“
Durch die Einführung der psychotherapeutischen Sprechstunde ist der Erstzugang zum Versorgungssystem zunächst leichter geworden, zumal wir als Psychotherapeut:innen verpflichtet sind, Sprechstunden auch über die Terminservicestelle (TSS) anzubieten. Da die Behandlungskapazitäten sich aber nicht vergrößert haben, gehen die Sprechstundenzeiten zu Lasten der längerfristigen psychotherapeutischen Behandlungen. Das hat zur Folge, dass sich die Wartezeiten auf eine Richtlinienpsychotherapie weiter verlängern. Ein Dilemma, dass wir als Berufsgruppe ohne eine Erweiterung der Behandlungskapazitäten nicht lösen können.
Die Krankenkassen fordern, dass die Psychotherapeut:innen noch mehr Sprechstunden und die Hälfte ihrer Behandlungsplätze über die TSS anbieten. Gleichzeitig sollen die über die TSS vermittelten Patient:innen direkt in die Therapie übernommen werden. Sie suggerieren damit, dass es nur einer dirigistischen Steuerung und effektiveren Verteilung bedarf, um die Versorgung zu verbessern. Tatsächlich würde so ein System ohne eine massive Ausweitung der Versorgungskapazitäten nicht funktionieren.
Vernünftiger wäre, wenn nur Therapeut:innen mit freien Kapazitäten ihre Termine in die TSS einstellen. Dann könnten Patient:innen nach der Sprechstunde tatsächlich direkt in eine Therapie übernommen werden – sofern ein ambulanter psychotherapeutischer Behandlungsbedarf gegeben ist und die menschliche Passung vorhanden ist. So wie es jetzt organisiert ist, ist es ein Dilemma, in dem unsere Berufsgruppe eben auch irgendwie den Mangel verwalten muss.
Schwer erkrankte Patient:innen
Es stimmt, dass der Zugang zur Versorgung für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen weiterhin zu schwierig ist. Die Richtlinie zur Komplexversorgung (KSVPsych-Richtlinie) regelt ein Programm zur Koordinierung und Strukturierung der Versorgung von schwer psychisch kranken Menschen mit komplexem Behandlungsbedarf – für Erwachsene seit Oktober 2022 und für Kinder und Jugendliche seit April 2025. Eine entsprechende vernetzte Versorgung halte ich grundsätzlich für sinnvoll, weil in die Versorgung schwer erkrankter Patient:innen mehrere Behandler:innen eingebunden werden müssen. Doch es gibt bei der Umsetzung der Richtlinie zu viele bürokratische Hürden, die mit einem unangemessen hohen Aufwand verbunden sind. Um eine Steuerungswirkung zu entfalten, müsste das Modell viel einfacher und finanziell attraktiver sein.
Seit 2020 werden die ersten zehn Sitzungen einer Kurzzeittherapie durch einen finanziellen Zuschlag gefördert. Damit wollte der Gesetzgeber Anreize für kürzere Behandlungen schaffen, auf die auch die Krankenkassen immer wieder gedängt haben. Die Deutsche Psychotherapeutenvereinigung hat sich damals gegen diese Regelung ausgesprochen: Das sei ein Anreizsystem, das zu Fehlsteuerungen führen könne. Nun haben auch die Krankenkassen in ihrem Positionspapier die Sorge geäußert, es sei „für Leistungserbringende finanziell attraktiver, Versicherte mit lediglich kurzem Behandlungsbedarf zu therapieren“ und fordern die Abschaffung der Zuschläge. Es zeigt sich auch hier wieder, wie fachfremde Steuerungsversuche und Anreizsysteme der Komplexität der Versorgung psychisch kranker Menschen nicht gerecht werden.
Wir brauchen deshalb eine generell bessere Vergütung von Psychotherapie, um allen Patient:innen ein ihrem Behandlungsbedarf angemessenes und fachlich begründetes Versorgungsangebot machen zu können.
In diesem Kontext positiv hervorzuheben ist die Förderung von Gruppentherapien. Hier haben die Krankenkassen sehr gute Arbeit geleistet: Die Therapieform, die vorher durch hohe Hürden und schlechte Vergütung wenig angeboten wurde, wurde gefördert und flexibilisiert. Die Bedingungen sind heute deutlich besser als früher und führen zu einem deutlich größeren Angebot. Nun ist wichtig, sowohl die Kolleg:innen als auch die Patient:innen zu motivieren, diese Versorgungsform noch stärker zu nutzen. Oft wird die Gruppentherapie von Patien:innen noch immer als eine Art Notlösung angesehen. Da ist noch viel Aufklärung zu leisten, denn es ist eine wirksame, sehr effektive Versorgungsform – die allerdings nicht für jede Problematik und nicht für alle Patient:innen indiziert ist.
