Knie-Totalendoprothese
Aus dem Netzwerk evidenzbasierte Medizin
Die Informations- und Entscheidungsprozesse von Patient:innen von der Diagnose bis zur Aufklärung
Von Sandro Zacher, Julia Lauberger, Dr. red. medic. Carolin Thiel und Prof. Dr. phil Julia Lühnen im Auftrag des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin e. V. (www.ebm-netzwerk.de)
Gonarthrose kann erhebliche Schmerzen, eingeschränkte Funktionen und Beeinträchtigungen verursachen. Für viele Patient:innen stellt die Knie-Totalendoprothese (Knie-TEP) eine vielversprechende Möglichkeit dar, Schmerzen zu lindern und die Funktionsfähigkeit zu verbessern. In Deutschland ist die Zahl der Knie-TEP-Operationen insgesamt hoch, mit erheblichen altersstandardisierten regionalen Unterschieden. Im Jahr 2016 lag die Rate zwischen 153 Eingriffen pro 100.000 Einwohner:innen in Berlin und 260 Eingriffen pro 100.000 Einwohner:innen in Bayern (1).
In der S2k-Leitlinie „Indikation Knieendoprothese“ werden klare Kriterien zur Indikationsstellung Knie-TEP definiert. Allerdings wurden in einer deutschen Studie lediglich 40 % der empfohlenen Knie-TEPs durch eine Zweitmeinung bestätigt. Auffällig ist dabei, dass konservative Behandlungsoptionen, wie Physiotherapie oder Gewichtsreduktion, oft nicht ausgeschöpft wurden (2).
Vor einer Knie-TEP haben Patient:innen hohe Erwartungen an den möglichen Nutzen (3). Allerdings variiert die Zufriedenheit nach der Operation (4). Möglicherweise spielen hierbei unrealistische Erwartungen oder mangelndes Wissen über mögliche Risiken eine Rolle.
Dies unterstreicht die Wichtigkeit einer informierten und gemeinsamen Entscheidungsfindung (Shared Decision Making) von Ärzt:innen und Patient:innen, in der die beste verfügbare Evidenz und die Patient:innenpräferenzen berücksichtigt werden. Eine Entscheidung gilt als informiert, wenn sie auf adäquatem Wissen beruht, mit den Einstellungen der Person übereinstimmt und zum Handeln im Einklang mit der eigenen Einstellung führt (5).
In diesem Zusammenhang spielt die informierte Einwilligung eine entscheidende Rolle. Dabei ist es wichtig, Patient:innen transparent über die Notwendigkeit, den Ablauf, den möglichen Nutzen und Schaden sowie den Alternativen zu einer Knie-TEP zu informieren. In Deutschland wurde 2013 das Patientenrechtegesetz eingeführt, um die Rolle der Patient:innen zu stärken. Bisherige Aufklärungsbögen offenbaren dahingehend häufig Defizite und enthalten nicht die notwendigen Informationen zum Anstoßen eines informierten Entscheidungsprozesses (6).
Dieser Beitrag möchte einen Einblick in die Ergebnisse einer kürzlich veröffentlichten Studie der Autor:innen zu den Informations- und Entscheidungsprozessen von Patienten:innen mit Gonarthrose geben und fokussiert relevante Aspekte für niedergelassene Ärzt:innen (7).
ZIEL UND METHODIK DER STUDIE
In dem vom Innovationsfonds des G-BA geförderten Projekt „EvAb-Pilot“ wurden evidenzbasierte Aufklärungsbögen für die Knie-TEP und den dazugehörigen Anästhesieverfahren entwickelt und evaluiert (8).
Zu Beginn des Projekts erfolgte die Exploration von Informations- und Entscheidungsprozessen. Das Ziel war es, den Prozess von der Diagnose der Gonarthrose über den Entscheidungsprozess bis hin zum Aufklärungsgespräch für eine Knie-TEP zu beschreiben, Informationsbedürfnisse zu ermitteln und zu verstehen, wann, wie und von wem Entscheidungen getroffen werden.
Um den Prozess von „innen“ heraus beschreiben und verstehen zu können, wurde ein qualitativer Ansatz mit einem iterativen Prozess aus Datenerhebung und Datenanalyse gewählt. Die Stichprobe sollte aus Patient:innen mit Gonarthrose und Ärzt:innen, die am Prozess beteiligt sein könnten, bestehen und ein möglichst breites Spektrum an Alter, Geschlecht und Erfahrungen sowie Zufriedenheit mit der Behandlung bzw. Knie-TEP abbilden.
Dazu wurden Patient:innen mit geplanter, erfolgter und abgelehnter Knie-TEP eingeschlossen. Die Rekrutierung von Patient:innen erfolgte innerhalb der „Knie-Sprechstunde“ eines Maximalversorgers, über Flyer in Arztpraxen und Reha-Einrichtungen sowie über Facebook-Gruppen zu Kniearthrose. An der Aufklärung für Knie-TEP und Anästhesie beteiligte Ärzt:innen wurden in einem Krankenhaus der Maximalversorgung rekrutiert.
