»Täglicher Kampf«
Interview
Die Privatisierung der Krankenhäuser ist keine Erfolgsgeschichte. Warum gehen wir nun einen ähnlichen Weg in der ambulanten Versorgung? Der Hamburger Ärztekammer-Präsident Dr. Pedram Emami beschreibt, wie Ärztinnen und Ärzte durch den Einfluss von Kapitalinteressen in ethische Konflikte geraten.
Sie haben in einer Diskussionsveranstaltung vor einer Kommerzialisierung der vertragsärztlichen Versorgung gewarnt – und dabei auf die Erfahrungen im stationären Bereich verwiesen. Was ist das Problem?
emami: In Deutschland begann die Übernahme von Krankenhäusern durch Privatunternehmen in den 1990er-Jahren. Seither breiten sich marktwirtschaftliche Mechanismen in einem Sozialsystem aus – und das führt zu Zielkonflikten, von denen auch Ärztinnen und Ärzte betroffen sind.
Wie meinen Sie das?
emami: Im stationären Bereich ist das Thema ja evident: Die Bundesärztekammer hat mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) schon vor einiger Zeit vereinbart, dass Verträge mit Ärztinnen und Ärzten keine Fehlanreize durch Bonusregelungen und fragwürdige Fallzahl-Ziele enthalten dürfen. Das ist ein wichtiger Schritt, doch für viele Ärztinnen und Ärzte bleibt die Abwehr von kaufmännisch motivierten Vorgaben ein täglicher Kampf.
Gilt das auch für Ärztinnen und Ärzte, die in freigemeinnützigen oder öffentlichen Krankenhäusern angestellt sind?
emami: Zunehmend, ja. Die Privatisierung hat Auswirkungen auf das gesamte System. Chefärztinnen und Chefärzte beklagen überall, dass der Druck auf sie sehr hoch ist – egal, in welcher Art von Krankenhaus sie arbeiten. Der Clinch mit den Kaufleuten findet überall statt. Natürlich sind die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen auch alle Unternehmerinnen und Unternehmer. Der Unterschied ist aber, dass sie am Ende die Verantwortung für ihre medizinischen Entscheidungen selbst übernehmen. Das ist bei der kaufmännischen Leitung eines Krankenhauses oder eines MVZ nicht so. Die sorgt für Gewinnmaximierung – und kann am Ende doch sagen: „Ich habe die Indikation für die OP ja nicht gestellt. Ich kann gar nicht wissen, ob das richtig war oder nicht.“ Diese Verantwortung bleibt bei den Ärztinnen und Ärzten. Und das ist das Tückische an einer Konstellation, in der die Kaufleute das Sagen haben – aber eben nicht die Haftung.
Und Sie fürchten, dass solche Konflikte nun zunehmend auch auf die ambulante Versorgung übergreifen?
emami: Ja. Mich wundert, dass wir nach den Erfahrungen, die wir mit der Privatisierung der Krankenhäuser gemacht haben, den gleichen Weg nun auch im ambulanten Bereich gehen wollen.
Hören Sie denn auch schon Klagen von Ärztinnen und Ärzten aus dem ambulanten Bereich, die sich unter Druck gesetzt fühlen?
emami: Ja. Und das betrifft vor allem investorenbetriebene MVZ. Wir hören regelmäßig von angestellten Kolleginnen und Kollegen, dass sie von den kaufmännischen Leitungen auf die Zusammensetzung der von ihnen erbrachten Leistungen angesprochen werden. Dabei geht es nicht um die Frage: Macht das medizinisch Sinn? Sondern nur um den finanziellen Aspekt: Was lohnt sich, was lohnt sich nicht? Die Kolleginnen und Kollegen sollen mehr lukrative Leistungen erbringen und die Zahl der weniger lukrativen Leistungen herunterfahren.
