12/2023 12/2023

Querelen und Quälereien

Kolumne

von Dr. Christine Löber, HNO-Ärztin in Hamburg-Farmsen

Alle paar Wochen schickt die Redaktion des KVH-Journals eine Mail, um mich an die nächste Kolumne zu erinnern. So sehr ich im Moment mit der KV Hamburg hadere (Regressgründe), so sehr bereitet die Redaktion immer gute Laune mit ihren freundlichen, heiteren Mails.
Ich hatte wie immer eigentlich schon ein grobes Thema für die nächste Kolumne, aber auch wie immer ist ja immer irgendwas.

Diesmal war es die Zahl 3,85 Prozent. Der Schlag in die Magengrube. Sie kennen das alle, Neupatientenregelung weg, alle Kosten steigen, Sie gehen von der 10-Minuten- zur 5-Minuten- zur 1-Minuten-Medizin über, um alles irgendwie stabil zu halten, und dann kommt diese Zahl.

3,85 Prozent.

Viel Pathos möchte ich Ihnen ersparen, aber ich würde gerne doch einmal abreißen, wie ich die aktuelle Situation so erlebe. Vieles wird Ihnen bekannt vorkommen.

Ich bin eine verhältnismäßig junge Kassenärztin, denken wir uns die Sorgenfalten mal weg. Ich gehe nicht morgen in Rente, ich soll die HNO-Versorgung eines großen Stadtteils aufrechterhalten. Klar, ich kenne Schwierigkeiten im Gesundheitssystem, habe ich doch jung und rebellisch im Betriebsrat in St. Georg gesessen und in der Delegiertenversammlung scharfe Wortduelle zwischen Monti und Dirk Heinrich gehört.

Jetzt bin ich selbstständig, arbeite viel, schimpfe viel, freue mich aber durchaus über meinen Beruf.

Das Praxisleben spielt sich in einer Zerrissenheit zwischen dem eigentlichen Beruf und irgendwelchen Querelen und Quälereien von außen ab.

Ich höre mir alles an, löse Pro­bleme, erfülle meinen Beruf meist zur vollsten medizinischen Zufriedenheit. Ich berate meine Patienten aus der Moschee und aus prekären familiären Verhältnissen, nehme Babies auf den Arm, sorge dafür, dass das Cholesteatom rechtzeitig operiert wird. Ich arbeite viel, und ich arbeite hart. Das macht nichts, das ist mein Beruf.
So weit, so gut.

Zwischendurch versagt der Konnektor, trudeln harsche Anweisungen zum E-Rezept ein, suchen wir händeringend nach neuem Personal, von dem wir nicht wissen, wie wir es bezahlen sollen, geht eine Optik kaputt, die sich auf 6000 Euro beziffert, twittert der Gesundheitsminister unterirdische Aussagen zur Ärzteschaft, beschimpfen uns die Patient:innen, die gestern nicht zum Termin gekommen sind.

Wir schultern das. Irgendwie.

In Social Media wird auf unsere Proteste dahingehend reagiert, dass Neiddebatten vom Zaun gebrochen werden. Sie wissen ja, wir sind ein exklusiver Milliardärsclub, in dem wir uns gegenseitig mit Porsches bewerfen.

Derjenige, der eine der größten und verantwortungsvollsten Aufgaben in dieser Debatte haben sollte, nämlich der Gesundheitsminister, demonstriert offene Feindseligkeit gegenüber eigentlich allen Gesundheitsgruppen. Aber uns Ärzt:innen verachtet er mit besonderem Nachdruck.

Überraschend ist das nicht, Karl Lauterbach ist von Haus aus Ökonom sowie Second-Line-Politiker, der mit Medizin nie mehr zu tun hatte als ein paar Jahre Vorlesungen in Aachen.

Die Stimmung war nicht gut in den letzten Monaten. Wo Jens Spahn (hier spricht ausdrücklich kein Spahn-Fan) noch Panem et circenses-artig kleine Zugeständnisse gemacht hatte, um die verschiedenen Grüppchen der Meute ruhig zu halten, hat Karl Lauterbach sich für wüste Trampelpfade entschieden.

