Praxen unter Druck
Von Dr. med. Dirk Heinrich
Die GKV-Finanzen müssen dringend auf eine solide Basis gestellt werden. Doch die Bundesregierung agiert kopflos und unzuverlässig.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach scheut offenbar davor zurück, die dringend notwendigen Reformen zur Finanzierung des Gesundheitswesens auf den Weg zu bringen. Sein GKV-Finanzstabilisierungsgesetz löst keine Probleme, im Gegenteil: Es schwächt die ambulante Versorgung. Die im Gesetz vorgesehene bessere Vergütung von TSS-Terminfällen und Hausarztvermittlungsfällen kann den Wegfall der Neupatientenregelung nicht kompensieren. Auf welche Ideen wird der Minister nächstes Mal kommen, wenn kurzfristig Finanzlöcher zu stopfen sind? Will er die HZV-Verträge streichen? Die 140er Verträge? Die DMP?
Die Bundesregierung weiß eigentlich sehr wohl, dass die GKV-Finanzen auf eine solide Basis gestellt werden müssen. Im Koalitionsvertrag heißt es: „Wir bekennen uns zu einer stabilen und verlässlichen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Den Bundeszuschuss zur GKV dynamisieren wir regelhaft. Wir finanzieren höhere Beiträge für die Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II aus Steuermitteln.“
Dabei greifen selbst diese Maßnahmen noch zu kurz. Der medizinische Fortschritt und die demografische Entwicklung werden zwangsläufig zu höheren Kosten führen. Das ist zwar seit langem bekannt, doch muss Politik diese Tatsachen zunächst einmal öffentlich anerkennen, zugeben und dann Lösungen entwickeln. Doch selbst die Umsetzung der angekündigten nur mittelfristig wirksamen Maßnahmen lässt auf sich warten.
Die Ausgaben für versicherungsfremde Leistungen in der GKV machen einer Schätzung des IGES-Instituts zufolge rund 16,4 Prozent der gesamten GKV-Leistungsausgaben aus. Zu den versicherungsfremden Leistungen gehören die beitragsfreie Mitversicherung von Familienmitgliedern, Erziehungs- und Mutterschaftsgeld, Krankengeld oder allgemeine Präventionsleistungen – und Leistungen für ALG II-Empfänger und Geflüchtete. Versicherungsfremde Leistungen zu finanzieren, darf nicht alleine den GKV-Beitragszahlern aufgebürdet werden. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Der Staat unterstützt die GKV durch Steuermittel (siehe Kasten).
Dieser staatliche Zuschuss soll im kommenden Jahr um 2 Milliarden Euro erhöht werden. Um die gesamten Ausgaben der GKV für die versicherungsfremden Leistungen zu decken, müsste der Staats-Zuschuss den Berechnungen des IGES zufolge jedoch um knapp 27 Milliarden Euro erhöht werden (IGES-Analyse: „Abschätzung des Finanzbedarfs in der GKV bis 2025“, Juni 2021).
Zum Vergleich: Das Defizit im GKV-System, mit dem das Spargesetz gerechtfertigt wurde, beträgt 17 Milliarden Euro.
Unsere Forderung ist klar: Die versicherungsfremden Leistungen müssen zu 100 Prozent durch Steuermittel gegenfinanziert werden. Schluss mit den Luftbuchungen! Wir brauchen eine vollständige Finanzierung und eine saubere Buchführung, um zu verhindern, dass das GKV-System noch stärker in Schieflage gerät.
Die Praxen müssen sich ohnehin auf schwierige Zeiten einstellen: Die Energiepreise steigen, die Inflation galoppiert. Gehaltsforderungen der MFA von 11 Prozent liegen auf dem Tisch – und sind gerechtfertigt. Auch die MFA müssen ihre Strom- und Gasrechnungen bezahlen, auch sie spüren die Inflation. Dass der Einsatz der MFA gewürdigt wird, ist auch in unserem eigenen Interesse.
Im Jahr 2016 sagten 15 Prozent der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte, dass es „sehr schwer“ sei, offene Stellen in der Praxis mit qualifiziertem Personal zu besetzen. Im Jahr 2022 stieg dieser Anteil auf 48 Prozent an (MLP Gesundheitsreport 2022).
