»Ohne Anreize bleiben die Arztsitze leer«
Interview
Koalitionsverträge in Bund und Hamburg setzen auf eine kleinräumigere Bedarfsplanung. Doch wie soll das gehen? Der Berliner KV-Chef Dr. Burkhard Ruppert hat Erfahrungen mit verschiedenen Steuerungsinstrumenten gemacht. Hier berichtet er, was funktioniert – und was ins Leere läuft.
Sie haben in Berlin verschiedene Instrumente eingesetzt, um ambulante Versorgung besser über das Stadtgebiet zu verteilen. Wie kam es dazu?
ruppert: Die 1993 eingeführte Bedarfsplanung sollte die so genannte „Ärzteschwemme“ eindämmen. Doch die Situation hat sich grundlegend geändert. Als ich vor acht Jahren meinen Job im Vorstand der KV Berlin antrat, sagte meine Gesundheitssenatorin: „Herr Dr. Ruppert, wir müssen mehr Ärzte in den Osten bringen. Machen Sie das mal, Sie haben doch den Sicherstellungsauftrag.“ Daraufhin fragte ich sie: „Wie soll das gehen? Ich kann niemanden in Marzahn-Hellersorf am Baum festbinden und ihm sagen, er soll Patienten versorgen.“ Die Bedarfsplanungsbezirke waren in Berlin zu einem einzigen großen Bereich zusammengelegt worden. Aufgrund der sehr guten Versorgung in Mitte, im Westen und Südwesten konnten wir im Osten der Stadt nicht einfach neue Arztsitze schaffen.
Weil es insgesamt eine statistische Überversorgung gab?
ruppert: Ja, bezogen auf das gesamte Stadtgebiet hatten wir eine massive Überversorgung. Im Ostteil der Stadt jedoch waren viele Menschen verzweifelt auf der Suche nach Hausärzten. Es geht hier vor allem um Versorgungsgerechtigkeit: Jeder Bezirk sollte eigentlich gleich gut versorgt sein. Außerdem konnten wir nicht zulassen, dass unsere Ärztinnen und Ärzte im Osten der Stadt völlig untergehen. Wer in den schlechter versorgten Gegenden übrig blieb, wurde geflutet mit Patienten – auch diese Erwägung spielte für uns eine Rolle. Deshalb haben wir ab 2019 versucht, im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten neue Steuerungsmechanismen einzuführen.
Wie sah das konkret aus?
ruppert: Wir haben das Stadtgebiet neu strukturiert. Die fachärztliche Versorgung blieb ein Bedarfsplanungsbereich, für Kinderärzte haben wir vier Planungsbereiche gebildet, für Hausärzte drei. Das Prinzip war: Schlechter versorgte Gegenden wurden zu eigenen Planungsbereichen. Das führte dazu, dass auf einen Schlag 130 freie Hausarztsitze im Osten der Stadt entstanden.
Berlin: Planungsbereiche Hausärzte
Das hat die KV-Vertreterversammlung mitgetragen?
ruppert: Ja, die Vertreter stimmten dem Vorhaben mit großer Mehrheit zu. Es war eine mutige Entscheidung, denn die hausärztlichen und kinderärztlichen Honorare waren damals noch budgetiert. Den Vertretern war klar: Jede zusätzliche Praxis würde zu Lasten der anderen Mitglieder des Fachbereichs gehen, weil sich alle denselben Honorartopf teilten. Trotzdem war bei den Vertretern eine Einsicht in die Notwendigkeit dieses Schrittes vorhanden. Der Landesausschuss, in dem neben den Ärzten auch die Krankenkassen vertreten sind, musste das Konzept noch offiziell beschließen. Und dann ist eingetreten, was ich befürchtet hatte: 130 zusätzliche Hausarztsitze – und keiner wollte sie haben.
Und dann?
ruppert: Wir haben finanzielle Anreize geschaffen. Über den § 105 Abs. 1a SGB V, also über den Strukturfonds, fördern wir hausärztliche Niederlassungen in den schlechter versorgten Planungsbereichen mit 60.000 Euro, die Eröffnung einer Zweigpraxis mit 40.000 Euro und die Anstellung eines Arztes mit 20.000 Euro. In Honorar-Verhandlungen mit den Kassen haben wir außerdem erreicht, dass Praxen, die sich in den schlechter versorgten Planungsbereichen neu niederlassen, in den ersten drei Jahren einen Punktwertzuschlag bekommen.