Auf welchen Wegen kommen diese Beschwerden zu Ihnen?
emami: Viele Kolleginnen und Kollegen wenden sich an die Gewerkschaft, also an den Marburger Bund. Da geht es ganz konkret um den Einzelfall. Wir versuchen, den Kolleginnen und Kollegen den Rücken zu stärken oder ihnen durch juristische Beratung zu helfen. Manchmal kann man Arbeitsverträge so gestalten, dass einer Einmischung der kaufmännischen Leitung ein Riegel vorgeschoben wird. Andere Kolleginnen und Kollegen kommen auf die Ärztekammer zu und fragen: Wie kann man das berufspolitisch in den Griff bekommen? Welche Rahmenbedingungen müssten verändert werden, um unsere Situation zu verbessern?
Können Sie den Kolleginnen und Kollegen helfen?
emami: Wir können von den Kolleginnen und Kollegen lernen, wo die Probleme liegen und für welche berufspolitischen Ziele wir uns stärker engagieren müssen. Unsere Möglichkeiten sind zwar begrenzt. Aber wir sollten die Spielräume nutzen, die wir haben.
Die Öffnung der ambulanten Versorgung für Privatunternehmen und Investoren hat noch einen weiteren Effekt: Jüngere Ärztinnen und Ärzte bekommen es mit finanzstarken Konkurrenten zu tun, wenn sie sich auf einem Kassensitz bewerben wollen, um sich niederzulassen.
emami: Ja, das ist in bestimmten Bereichen ein sehr großes Problem. Es betrifft vor allem Fächer, in denen Leistungen skaliert werden können und Apparate zum Einsatz kommen: Augenheilkunde, Nephrologie, Endoskopie, Radiologie, et cetera. Für Ärztinnen und Ärzte ist es mittlerweile extrem schwer, da finanziell mitzuhalten. Faktisch werden die Kassensitze heutzutage ja oftmals an den Meistbietenden verkauft – so muss man das sagen. Wenn ich mich niederlassen will und für einen Kassensitz den Betrag X zahlen kann, ist es für ein Krankenhausunternehmen oder einen Investor ein Leichtes zu sagen: Wir bieten X plus 10 Prozent. Und dann ist die Frage: Geht meine Bank mit und finanziert das? Und will ich selbst so viele Schulden aufnehmen? Kann ich durch anständige, fleißige Arbeit während meiner Lebensarbeitszeit genug Geld verdienen, um das abzubezahlen? Das ist oft nicht mehr der Fall, deshalb bekommen Privatunternehmen und Investoren den Zuschlag. Wenn wir nicht gegensteuern, ist das ärztlich geprägte ambulante System schon bald verloren.
Es gibt noch eine dritte Konstellation, in der sich diese Entwicklung direkt auf Ärztinnen und Ärzte auswirkt – nämlich, wenn sie am Ende ihres Berufslebens vor der Entscheidung stehen, ihre Praxis einen ärztlichen Nachfolger oder an ein Unternehmen zu verkaufen. Was kann man dazu sagen?
emami: Ich hatte tatsächlich schon Gespräche mit Ärztinnen und Ärzten, die genau vor einer solchen Entscheidung standen: Sie wollten ihre Praxis an Kollegen weitergeben, die aber den Preis nicht aufbringen konnten. Und es gab Privatunternehmen, die bereit waren, eine ordentliche Summe zu bezahlen. Ich kann durchaus verstehen, wenn sich ein Arzt oder eine Ärztin kurz vor dem Ruhestand in einer solchen Situation für den eigenen Vorteil entscheidet. Das System ist korrumpiert, und deshalb muss man an die Zuständigen appellieren: Hört auf, Ärztinnen und Ärzte in ethische Konflikte zu bringen.
Das war früher besser?
emami: Denken Sie doch mal 30, 40 Jahre zurück. Wer früher eine Praxis hatte, konnte selbstbestimmt arbeiten und im Einklang mit dem ärztlichen Ethos eine gute Medizin machen. Man wurde nicht reich, hat aber gut verdient. Man konnte für den Ruhestand vorsorgen und die Praxis an die nächste Kollegin oder den nächsten Kollegen weitergeben. Das hat wunderbar funktioniert, es gab eine hervorragende Patientenversorgung. Heute ist das völlig anders: Egal ob ich angestellt oder selbstständig bin, irgendeinen Kampf muss ich immer ausfechten. Immer werde ich vor die Entscheidung gestellt: Ich oder die anderen? Das ist doch eine furchtbare Entwicklung in einem System, in dem eigentlich das Gemeinwohl im Vordergrund stehen sollte.
