Realsatire: Das Blame-Game im Gesundheitswesen
Kolumne
von Dr. Christine Löber, HNO-Ärztin in Hamburg-Farmsen
Irgendwer ist immer schuld, das ist im Gesundheitswesen nicht anders als in anderen Branchen. Gesundheitssystem ist ein kompliziertes Konstrukt mit vielen grundverschiedenen Interessen, die oft mit Gesundheit gar nichts zu tun haben, deswegen gibt es hier auch so viele grundverschiedene Meinungen. In zwei Dingen sind sich die Player jedoch immer harmonisch einig: Irgendwas ist ganz schlecht, einem selbst geht es am schlechtesten und es hat auf jeden Fall jemand anders Schuld.
Wer spielt denn überhaupt alles mit? Im Unterschied zu anderen gesellschaftlichen Abteilungen hat Gesundheit die Sonderstellung, dass da jeder früher oder später mitmachen muss, denn krank wird wohl jeder irgendwann.
Wir Ärzt:innen bilden in diesem Spiel mindestens zwei Gruppen, nämlich die ständig müden Krankenhauskolleg:innen und die grummeligen Niedergelassenen.
Im Krankenhaus haben vornehmlich die Anzugträger aus der Teppichetage Schuld. Gefühllose, geldtriefende, unwissende, graue Männer, die immer Stellen streichen und von Gesundheit keine Ahnung haben. So richtig protestieren kann man gegen die aber auch nicht, weil man viel zu müde ist und morgen schon wieder Dienst hat, außerdem gibt Aufmüpfigkeit Ärger vom Chef.
Schuld haben aber auch diese Ex-Ärzt:innen aus dem ambulanten Sektor, das sind so Leute, die von Medizin gar keine Ahnung mehr haben, weil die schon 500 Jahre alt sind und immer nur Formulare für die Rentenversicherung ausfüllen und völlig falsche Einweisungen schreiben, wenn die wieder nicht weiterwissen. Und Patient:innen sind natürlich auch schuld, weil die immer nachts um drei in die Notaufnahme kommen, weil der Fuß juckt.
Die Niedergelassenen sehen das ein bisschen anders. Schuld sind vor allem die Krankenversicherungen, der Funktionärsverein namens KV und die Politik. Und natürlich die Patient:innen, weil die ihre Termine nie einhalten und am Tresen pöbeln, weil der rote Teppich noch nicht ausgerollt wurde. Woher diese merkwürdige Anspruchshaltung kommt, erforscht lieber niemand, muss wohl Gesellschaft sein. Ein bisschen schuld sind aber auch diese unfähigen Krankenhauskolleg:innen, die von Medizin überhaupt keine Ahnung haben, weil die erst drei Jahre alt sind und keine Entlassungsbriefe mitschicken.
Für die Politik ist gar nicht klar, was mit Gesundheit überhaupt ist, denn das sind ja Politiker. Was aber immer klar ist: Die Vorgängerpartei ist natürlich schuld. Und diejenigen, die das System am Laufen halten sollen. Denn es würde ja laufen, wenn die ihren Job richtig machen würden! Das bezieht sich aber mehr auf das ärztliche Personal, denn gegen die Pflegekräfte kann man nichts sagen, von denen gibt es ja anscheinend keine mehr, und von MFAs hat noch niemand was gehört, also lieber nicht damit beschäftigen.
Wichtig für politische Zwecke ist natürlich immer, den Patient:innen (a.k.a. Wähler:innen) zu vermitteln, dass irgendwelche nebulösen anderen Player sehr schlimm schuld sind, um im Retterkostüm auftreten zu können und sich um das Wohl der Bürgerinnen und Bürger zu sorgen. Diese dürfen auf keinen Fall merken, dass man eigentlich gar kein Retter ist, sondern heimlich schon wieder was sparen will. Denn es ist ja nur Gesundheit, wen interessiert denn dieses Plus-Minus-Null-Geschäft.
Wieder ganz anders verhält es sich bei den Patient:innen. Die sind ja daran gewöhnt, dass es immer alles überall gibt, wenn man die Karte durchzieht, und Gesundheit ein Füllhorn aus irgendwelchen Leistungen ist. Aber es sind viel zu wenig Leistungen! Ein Gefühl der Dauerbenachteiligung stellt sich ein, wenn man das MRT nicht kriegt, was der Nachbar neulich gekriegt hat. Und schuld daran ist im Wesentlichen eine einzige, von Grund auf maligne Abspaltung der Gesellschaft: Privatversicherte! Also porschefahrende, arrogante, schon reich geborene und noch reicher gewordene Widerlinge, die nur auf der Welt sind, um GKV-Versicherten alles wegzunehmen. Und zwar jeden Tag.
Ein bisschen schuld sind auch Ärzt:innen, weil die gar nicht das machen, was im Internet steht und auch gar nicht auf den ganzen Menschen eingehen, aber wenn sie es tun, wollen die einen immer auf die Psychoschiene drücken, aber viel besser wäre ja das MRT vom Nachbarn und zweimal Massage, aber vorgestern. Für Patient:innen ist die in der Politik unbekannte Gruppe der MFAs auch Schuld, weil die immer sagen, heute sei alles schon voll, obwohl wahrscheinlich parallel schon wieder zehn Privatpatienten reingelassen wurden, um sich die goldene Medizin aus dem Privatschrank abzuholen.
Sehr einfach ist es bei den Obermärtyrern in diesem Spiel, nämlich den Krankenkassen. Die tun immer alles für ihre Versicherten und können ja nichts dafür, dass das alles immer so teuer ist. Schuld sind ja die, die das Geld völlig wahnhaft aus dem Fenster schmeißen. Da kann man leider nichts machen, außer wieder alles teurer zu machen und ein bisschen Unsinntherapie in den Leistungskatalog zu nehmen, weil die Versicherten das ja richtig gut finden.
Damit ist das Blame-Game in seiner ganzen Irrsinnigkeit nur in groben Zügen angerissen, in Wirklichkeit gibt es noch völlig absurde Spielregeln, ein paar ausgelatschte Joker und viele wahllos einsetzbare Würfel. Das Ziel des Spiels ist zum Glück sehr einfach: Es gewinnt keiner.
(Fortsetzung folgt, ich verspreche, dass es vollkommen verrückt bleibt.)
DR. CHRISTINE LÖBER ist HNO-Ärztin und Buchautorin.
Aktuell im Buchhandel: „Immer der Nase nach“ (zusammen mit Hanna Grabbe), Mosaik Verlag / Hamburg
In dieser Rubrik drucken wir abwechselnd Texte von Dr. Christine Löber, Dr. Matthias Soyka und Dr. Bernd Hontschik.