Etwa 22 Prozent der Arztpraxen sind, was qualifiziertes Praxispersonal betrifft, eigenen Angaben zufolge unterbesetzt.
Das ist eine beunruhigende Zahl. Wir müssen unseren Praxismitarbeiterinnen und -mitarbeitern ein angemessenes Gehalt bieten – doch die Refinanzierung über die Krankenkassen funktioniert nicht. Mit der nun festgesetzten Punktwerterhöhung um 2 Prozent ist es bei weitem nicht getan. Eine 11-prozentige Erhöhung der MFA-Gehälter bedeutet für eine durchschnittliche Praxis eine Kostensteigerung von insgesamt etwa 6 Prozent. Wenn ich eine 2-prozentige Erhöhung des Orientierungspunktwerts bekomme (wie dies für 2023 vom Erweiterten Bewertungsausschuss festgelegt wurde), fehlen mir vier Prozent – die ich an anderer Stelle im Praxisbetrieb einsparen muss.
Nun werden die Personalkosten bei der Kalkulation des Orientierungspunktwerts ja eigentlich mit einbezogen. Doch das Verfahren bildet den Kostenanstieg ab, der vor zwei Jahren stattgefunden hat.
In normalen Zeiten, in denen die Kosten gleichmäßig steigen, mag die zeitversetzte Betrachtungsweise noch akzeptabel sein. Doch in der gegenwärtigen Situation ist das Verfahren viel zu langsam. Es ist für Krisenzeiten nicht mehr tauglich. Die Praxen sind heute mit der Kostenexplosion konfrontiert, nicht in zwei Jahren.
Deshalb brauchen wir dringend ein neues Verfahren: Der Punktwert muss prospektiv kalkuliert und halbjährlich an die tatsächlichen Verhältnisse angepasst werden. Wir müssen verhindern, dass die Praxen wegen der Trägheit des Systems in Schwierigkeiten kommen.
Derzeit müssen einige wichtige Weichen gestellt werden für die Zukunft der ambulanten Medizin. Doch die Politik agiert kopflos und unzuverlässig. Die Gesetzlichen Krankenkassen agieren verantwortungslos. Dass im Koalitionsvertrag die Rede von einer Aufhebung der Budgetierung im hausärztlichen Bereich die Rede ist, mit dem Wegfall der Neupatientenregelung aber einer der vielversprechendsten Ansätze der Entbudgetierung wieder zurückgenommen wird, ist kein gutes Zeichen. Der organisatorisch höchst aufwendige Ersatz für den Wegfall mit Hilfe der hausarztvermittelten Termine beweist wiederum die Praxisferne der Regierenden.
Der EBM ist eine Rabattgebührenordnung, die dem Umstand Rechnung trägt, dass wir als KV-Mitglieder im Rahmen eines Sozialsystems mit leichtem Zugang zu den Versicherten arbeiten. Durch die Budgetierung wird unser Honorar aber ein weiteres Mal reduziert.
Die Budgetierung ist ein Instrument aus Zeiten der Ärzteschwemme. Heute jedoch zeichnet sich ein Ärztemangel ab: Ärztinnen und Ärzte der geburtenstarken Jahrgänge gehen in den Ruhestand und versuchen, Nachfolger für ihre Praxen zu finden.
Das ist der Moment, in dem alles unternommen werden müsste, um die Niederlassung für junge Kolleginnen und Kollegen attraktiv zu machen. Dabei geht es nicht nur um wirtschaftliche Sicherheit, sondern auch um den Abbau von Bürokratie und den Schutz vor Regressen.
Bei der Übernahme von Praxissitzen muss verhindert werden, dass junge Kolleginnen und Kollegen in ein aussichtsloses Wettbieten mit profitorientierten Unternehmen geraten. Es gibt bereits einige Fachbereiche, in denen Ärztinnen und Ärzte keine Chance mehr haben, sich in eigener Praxis niederzulassen. Diese Entwicklung muss gestoppt werden. Weder Politiker noch Versicherte können ein Interesse daran haben, dass unser leistungsstarkes und beispiellos effizientes Netz selbstständiger Praxen durch investorengetragene MVZ verdrängt werden. Was geschieht, wenn ein profitorientiertes Unternehmen in einem Stadtteil Hamburgs einen relevanten Anteil der Hausarztsitze innehat und an zwei Tagen die Woche ihre Einrichtungen schließt, um bestimmte Forderungen durchzusetzen? Das Erpressungspotenzial wäre enorm.