Wie haben Sie die Kassen überzeugt?
ruppert: Die Ärzteschaft hatte die Initiative ergriffen und gesagt: Wir stehen in der Verantwortung und müssen etwas tun – selbst, wenn das unseren Anteil am Honorartopf schmälert. Das war ein ziemlich starkes Zeichen an die Krankenkassen.
Und waren Sie mit dem Verhandlungsergebnis zufrieden?
ruppert: Ja, der Zuschlag beträgt 0,03 Euro. Das ist fast ein Viertel des regulären Punktwerts. Die Förderung über den Strukturfonds und der Zuschlag für die ersten drei Jahre haben dann auch tatsächlich Wirkung gezeigt: In den schlechter versorgten Planungsbereichen sind seit 2016 fast 60 hausärztliche Vollzeitäquivalente hinzugekommen.
Das sind Versorgungskapazitäten, die unter dem Strich hinzugekommen sind?
ruppert: Ja. In Lichtenberg gibt es heute 36,25 hausärztliche Vollzeitäquivalente mehr als 2016 - und in Treptow-Köpenick 34. Nur in Marzahn-Hellersdorf haben wir es nicht geschafft, die Abwärtsentwicklung aufzuhalten. Dort haben wir 10,75 Vollzeitäquivalente verloren.

Unterm Strich fast 60 zusätzliche Hausarzt-Vollzeitäquivalente in den schlechter versorgten Gegenden – das ist schon ein Erfolg, oder?
ruppert: Na ja, bei insgesamt 2500 Hausärzten in Berlin ist das natürlich immer noch ein Tropfen auf den heißen Stein. Aber für die versorgten Menschen macht das natürlich einen Unterschied. Wenn man davon ausgeht, dass ein Hausarzt 1000 Patienten versorgt, betrifft das immerhin knapp 60.000 Leute. Im Moment gibt es wegen des Bevölkerungsanstiegs etwa 100 freie Hausarztsitze im Ostteil der Stadt. Diese Sitze könnten noch besetzt werden, dann wäre ein Versorgungsgrad von 110 Prozent erreicht. Das ist die obere Grenze der Vollversorgung.
Ich fasse mal zusammen: Der erste Schritt war, freie Arztstellen zu schaffen. Das alleine hat aber nichts gebracht. Es brauchte außerdem die finanzielle Förderung. Richtig?
rupppert: Ja. Ohne Förderung bekommt man die Sitze nicht besetzt. In den schlechter versorgten Planungsbereichen gibt es weniger Privatpatienten. Die Bevölkerung hat weniger Geld und eine geringere Bereitschaft, für IGeL oder Zusatzleistungen zu zahlen. Dafür braucht es einen finanziellen Ausgleich.
Warum ist es nicht gelungen, Ärzte für eine Niederlassung in Marzahn-Hellersdorf zu gewinnen?
ruppert: Das ist ein Bezirk, der in der Vorstellung auch vieler Ärztinnen und Ärzte mit den Plattenbauten aus DDR-Zeiten verbunden ist. Wenn man sich in Marzahn-Hellersdorf umsieht, stellt man allerdings fest, dass es dort auch grüne Gegenden mit vielen Einfamilienhäusern gibt. Wir sprechen junge Ärztinnen und Ärzte gezielt an und sagen: „Es lohnt sich auch, in diesen Bezirk zu gehen. Das ist wirtschaftlich überhaupt kein Risiko.“ Bei der Entscheidung, wo man sich niederlassen will, geht es aber oft gar nicht so sehr ums Geld. Junge Ärzte sagen mir: „Um Gottes willen, da sind so viele Patienten, da habe ich gar keine Freizeit mehr.“ Oder: „Ich wohne in Schöneberg. Wenn ich eine Praxis in Marzahn-Hellersdorf aufmache, bin ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln eine dreiviertel Stunde mindestens unterwegs.“ Wir müssen wirklich trommeln und viel Öffentlichkeitsarbeit betreiben, um Ärztinnen und Ärzte für eine Niederlassung in schlechter versorgten Gegenden zu gewinnen. Das ist nicht einfach. Deshalb sind wir auch mit den Vertretern der Bezirke im Gespräch. Wir wünschen uns, dass sie jungen Ärzten Angebote machen, vielleicht günstige Praxisräume vermitteln oder zur Verfügung stellen.