Gibt es gute und schlechte Investoren?
emami: Ich würde das Ganze nicht unnötig moralisieren. Eigentlich ist es ganz einfach: Warum investiere ich? Ein Investor hat das primäre Ziel, Geld zu verdienen. Er hat alles Recht zu entscheiden, welche Schwerpunkte er setzt – zum Beispiel ausschließlich nach finanziellen Kriterien. Das ist grundsätzlich legitim. Problematisch wird es, wenn Zielkonflikte auftreten: Einerseits haben wir ein Sozialsystem, das durch solidarische Umlage von Beitragsgeldern für eine möglichst gute Gesundheitsversorgung der Bevölkerung sorgen soll. Andererseits kommen nun Investoren ins Spiel, deren Ziel es ist, möglichst viel Geld aus dem System herauszusaugen. Das ist keine Frage von Gut und Böse, sondern eine Frage des Konstrukts: Welche zuwiderlaufenden Interessen lässt man hier aufeinanderprallen? Und wer setzt sich am Ende durch?
Welche Gefahren für die Versorgungsstruktur sehen Sie?
emami: Ich befürchte, dass die engmaschig-wohnortnahe Versorgungsstruktur erodiert. Es besteht die Gefahr, dass die Versorgung an großen Zentren konzentriert wird, die sektorenübergreifend sowohl Bettenstationen als auch MVZ betreiben. Dazwischen gibt es wahrscheinlich noch kleine Spezialkliniken. Und die verbliebenen hausärztlichen und pädiatrischen Einheiten in der Fläche kämpfen am Rande ihrer Leistungsfähigkeit ums Überleben.
Was müsste unternommen werden, um den Einfluss von Privatunternehmen und Investoren auf die ambulante Versorgung zu begrenzen?
emami: Bundesärztekammer und KBV haben Positionen zum Regelungsbedarf veröffentlicht. Dabei geht es unter anderem darum, die Besitzverhältnisse der MVZ transparent zu machen, Marktanteile zu begrenzen und die ärztliche Stellung zu stärken. Die Forderungen der Selbstverwaltung liegen auf dem Tisch. Wir sollten aber meiner Ansicht nach außerdem innovative Konzepte entwickeln, um die Zulassungsverfahren zu reformieren. Denkbar wäre beispielsweise, einen Fonds aufzubauen, um Ärztinnen und Ärzten, die in Ruhestand gehen, die Kassensitze abzukaufen. Das anschließende Vergabeverfahren sollte sich nicht an der Finanzkraft des Bewerbers, sondern an dessen fachlichen Kompetenz und an der Sicherstellung orientierten: Wer eignet sich am besten dafür, diese Praxis an diesem Standort zu übernehmen? Ich bin sicher, dass wir als Selbstverwaltung auch heute schon unsere Gestaltungsspielräume besser nutzen könnten. Hamburg ist zwar ein kleines Bundesland, doch das hat den Vorteil, dass Projekte leichter umsetzbar sind, wenn bei allen Beteiligten der politische Wille vorhanden ist. Wie bekommen wir eine Sicherstellung hin, die diesen Namen verdient? Die Selbstverwaltung sollte genaue Standortanalysen durchführen, um sagen zu können: Wo ist ein Bedarf? Für welche Fachrichtungen? Wie können wir die Sitze auch über die Fläche verteilen, damit eine wohnortnahe ambulante Versorgung aus ärztlicher Hand auch in Zukunft möglich ist? Die Selbstverwaltung ist ein hohes Gut. Ein Blick nach Großbritannien und die USA zeigt: Wir dürfen die Gesundheitsversorgung weder dem Staat noch dem Markt überlassen.
Interview: Martin Niggeschmidt