Die Rekrutierung von niedergelassenen Ärzt:innen erfolgte in einem städtischen Ballungsraum im Westen von Deutschland. Zwischen November 2020 und Juli 2021 wurden insgesamt 27 leitfadengestützte Telefon-Interviews mit 13 Patient:innen und 14 Ärzt:innen durchgeführt. Die Auswertung der Interviews erfolgte inhaltsanalytisch mit dem Ziel, angesprochene Themen zusammenzufassen und zu strukturieren.
ZENTRALE STUDIENERGEBNISSE MIT HOHER RELEVANZ FÜR DIE VERSORGUNG VON PATIENT:INNEN
Niedergelassene Ärzt:innen sollten sich ihrer wichtigen Rolle im Entscheidungsprozess und der Tragweite der Informationen, die sie von Beginn an vermitteln, bewusst sein.
Anhand der Interviews zeigte sich, dass die subjektive Krankheitstheorie von Patient:innen und die von niedergelassenen Ärzt:innen kommunizierten Informationen bei der Diagnosestellung und während der ambulanten Konsultationen einen erheblichen Einfluss auf den weiteren Behandlungsverlauf haben.
„Aus Angst, dass ich zu den 20% mit Problemen danach gehöre, [der Orthopäde] meinte so oder so muss ich neue Knie irgendwann bekommen… Und mir blieb übrig zu überlegen, ob jetzt oder in 5 Jahren“ [011, Patient:in mit geplanter Knie-TEP]
In der subjektiven Krankheitstheorie der Patient:innen wurde die Gonarthrose als irreparabler Zustand wahrgenommen, der ertragen werden muss und als logische Konsequenz unvermeidbar mit einer Knie-TEP behandelt wird.
Sowohl Art und Ausmaß der Informationsbedürfnisse als auch die Wahl von Behandlungspfaden und die Art der Entscheidungsfindung werden von der subjektiven Krankheitstheorie und der Informationsvermittlung nachhaltig beeinflusst. In diesem Zusammenhang wurde deutlich, dass die angebotenen Informationen und Behandlungsoptionen in dieser Stichprobe nicht durchgehend den Empfehlungen der S2k-Leitlinie Gonarthrose entsprechen (9). Zum Beispiel wurden Behandlungen ohne ausreichende Evidenz angeboten (z.B. Magnettherapie). Dagegen wurden konservative Behandlungsoptionen, wie sie in der Leitlinie empfohlen werden, teilweise nicht angeboten.
Informationen zu Nutzen und Risiken sollten bereits früher im Krankheitsverlauf vermittelt werden.
Zwischen niedergelassenen Ärzt:innen und Kliniker:innen herrschten unterschiedliche Ansichten, was die Informationsvermittlung betrifft. In der Klinik tätige Orthopäd:innen erwarteten, dass Patient:innen bereits Informationen zu den Vor- und Nachteilen einer Knie-TEP erhalten hatten, während niedergelassene Ärzt:innen die Bereitstellung dieser Informationen größtenteils den Kolleg:innen in der Klinik zuschrieben. Patient:innen hatten den Eindruck, dass in der Kliniksprechstunde eher die potenziellen Vorteile als die möglichen Nachteile und Komplikationen einer Knie-TEP betont wurden.
„[Risiken im Aufklärungsgespräch] wurden erwähnt, aber nicht besonders betont, ne? Also die Betonung lag eindeutig da drin zu sagen, zu über 95 Prozent völlig risikoarme Geschichte.“ [006, Patient:in nach Knie-TEP]
Ein besonders markanter Befund aus dieser Stichprobe war außerdem, dass die Entscheidung vor der Indikationsstellung in einer Klinik bereits stand oder kurz nach der ersten Konsultation in einer Klinik getroffen wurde.
„Die Entscheidung stand fest. Daran hat sich [durch das Aufklärungsgespräch] auch nichts verändert.“ [006, Patient:in nach Knie-TEP]
War dies der Fall, vermieden die interviewten Patient:innen es eher, weitere Informationen zu erhalten, die die Entscheidung potenziell in Frage stellen und zu einer Verunsicherung führen könnten. Eine informierte Entscheidung ist im Rahmen des Prozesses, wie er sich anhand der Interviews zeigte, nicht möglich. Dazu kommt, dass Patient:innen nicht damit rechneten, von den Ärzt:innen in die Entscheidung einbezogen zu werden. Die Studie von Suarez-Almazor et al. (10) verdeutlicht jedoch den Wunsch von Patient:innen nach einer gemeinschaftlichen Entscheidung.
FAZIT FÜR DIE PRAKTISCHE TÄTIGKEIT
Es gibt Hinweise, dass es in dem Informations- und Entscheidungsprozess erhebliche Barrieren für eine informierte Entscheidung gibt. Als ein wesentliches Problem erwies sich in den Interviews der Mangel an adäquatem Wissen bei den Befragten, da das Vorhandensein von adäquatem Wissen eine Voraussetzung für eine informierte Entscheidung ist.