Zunächst kann man hier offiziell gar nichts bemängeln, wo kein Geld, da muss es umso strenger verwaltet werden. Der Staat, den gar nicht wenige als Retter des Gesundheitssystems sehen, hat eigentlich gar nicht viel übrig für Gesundheit. Ein langweiliges, unlukratives, undankbares Feld. Wer mal in einem staatlichen Haus gearbeitet hat, wird die große Liebe des Staats zur Gesundheitsversorgung kennengelernt haben.

Die Privatisierungen der Kliniken sind wohl auch aus derselben Liebe entstanden.

Lauterbach macht, was jeder Politiker machen würde, allerdings so ungeschickt, dass man kaum glauben mag, dass er seinen Beruf auch beruflich macht. Ohne Charme, ohne Geschenke, ohne jegliche Klugheit gegenüber den Gruppen, die er bedienen muss. Das kann im allerbesten Fall cool und pragmatisch sein, im Durchschnittsfall wie unserem jedoch wirkt es verstörend, fehlgeleitet, egoistisch und peinlich. In unserem Fall ist es zusätzlich verheerend für eine ganze Gesellschaft.

Die Nachricht vom Anstieg der Kassenhonorare um 3,85 Prozent kam Mitte September. Ich habe mich nicht geärgert, ich war ganz ruhig. Über die nächsten Stunden hat sich die Bedeutung dieser Zahl wie eine überlaufende Wasserflasche zu einer Erkenntnis ausgebreitet.

Ich habe einen halben Kassensitz. Weitergesponnen kann ich meinen finanziellen Verpflichtungen, und ich bin natürlich keine Porschewerferin, mittelfristig nicht nachkommen. Wir können in unserer Praxis keine notwendigen Investitionen mehr tätigen, können keine neuen (und alten?) Mitarbeiter:innen mehr beschäftigen. Die Folgen sind für alle verständlich, nur Herr Lauterbach ist sich dieser Tragweite nicht bewusst.

Das, was die Berufsverbände, die KBV und andere Bündnisse schon proklamieren, ist keine Drohung, und nur in kleinen Teilen ein politischer Move.

Es ist die Realität.

Ich bin eine extrem gut ausgebildete, unfassbar belastungsfähige Medizinerin. Ich habe Kindern das Leben gerettet, ich kann Menschen in den Hals schneiden, ich kann problemlos HELFEN. Wir alle können das.

Die kontinuierliche Missachtung unserer Fähigkeiten und unserer hervorragenden und unabdingbaren Stellung in der Gesellschaft hat in den letzten Jahren Trotzreaktionen und Wut ausgelöst.

Das ist jetzt nicht mehr so. Ich weiß, was ich kann, und ich weiß, was wir alle können.

Es muss ein Schlussstrich gezogen werden, und wir können den ziehen, wenn wir uns dazu gezwungen sehen. Natürlich kann ich meine Leistungen kürzen, natürlich kann ich zur Selbstzahlermedizin übergehen, natürlich habe ich die Möglichkeit, meine Zulassung zurückzugeben und in einer anderen Sparte tätig zu werden. Anders als beispielsweise einen Gesundheitsminister wird man uns immer brauchen. Immer.

Anders als im trägen Klinikgeschäft können wir als Freiberufler auch noch sehr schnell und sehr hart reagieren. Und wir sind gar nicht so märtyrerhaft, wie wir immer erscheinen. Wir werden immer irgendwo arbeiten können, wir werden immer gefragt sein. Unsere Leidensfähigkeit ist endlich.

Das unterschätzt Karl Lauterbach.

Wie Sie an dieser Stelle bemerkt haben werden, befinde ich mich in einer recht unangenehmen Stimmung. Aber ich denke, dass diese Stimmung in der aktuellen Situation angebracht ist und geäußert werden darf.

Sobald ich mich beruhigt habe, schreibe ich wieder ein launiges, unterhaltsames Schriftstück.

Vielleicht beruhige ich mich aber auch nicht.

DR. CHRISTINE LÖBER ist HNO-Ärztin und Buchautorin.
Aktuell im Buchhandel: „Immer der Nase nach“ (zusammen mit Hanna Grabbe), Mosaik Verlag / Hamburg

In dieser Rubrik drucken wir abwechselnd Texte von Dr. Christine Löber, Dr. Matthias Soyka und Dr. Bernd Hontschik.