Um zu verstehen, was auf dem Spiel steht, sollte man sich die Vorteile des KV-Systems vergegenwärtigen. In einer vertragsärztlichen Praxis niedergelassen zu sein, bringt vergleichsweise große Freiheiten mit sich. Natürlich bin ich als Vertragsarzt eingebunden in viele Regeln der Gesetzgebung und der KV. Doch ich kann selbstbestimmt arbeiten. Ich kann die Termintaktung selbst einteilen, mein Umfeld selbst gestalten, mein Personal selbst aussuchen. Ich kann meine ärztliche Professionalität selbst definieren, ohne auf kaufmännische Vorgesetzte oder Geschäftsführer Rücksicht nehmen zu müssen.
Auch die Rahmenbedingungen einer Privatpraxis setzen die Ärztinnen und Ärzte bisweilen unter stärkeren wirtschaftlichem Druck, als ihnen lieb ist. Dem ist man als Vertragsarzt nicht im selben Maß ausgeliefert. Der Zugang zu den Kassenpatienten und die Finanzierungsgarantie des GKV-Systems sorgt normalerweise für wirtschaftliche Sicherheit und Unabhängigkeit.
Ich würde tatsächlich sagen: Als Vertragsärztin oder Vertragsarzt in Selbstständigkeit niedergelassen zu sein, ist zurzeit die freieste Art, ärztlich zu arbeiten. Sie trotzt der um sich greifenden Deprofessionalisierung unseres freien Berufes.
Freiberuflichkeit und Selbstverwaltung hängen eng zusammen. Niedergelassene Ärztinnen und Ärzte sind Mitglieder der KV und können die Gremienarbeit zur Gestaltung der Versorgung und ihrer eigenen Arbeitsbedingungen nutzen. Sie können Einfluss nehmen auf die Definition von medizinischer Qualität und ärztlicher Professionalität.
Doch unsere Freiheit ist gefährdet und muss immer wieder verteidigt werden. Die ärztliche Selbstverwaltung wird seit Jahrzehnten immer weiter eingeschränkt und zum Verwaltungs- und Vollzugsorgan der Gesundheitspolitik degradiert. Und in der aktuellen Krise ist jene wirtschaftliche Sicherheit gefährdet, die uns den Spielraum gibt, patientenorientiert und professionell zu arbeiten.
Ein selbstständig niedergelassener Vertragsarzt, der zu 100 Prozent tätig ist, muss mehr verdienen als ein angestellter leitender Oberarzt im Krankenhaus. Auch wenn er keine IGEL-Leistungen anbietet und keine Privatpatienten hat, muss er nach Abzug aller Kosten einen seiner Leistung und seiner Verantwortung angemessenen Unternehmer-Lohn übrigbehalten und außerdem noch Geld zur Seite legen können, um neue Gerätschaften kaufen und Investitionen tätigen zu können.
Wenn er das nicht mehr kann, ist die ambulante vertragsärztliche Versorgung massiv gefährdet. Und an dieser Grenze bewegen wir uns derzeit wieder.
Eine vorwiegend ausgabenorientierte Gesundheitspolitik ist keine solide Grundlage für die vertragsärztliche und vertragspsychotherapeutische Versorgung. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach und die Ampelkoalition sollten ihren Mut zusammennehmen und strukturelle Reformen angehen, um die Probleme und Missstände in der GKV nachhaltig aufzulösen.
Darüber hinaus sind alle gesellschaftlichen Kräfte, alle Parteien und auch wir aufgefordert, die absehbaren großen Herausforderungen durch den medizinischen Fortschritt und die demografische Entwicklung jetzt zu thematisieren und jetzt zu beginnen Lösungen, die es ja durchaus gibt, zu implementieren.
DR. MED. DIRK HEINRICH, Vorsitzender der Vertreterversammlung der KV Hamburg (bis Anfang 2023), Bundesvorsitzender des Virchowbundes und Vorstandsvorsitzender des Spitzenverbandes Fachärzte Deutschlands (SpiFa)