Abbildung 1: Informierte Entscheidung
Insofern ist es wichtig, auf eine ausgewogene, realistische und evidenzgeleitete Informationsvermittlung zu achten und sich der Tragweite der Informationsvermittlung bewusst zu sein. Eine frühzeitige Bereitstellung von evidenzbasierten und ausgewogenen Informationen im Behandlungsprozess könnte ein realistischeres Krankheitsbild ermöglichen und so die Offenheit für verschiedene Behandlungsoptionen bei den Patient:innen fördern.
Eine Neuausrichtung der Aufklärung, weg von der schwerpunktmäßig rechtlichen Absicherung kurz vor der Operation, hin zu einem kontinuierlichen Informations- und Aufklärungsprozess, der bereits früh im Krankheitsverlauf initiiert wird, könnte eine Möglichkeit darstellen, die aufgezeigten Barrieren abzubauen. Das Vertrauen in die Erfahrung der Behandelnden spielte in den Interviews eine wesentliche Rolle und könnte als Ressource verstanden werden, die Patient:innen frühzeitig auf eine informierte Entscheidung vorzubereiten.
SANDRO ZACHER
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Medizinische Fakultät, Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft, Halle (Saale)
E-Mail: sandro.zacher@medizin.uni-halle.de
JULIA LAUBERGER
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Medizinische Fakultät, Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft, Halle (Saale)
E-Mail: julia.lauberger@medizin.uni-halle.de
DR. RER. MEDIC. CAROLIN THIEL
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Medizinische Fakultät, Institut für Allgemeinmedizin, Halle (Saale)
PROF. DR. PHIL. JULIA LÜHNEN
Charité – Universitätsmedizin Berlin
corporate member of Freie Universität Berlin and Humboldt Universität zu Berlin,
Institut für Klinische Pflegewissenschaft, Berlin
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.
Referenzen
1) Hemschemeier, M., Bittkowski, M. & Stollorz, V. (2018). Knee prostheses - strong increase and large regional differences.
https://opex.sciencemediacenter.de/fileadmin/userupload/Operation-Explorer/Knieprothesen-ReportSMC-Operation-Explorer_2018-06-19.pdf
2) Weigl, M., Pietzner, J., Kisch, R., Paulus, A., Jansson, V. & Grill, E. (2021). Effects of a medical second opinion programme on patients’ decision for or against knee arthroplasty and their satisfaction with the programme. BMC musculoskeletal disorders, 22(1), 595. https://doi.org/10.1186/s12891-021-04465-5
3) Pouli, N., Das Nair, R., Lincoln, N. B. & Walsh, D. (2014). The experience of living with knee osteoarthritis: exploring illness and treatment beliefs through thematic analysis. Disability and rehabilitation, 36(7), 600–607. https://doi.org/10.3109/09638288.2013.805257
4) Klem, N.-R., Kent, P., Smith, A., Dowsey, M., Fary, R., Schütze, R., O'Sullivan, P., Choong, P. & Bunzli, S. (2020). Satisfaction after total knee replacement for osteoarthritis is usually high, but what are we measuring? A systematic review. Osteoarthritis and cartilage open, 2(1), 100032. https://doi.org/10.1016/j.ocarto.2020.100032
5) Marteau, T. M., Dormandy, E. & Michie, S. (2001). A measure of informed choice. Health expectations: an international journal of public participation in health care and health policy, 4(2), 99–108. https://doi.org/10.1046/j.1369-6513.2001.00140.x
6) Lühnen, J., Mühlhauser, I. & Steckelberg, A. (2018). The Quality of Informed Consent Forms-a Systematic Review and Critical Analysis. Deutsches Arzteblatt international, 115(22), 377–383. https://doi.org/10.3238/arztebl.2018.0377
7) Zacher, S., Lauberger, J., Thiel, C., Lühnen, J. & Steckelberg, A. (2023). Informed consent for total knee arthroplasty: exploration of patient`s information acquisition and decision-making processes-a qualitative study. BMC health services research, 23(1), 978. https://doi.org/10.1186/s12913-023-09993-5
8) Weise, A., Lühnen, J., Bühn, S., Steffen, F., Zacher, S., Lauberger, J., Ates, D. M., Böhmer, A., Rosenau, H., Steckelberg, A. & Mathes, T. (2021). Development, piloting, and evaluation of an evidence-based informed consent form for total knee arthroplasty (EvAb-Pilot): a protocol for a mixed methods study. Pilot and feasibility studies, 7(1), 107. https://doi.org/10.1186/s40814-021-00843-x
9) Stöve J, Bock F, Böhle E, Dau W, Flechtenmacher J, Graichen H, et al. S2k-Leitlinie Gonarthrose. Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC). 2018.
10) Suarez-Almazor, M. E., Richardson, M., Kroll, T. L. & Sharf, B. F. (2010). A qualitative analysis of decision-making for total knee replacement in patients with osteoarthritis. Journal of clinical rheumatology: practical reports on rheumatic & musculoskeletal diseases, 16(4), 158–163. https://doi.org/10.1097/RHU.0b013e3181df4de4