10/2025 10/2025

Wollen wir große Unternehmen? Oder Freiberufler?

Von John Afful

Welche Lehren sollten wir aus dem Strukturwandel in der ambulanten Versorgung ziehen? Hier eine erste Bilanz. Und eine dringliche Forderung: Der KV muss erlaubt werden, selbst Sitze zu übernehmen.

Die Konzentration von Arztsitzen in großen Unternehmen und MVZ-Ketten bringt Probleme mit sich, über die in der Öffentlichkeit kaum diskutiert wird. Wir erleben einen Strukturwandel, der in krassem Widerspruch steht zum gesundheitspolitischen Ziel, eine bedarfsgerechte Verteilung von Versorgungseinheiten über das Stadtgebiet sicherzustellen: Die Zahl der Praxis-Standorte nimmt ab, die wohnortnahe Versorgung wird ausgedünnt. Und sollte eines der MVZ-Konglomerate ausfallen, sind im schlimmsten Fall ganze Bezirke und Regionen betroffen.

Die klassische, inhabergeführte Arztpraxis ist eine wirtschaftlich äußerst stabile und effiziente Betriebsform. Fragt man Bankkaufleute, wann sie zuletzt die Pleite einer inhabergeführten Praxis erlebt haben, müssen sie lange nachdenken: Das sind sehr seltene Ereignisse. Selbstständige Ärztinnen und Ärzte haben ein hohes Eigeninteresse daran, den Betrieb möglichst gut und reibungslos am Laufen zu halten. Sie sind stark identifiziert mit ihrer Praxis und entscheiden selbst: Welche Art von Medizin machen wir? Welche Geräte verwenden wir? Zu welchen Zeiten öffnen wir? Und in der Regel arbeiten selbstständige Ärztinnen und Ärzte mehr als die üblichen 40 Stunden pro Woche. Deshalb erbringen inhabergeführte Praxen pro Arztsitz oft mehr Leistung als große MVZ.

Die großen MVZ sind schwerfälliger organisiert. Es gibt einen Verwaltungs-Überbau, der die nicht-ärztlichen und nicht-medizinischen Aufgaben übernimmt. Es gibt kaufmännische Leiter. Es gibt Personal für Buchhaltung, IT, Praxismanagement. All diese Angestellten müssen bezahlt werden. Und auch die Eigentümer wollen mitverdienen.

Viele MVZ-Betreiber hoffen, sie könnten medizinische Versorgungseinheiten auf Effizienz trimmen, indem sie diese zu größeren Einheiten zusammenfassen, zentrale kaufmännische Vorgaben machen und Synergieeffekte durch Einkaufsverbünde erzielen. Das mag funktionieren in standardisierbaren Disziplinen mit Industrialisierungspotenzial. Doch wenn es um die medizinische Grundversorgung geht, ist der Betrieb von MVZ offenbar kein allzu gutes Geschäft. Sie zu betreiben, rentiert sich in vielen Fällen nicht.

Allerdings müssen MVZ, die zu größeren Einheiten gehören, gar nicht unbedingt profitabel arbeiten. MVZ in Krankenhaus-Trägerschaft beispielsweise werden oftmals besetzt mit Ärzten, die parallel auch im Krankenhaus arbeiten. Das MVZ ist für Krankenhäuser mithin eine Möglichkeit, an der Honorierung der ambulanten Leistungen zu partizipieren. Und natürlich eröffnet ein MVZ die Möglichkeit, Patientinnen und Patienten in die eigene stationäre Versorgung zu steuern. Der Betrieb eines MVZ kann also für Krankenhäuser attraktiv sein, obwohl es für sich genommen defizitär arbeitet – wenn es als Teil einer Wertschöpfungskette verstanden wird.

Auch mit Blick auf die Krankenhausreform erscheint es vielen Klinik-Managern ratsam, sich in der ambulanten Versorgung gut aufzustellen. Die regulatorischen Änderungen könnten zu einem Abbau stationärer Kapazitäten führen. Gleichzeitig sollen die Krankenhäuser intersektorale Versorgung anbieten. Weil das Personal im Krankenhaus angestellt ist und die Krankenhäuser mit öffentlichen Mittel gefördert werden, haben die Krankenhaus-MVZ einen strukturellen Wettbewerbs-Vorteil gegenüber den Praxen. Krankenhaus-MVZ müssen keine Miete zahlen, die Gebäude sind ohnehin vorhanden. Das ist bei inhabergeführten Praxen anders: Sie werden nicht quersubventioniert. Sie müssen ihre Miete selbst erwirtschaften.

