10/2025 10/2025

Schöne neue Versorgungswelt

Von Dr. Silke Lüder

Verzweifelte Patienten vor verschlossenen Praxistüren? Kann das sein? Was das Miamedes-Drama mit den Gesundheitsreformen der vergangenen Jahrzehnte zu tun hat.

"Plötzlich ohne Hausarzt: Was Tausende Bergedorfer nun erleben“, titelte das Hamburger Abendblatt am 31. Juli 2025. Die Miamedes-Praxis in Lohbrügge und die Urologie Bergedorf seien „auf unbestimmte Zeit geschlossen“. Für Patienten beginne eine Odyssee, so die Zeitung.
In Hamburg bahne sich “wegen überraschender Schließungen mehrerer Hausarzt- und Facharztpraxen eine erhebliche Lücke in der medizinischen Versorgung an“, berichtete das Hamburger Abendblatt am 6. August 2025. Geschätzt Tausende Patientinnen und Patienten fragten sich nun, wie sie weiter ihre Behandlungen, Rezepte und Überweisungen bekommen könnten.

Mit Filzstift stünde an den Praxis­türen „bis auf Weiteres geschlossen“ wegen Urlaub oder Elternzeit. Niemand gehe ans Telefon, Anfragen wegen der Aushändigung von Unterlagen blieben unbeantwortet. Miamedes habe ein onkologisches Großpraxis-Konstrukt übernommen, das in ein Millionen-Minus gerutscht sei, so das Hamburger Abendblatt.
In Medienstellungnahmen erklärte die MVZ-Kette aktuell, dass Teile der Bergedorfer Standorte wieder öffnen sollen.

Nicht der erste Bericht über die MVZ-Kette Miamedes, die seit Jahren in Hamburg und Umgebung Arztsitze in großem Stil aufgekauft hat.
Gegründet wurde das Unternehmen 2018. Miamedes übernahm viele Praxissitze in Hamburg und Schleswig-Holstein. Vor allem Hausarztpraxen im ärmeren Osten Hamburgs – in Horn, Jenfeld, Barmbek, Steilshoop, Bramfeld, Bergedorf. Zusätzlich gab es einzelne Praxen für Onkologie, Urologie, Neurologie, Psychiatrie und HNO. Außerdem bietet Miamedes über das Geriatrikum ambulante Rundumbetreuung mit Sonderverträgen für Heimpatienten an.
Laut der Webseite von Miamedes sollen aktuell 32 Ärzte beim Unternehmen tätig sein.

Das Gesundheitsunternehmen Miamedes verfügt über mehrere Tochterfirmen neben der Miamedes MVZ GmbH, welche laut Handelsregister kürzlich den Namen in Sedemaim MVZ GmbH gewechselt hat und nun in Berlin ansässig ist. Anfang des Jahres berichtete die Hamburger Morgenpost (31. Januar 2025), für die HOA Hämatologisch-Onkologische Allianz Stormarn GmbH sei ein vorläufiges Insolvenzverfahren eröffnet worden (das aber offenbar wieder eingestellt wurde).

Im Februar 2025 wurde zunächst die Onkologische Praxis in Billstedt plötzlich geschlossen. Es folgte eine Schließung der Hausarztpraxis und der neurologischen Praxis in Barmbek sowie der Hausarztpraxis in Jenfeld. Die Hamburger Morgenpost berichtete am 18. Juli 2025, dass 26 Ärztinnen und Ärzte vors Arbeitsgericht gezogen seien, um ihre nicht gezahlten Gehälter einzuklagen. Zum damaligen Zeitpunkt sollen 14 Verfahren gegen die Miamedes MVZ GmbH gelaufen sein, weitere seien bereits entschieden oder anhängig. Offenbar warteten auch Vermieter und Dienstleister auf ihr Geld.

Ursachen des Dramas
Wenig thematisiert wird bisher von Politik und Medien, wieso es eigentlich zu solchen plötzlichen Gefährdungen der medizinischen Versorgung in einer Medizinhochburg wie Hamburg kommen konnte.
Auch früher gab es schon Insolvenzen von Arztpraxen, allerdings sehr selten. Meistens wegen persönlicher Probleme der Inhaber, Scheidungen und Privatinsolvenzen. Meistens wurden die Praxen trotzdem verkauft, und die Patienten konnten weiter behandelt werden. Das hat sich geändert.