Ist es auch im Ostteil der Stadt schwierig, geeignete Praxisräume zu finden?
ruppert: Ja, gerade da. Zwei Bezirke haben jetzt eine Art Praxisbörse eingeführt, über die Gewerberäume vermittelt werden. Das ist ein wichtiger Schritt. Wir sind darüber hinaus der Ansicht, dass Praxen künftig wie Kitas und Schulen im Rahmen der Stadtplanung zur „sozialen Infrastruktur“ gerechnet werden sollten – um sie vor hohen Mieten zu schützen.
Welche Rolle spielen die KV-Eigeneinrichtungen?
ruppert: Seit 2022 betreiben wir Praxen im Osten der Stadt über die KV Praxis GmbH. Die Praxen tragen natürlich zur Versorgung bei, doch wir sehen sie auch als Sprungbrett für die Niederlassung. Die dort angestellten Ärztinnen und Ärzte können Erfahrungen sammeln mit der Tätigkeit in einer Praxis. Sie lernen den Stadtteil und die dort lebenden Menschen kennen. Und wenn sie Lust auf eine eigene Praxis bekommen, können sie sich überall in der Umgebung niederlassen – es gibt ja genug freie Arztsitze.
Die KV-Praxen tragen sich finanziell selbst?
ruppert: Ja, unsere Praxen schreiben mittlerweile schwarze Zahlen. Derzeit betreiben wir vier Praxen. Geplant ist, das Modell auf acht bis zehn Praxen auszuweiten.
Nochmal zur Aufteilung der Stadt in Bedarfsplanungsbereiche: Wäre es nicht besser, die Niederlassung gezielter und flexibler zu steuern?
ruppert: Ja. Mir wären gezieltere, in die Zukunft gerichtete und damit flexiblere Steuerungsinstrumente deutlich lieber. Doch die Bedarfsplanung ist ziemlich starr. Man kann den Zuschnitt der Gebiete nicht sofort anpassen, wenn sich die Versorgungslage geändert hat – oder wenn absehbar ist, dass sich die Versorgungslage ändern wird. Zu mir kommen Entwickler, die neue Wohngebiete für 5.000 Menschen bauen und fragen: „Lieber Herr Dr. Ruppert, können Sie uns zusagen, dass es für diese Menschen in drei Jahren eine hausärztliche, kinderärztliche und frauenärztliche Versorgung gibt?“ Das kann ich nicht.
Wo wächst die Bevölkerung besonders stark?
ruppert: In den ohnehin schon schlechter versorgten Bezirken. Seit 2020 wuchs die Bevölkerung in Marzahn-Hellersdorf um knapp 9 Prozent, in Treptow-Köpenick um 8,5 – in Berlin insgesamt nur um 5 Prozent. Bei Kindern sind die Zahlen noch verrückter: plus 15 Prozent in Marzahn-Hellersdorf, plus 14,2 in Treptow-Köpenick.
Wie reagieren Sie darauf?
ruppert:
Momentan haben wir dafür keine Instrumente. Wir brauchen gesetzliche Grundlagen für eine flexible, vorausschauende Versorgungsplanung. Dazu gehört unabdingbar auch eine Patientensteuerung, die diesen Namen verdient – im Sinne einer verbindlichen Hilfestellung für die Patientinnen und Patienten. Wir werden mit den uns zur Verfügung stehenden personellen, strukturellen und finanziellen Ressourcen in Zukunft nicht mehr auskommen ohne grundlegende Reformen der Bedarfsplanung und eine effektive Steuerung der Patientenströme.
Interview: Martin Niggeschmidt