Die Frage, wie groß eine ambulante Versorgungseinheit idealerweise sein sollte, ist schwer zu beantworten. Aus Patientensicht wäre wohl eine Praxis wünschenswert, in der man sich gut aufgehoben fühlt: Die Patientin oder der Patient muss nicht immer vom selben Arzt behandelt werden – sollte die Ärzte aber alle kennen und eine persönliche Bindung zu ihnen aufbauen können. Die Patientin oder der Patient sollte nicht bei jedem Termin von vorne anfangen und alles neu erklären müssen.

Gleichzeitig muss die Versorgungseinheit zu den Lebensentwürfen der Ärztinnen und Ärzte passen. Das klassische Ein-Arzt-eine-Praxis-Modell verliert an Attraktivität. Doch es gibt Modelle, in denen selbstständige Ärztinnen und Ärzte eng zusammenarbeiten und sich gegenseitig vertreten können. Auch inhabergeführte Praxen können Kolleginnen und Kollegen anstellen – allerdings in begrenztem Umfang. Diese Betriebsformen unterscheiden sich ganz grundsätzlich vom Konzept des stetig wachsenden Gesundheits-Unternehmens.

Hamburg hat als einziges Bundesland derzeit keine unbesetzten Hausarztstellen. Doch auch in Hamburg erleben wir, dass es für Hausärztinnen und Hausärzte immer schwieriger wird, für ihre Praxen eine Nachfolge zu finden. Die meisten jungen Ärztinnen und Ärzte wissen vermutlich, dass sie mit einer Praxis eigentlich nicht pleitegehen können. Doch die zu erwartenden Einkommen sind oft zu gering, um die Praxistätigkeit ohne eine gewisses Maß an Selbstausbeutung organisieren zu können. Höhere Honorare wären notwendig, um die Niederlassung wieder attraktiv zu machen.

Wenn Ärzte am Ende ihrer Berufstätigkeit nach mehreren erfolglosen Versuchen, ihre Praxis an Kollegen weiterzugeben, das finanziell attraktive Angebot eines Unternehmens oder eines Investors annehmen, ist das meiner Ansicht nach absolut nachvollziehbar. Wir reden hier von Menschen, die Jahrzehnte ihres Lebens in den Dienst der Gesellschaft gestellt haben. Die Medizin studiert, ihren Facharzt gemacht, in der Klinik gearbeitet, eine Praxis gegründet und im Laufe ihres Berufslebens unzähligen Patientinnen und Patienten geholfen haben. Und die am Ende ihres Berufslebens schon sagen dürfen: „Jetzt denke ich an mich.“ Das ist eine zu respektierende Entscheidung.

Mit zunehmender Größe einer Versorgungseinheit wird es schwieriger, sie an ärztliche Kollegen weiterzugeben. Nehmen wir eine Praxis mit zehn oder 15 Ärztinnen und Ärzten. Irgendwann steht ein Generationswechsel an – und den jüngeren Ärztinnen und Ärzten wird es nicht möglich sein, jene Kollegen auszubezahlen, die sich zur Ruhe setzen. Also gründen sie zunächst ein MVZ und holen dann einen Investor ins Boot. Früher oder später werden in diesen MVZ daher auch Kaufleute das Sagen haben.

Es ist überhaupt nichts dagegen einzuwenden, dass Unternehmer gewinnorientiert agieren. Die Frage ist, wie das in unser Gesundheitssystem passt. Die einzelnen KV-Mitglieder sind als Freiberufler über das Berufsrecht an das Gemeinwohl gebunden: Sie dürfen die Interessen Dritter nicht über die Interessen ihrer Patientinnen und Patienten stellen. Die KVen indes sind Körperschaften des öffentlichen Rechts und laut Gesetz für die Sicherstellung zuständig. Diese Verpflichtung haben Unternehmen, die an der ambulanten Versorgung teilnehmen, nicht.