Vorbild DDR-Poliklinik?
Im Jahr 2003 reichten SPD, CDU/CSU und Grüne einen gemeinsamen Entwurf für das GKV-Modernisierungsgesetz ein. Ziel sei, mit der Einführung von „Medizinischen Versorgungszentren“ (MVZ) Qualität und Effektivität der medizinischen Versorgung zu verbessern und dabei Kosten zu sparen. Sektorale Grenzen müssten überwunden werden. SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt schrieb in einer Pressemitteilung 2003: Verkrustete Strukturen müssten aufgebrochen werden, und durch die Reform werde die medizinische Versorgung stärker aus einer Hand erfolgen.

Als Vorbild für die neuen MVZ dienten die Polikliniken der ehemaligen DDR. Der Patient profitiere von einer besseren Abstimmung der Ärzte untereinander und den kurzen Wegen unter einem Dach. Außerdem könnten die Ärzte als Angestellte beschäftigt werden. Ulla Schmidt hatte keine Sympathie für „Freiberufler“. Deren wichtige Rolle in der ambulanten Versorgung sollte geschwächt werden.

Als Gründer von MVZ konnten tätig werden: zugelassene „Leistungserbringer“ im kassenärztlichen System, Ärzte, Krankenhäuser, aber auch Pflegefirmen, Apotheken, Optiker, Dialysezentren oder Physiotherapiepraxen. 2012 wurde im GKV-Versorgungsstrukturgesetz die Gründereigenschaft für neue MVZs auf zugelassene Kassenärzte, Krankenhäuser, Erbringer nichtärztlicher Dialyseleistungen und gemeinnützige Trägerorganisationen beschränkt. Es gab weder eine Begrenzung der Anzahl der Standorte noch eine regionale Begrenzung. Das ermöglichte eine bundesweite Konzernbildung. Es ist also nur nötig, eine sehr kleine Klinik aus einem weit entfernten anderen Bundesland zu erwerben, um dann als „Gründer“ in der Großstadt MVZs zu errichten.

Das bei der MVZ-Einführung als „wesentlich“ bezeichnete Konzept der fachübergreifenden Tätigkeit („kurze Wege unter einem Dach“, „alles aus einer Hand“) nahm die große Koalition aus CDU/CSU und SPD 2015 wieder zurück. (siehe dazu: Rainer Bobsin, Private Equity im Bereich der Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen in Deutschland). In der Folge schoss die Anzahl der MVZs in Deutschland massiv in die Höhe. Besonders beliebt bei MVZ-Ketten sind Fachgebiete wie operative Augenheilkunde, Zahnmedizin, Labormedizin, Radiologie, Strahlentherapie, Onkologie, Dermatologie, Dialyse, Kinderwunschzentren, u. v. W. m.
Außerdem hat inzwischen nahezu jede Klinik in Deutschland ein MVZ gegründet.

Spezielle Situation in Hamburg
Hamburg leidet seit vielen Jahren unter den Folgen einer weiteren „Gesundheitsreform“ von Ulla Schmidt: dem Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) von 2007.
Damals wurde der Spitzenverband Bund der gesetzlichen Krankenkassen gegründet. Damit wurden die regionalen Honorarverhandlungen der Kassen mit den KVen abgeschafft und durch bundesweite Verhandlungen mit einem jährlich im Voraus festgelegten Honorarbudget zwischen Spitzenverband und KBV im Bewertungsausschuss eingeführt. Man wollte die Macht der Kassen stärken. Gleichzeitig wurden die vorher bundesweit unterschiedlichen Punktwerte mit dem Rasenmäher egalisiert. Das führte in Hamburg mit traditionell höheren Punktwerten zu einer deutlichen Senkung des gesamten Honorarvolumens. Darunter leidet Hamburg noch heute.

Hamburger Hausarztmedizin geht den Bach runter
Für die Hamburger Hausärzte hatte außerdem die Aufteilung der Internisten in Haus- und Facharztinternisten im Jahr 2000 weitere dramatische Folgen: Es fehlten zehn Prozent im Hausarzttopf. Es wurde faktisch jede vierte Hausarztleistung von den Hamburger Krankenkassen bei bundesweit einmalig niedrigen Auszahlungsquoten um 70 Prozent nicht bezahlt. Bei ständig steigenden Kosten.

Hausarztpraxen vor allem im ärmeren Osten der Stadt, die jahrzehntelang ihre Patientinnen und Patienten gut behandelt haben, wurden langsam unverkäuflich.
Wegen erfolgloser Suche nach interessierten Nachfolgern haben dann immer mehr Praxen ihre Sitze an Kliniken, an MVZ-Ketten, Telemedizinpraxen oder auch Facharztpraxen verkauft. Mit dem Ergebnis, dass auf einem größeren Teil der Hausarztsitze keine echte Hausarztmedizin mehr gemacht wird.