Fehlende Finanzierung der Weiterbildung
Was für die psychotherapeutische Versorgung wirklich dramatische Folgen haben könnte, ist die Weigerung von Politik und Krankenkassen, sich um die Finanzierung der neuen psychotherapeutischen Weiterbildung zu kümmern, die das alte Ausbildungssystem ablöst. Ganze Kohorten könnten verloren gehen, weil völlig unklar ist, ob die Abgänger:innen des neuen Psychotherapiestudiums ihr Berufsziel Fachpsychotherapeut:in überhaupt erreichen können, solange die Finanzierung und damit die Weiterbildungsplätze nicht vorhanden sind.
Aktuell haben bereits die ersten Jahrgänge ihr Studium beendet und können ihren Berufsweg nicht weiterführen, da es fast keine Weiterbildungsstellen gibt. Den jungen Menschen ist so der Weg in die Niederlassung versperrt, für die der Abschluss der Weiterbildung zum Fachpsychotherapeut:in Vorraussetzung ist. Was angesichts der Tatsache, dass ein großer Teil der derzeit tätigen Vertrags-Psychotherapeut:innen in den nächsten Jahren aus Altersgründen ausscheiden wird, durchaus ein gravierendes Problem darstellt. Derzeit haben wir in Hamburg einen statistischen Versorgungsgrad von 154 Prozent. Doch 40 Prozent der Vertrags-Psychotherapeut:innen sind über 60 Jahre alt. Wenn diese Gruppe wegfällt, sinkt der Versorgungsgrad auf 84 Prozent.
Den Krankenkassen scheint das nicht bewusst zu sein. In ihrem Positionspapier schreiben sie, es brauche derzeit keine weiteren Anreize. Ein Mangel an Psychotherapeut:innen könne nicht bestätigt werden. Angesichts der Länge des Qualifikationsweges bis zur möglichen Niederlassung von mindestens zehn Jahren ist das von einer bestürzenden Kurzsichtigkeit.
Man sollte nicht vergessen, dass die Finanzierung der Weiterbildung gleichzeitig auch eine Finanzierung von tatsächlich stattfindender Versorgung ist. Ein substanzieller Teil der Versorgung läuft über die Ausbildungs-Institute. Diesen Anteil darf man in einer ohnehin schon schlechten Versorgungs-Umgebung nicht wegbrechen lassen. Politik und Krankenkassen bleibt nicht mehr viel Zeit, eine tragfähige Lösung zur Finanzierung der Weiterbildung zu finden.
Anpassung der Vergütung?
Völlig absurd wird es, wenn die Krankenkassen mit Hinweis auf überproportionale Honorarsteigerungen für psychotherapeutische Leistungen eine Anpassung der Vergütungsstrukturen fordern. Im Positionspapier liest es sich so, als führe eine gesetzliche Sonderstellung der Psychotherapeut:innen zu einer Vielzahl von Klageverfahren. Tatsächlich ist diese gesetzliche Sonderstellung erst dadurch entstanden, dass die Profession seit Jahren eine Anpassung der Honorare mindestens auf das untere gesetzlich zumutbare Minimum über den Rechtsweg erkämpfen muss. Die „gesetzliche Sonderstellung“ bedeutet nur, dass regelmäßig überprüft werden soll, ob die Vergütung wieder unter gesetzlich festgelegte Minimalwerte gefallen ist. Das gesetzliche Minimum ist wie folgt festgelegt: Eine maximal ausgelastete psychotherapeutische Praxis muss ein vergleichbares Honorar erzielen können, wie eine durchschnittlich ausgelastete Praxis aus dem unteren fachärztlichen Einkommensbereich – es geht hier also explizit nicht um Gleichstellung. Die Honorarsteigerungen aufgrund dieser gesetzlich vorgeschriebenen Anpassungen zeigen nur, wie schlecht die Vergütung ursprünglich war. Und wie wichtig die jetzige Regelung ist, um den Psychotherapeut:innen ein besseres (aber im Vergleich zu anderen Gruppen innerhalb der KV noch immer unterdurchschnittliches) Einkommen zu sichern.
Wir begrüßen jede sachliche Diskussion zur Frage, wie die psychotherapeutische Versorgung im Solidarsystem verbessert werden könnte. Doch eines sollte klar sein: Restriktive Eingriffe, die auf eine Verknappung der vertragspsychotherapeutischen Ressourcen zielen, werden am Ende kein Geld einsparen – nicht im Gesundheitssystem und schon gar nicht in der Gesellschaft insgesamt.
DR. JOHANNES FREY, psychologischer Psychotherapeut niedergelassen in Eppendorf und stv. Vorsitzender der Vertreterversammlung der KV Hamburg