Es ist befremdlich, dass die SPD-Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt im Jahr 2004 mit dem GKV-Modernisierungsgesetz ausgerechnet jene Akteure im Gesundheitssystem schwächte, die gemeinwohlgebunden sind: die Ärztinnen und Ärzte sowie die KVen. Der Versuch, eine Schar selbstbewusster Freiberufler und deren Organisationen zu bändigen, war für Ulla Schmidt sicherlich ziemlich frustrierend. Möglicherweise erschien es ihr einfacher, Einfluss auf die Krankenhäuser auszuüben – deren Strukturen ja öffentlich finanziert werden. Doch nun zeigt sich, dass mit der zunehmenden Macht der Unternehmen und Investoren die Gemeinwohlgebundenheit des Systems untergraben wird. Die selbstständigen, eigentümergeführten Praxen und die ärztliche Selbstverwaltung werden zurückgedrängt. Stattdessen entwickelt sich eine Struktur, die weniger Versorgungskapazitäten anbietet, diese auf immer weniger Standorte konzentriert – und wirtschaftlich weniger stabil ist. Keine gute Bilanz für eine Gesundheitsreform, die den Anspruch hatte, die Versorgung zu modernisieren.

Was geschieht, wenn ein Gesundheitsunternehmen in Hamburg tatsächlich systemrelevant wird? Wenn eine MVZ-Kette beispielsweise den gesamten Hamburger Osten dominiert? Oder das ganze Stadtgebiet? Mit wem wollen die Krankenkassen dann über die Versorgung ihrer Versicherten verhandeln? Mit wem will die Stadt über die Notfallversorgung sprechen?
Und was geschieht, wenn ein systemrelevantes Unternehmen in wirtschaftliche Schieflage gerät oder gar Insolvenz anmelden muss?

Die vertragsärztliche Gesundheitsversorgung gehört zur Daseinsvorsorge und ist damit eigentlich Aufgabe des Staates. Mittlerweile zählen auch Kommunen zu jenen Akteuren, die MVZ gründen dürfen. Ich habe allerdings nicht den Eindruck, dass die Stadt Hamburg erpicht darauf ist, selbst ambulante Versorgungseinheiten zu betreiben.
Diese Zurückhaltung passt zur subsidiären Konstruktion unseres Gesundheitswesens. Der Staat hat die Verantwortung für die ambulante Gesundheitsversorgung an die Selbstverwaltung delegiert. Ein Arzt, ein Krankenhaus oder ein Unternehmen kann ambulante medizinische Einrichtungen betreiben und einen Versorgungsauftrag übernehmen. Den übergeordneten Sicherstellungsauftrag jedoch hat die KV inne.

Insofern ist es ein riesiger Unterschied, ob ein Unternehmen Versorgungseinheiten betreibt – oder ob die KV das tut. Die KV ist verpflichtet, sich am öffentlichen Interesse zu orientieren. Derzeit können wir als KV zwar Eigeneinrichtungen betreiben. Doch die KVen dürfen keine Sitze halten und können deshalb auch keine weitergeben.
Wenn sich Lücken in der Versorgung auftun, sollte die KV handlungsfähig sein. Das heißt nicht, dass die KV unbedingt jedes MVZ übernehmen muss, das finanziell in Schwierigkeiten gerät. Doch derzeit könnten wir selbst dann nicht aktiv eingreifen, wenn die Versorgung massiv gefährdet wäre.

Wir brauchen also dringend eine gesetzliche Regelung, die es der KV ermöglicht, selbst Sitze zu übernehmen und zu halten. Die Rahmenbedingungen müssen künftig so gestaltet werden, dass die Selbstverwaltung insgesamt gestärkt und die Selbstständigkeit wieder attraktiv wird. Es passt nicht zusammen, das System der vertragsärztlichen Selbstverwaltung zu untergraben – und gleichzeitig der KV zu sagen: „Jetzt stell mal schön die Versorgung sicher!“

JOHN AFFUL
ist Vorstandsvorsitzender der KV Hamburg

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