Aufnahmestopp
Auch in Bergedorf hatten wir schon seit sehr langer Zeit keine Möglichkeit mehr, dauernd neue Patienten aufzunehmen. Und diese Situation betrifft alle anderen Praxen auch. Die Fallzahlen sind ständig gestiegen. Die Zechprellerei der Krankenkassen bei den niedrigen Auszahlungsquoten ist geblieben.
Mir hat schon das Herz geblutet, als ich erlebte, wie alteingesessene Hausarzt-Praxen oder auch eine urologische Praxis in Bergedorf an Miamedes oder andere Firmen verkauft wurden.

Aus Erfahrung kann ich sagen, dass man nur eine Chance hat, die Praxis an selbstständige Nachfolger weiterzugeben, wenn man diese Kolleginnen oder Kollegen selbst vorher als Fachärzte für Allgemeinmedizin ausgebildet hat.

Warum verkaufen die Kollegen?
Bei einer Veranstaltung saß ich neben einer Kollegin, die erzählte, dass sie an die MVZ–Kette verkaufen wolle. Sie und der Kollege würden sehr gern noch einige Jahre weiterarbeiten. „Aber die Arbeitsbedingungen der freiberuflichen Praxen in Hamburg haben sich immer weiter verschlechtert – und nun haben wir einfach keine Lust mehr.“ Dauernde neue bürokratische Auflagen, explodierende Kosten für die „Anwendungen“ der Telematikinfrastruktur, und die MFA-Abwerbungen durch Kliniken, die mehr Geld zahlen, hätten bei ihnen die MVZ-Entscheidung befördert.

Außerdem wollte sonst niemand die Praxis kaufen wegen des wenigen Geldes, welches man in Hamburg auch im Vergleich zu den umliegenden Bundesländern verdienen würde. Dass sich das mit der geplanten „Entbudgetierung“ für Hausärzte ändert, bleibt zu hoffen. Die gleichfalls notwendige bundesweite „Entbudgetierung“ für Facharztpraxen steht ja noch in den Sternen.

Politik und Kassen auf dem Holzweg
Seit Jahrzehnten hören wir aus Berlin: Unser Gesundheitswesen sei zu teuer, von mittelmäßiger Qualität und muss auf der Stelle grundlegend transformiert werden. In jeder Hinsicht hinkten wir hinter anderen Ländern hinterher. Bei der Digitalisierung sowieso, man schaue nur auf Estland, Dänemark oder Schweden. Und überhaupt: Die endlosen Wartezeiten auf Facharzttermine, und die Beitragssteigerungen der Kassen seien ja auch ganz dramatisch.

Seltsam: Jeder der schon mal im Ausland ein medizinischer Notfall war, weiß es besser. Alle kommen blitzartig in die Heimat zurück. Weil das System hier so abgrundtief schlecht ist?
In den meisten anderen Gesundheitssystemen gibt es ambulante Facharztpraxen gar nicht. Spezialisierte Facharzt- Medizin wird nur in den Kliniken angeboten, mit Wartezeiten teilweise von Jahren. Und dann auch nur, wenn ein Gatekeeper es genehmigt hat. Andererseits haben alle einen exorbitant teuren privaten Sektor dort. Da kostet dann eine Sonografie des Abdomens in London aber 530 Euro, nicht wie bei uns eine private Sono 58 Euro – und die gesetzliche 19 Euro, aber budgetiert!

Das Geld folgt der Leistung nicht!
In Deutschland sind alle Facharzt-Bereiche, die es früher nur in den Kliniken gab, wie Diabetologie, Rheumatologie, Onkologie, Endokrinologie, Gastroenterologie, Strahlentherapie, Dialyse, Schmerzmedizin, Neurochirurgie, interventionelle Kardiologie, und viele weitere im gut erreichbaren ambulanten Sektor. Mit Termin-Wartezeiten, von denen die meisten anderen Länder nur träumen würden. Aber das Geld ist der Leistung nicht gefolgt!

Die Hausarztpraxen sind oft auch gut ausgestattet, machen keine „Barfußmedizin“ und können mit ihrer eigenen Technik viele Diagnosen selbst stellen. Und man sieht den Arzt, nicht nur die Nurse! Wartezeiten auf Operationen sind kurz. Für alle. Es gibt Unterschiede bei den Wartezeiten für gesetzlich und Privatversicherte. Da die Privatversicherten aber nur einen Anteil von zehn Prozent ausmachen, sind die anzahlmäßig gar nicht in der Lage, die Termine für die gesetzlich Versicherten allzeit zu verstopfen.

Die ambulanten Ärzte versorgen 97 Prozent aller Behandlungsfälle in Deutschland. Seit Jahrzehnten für nur 16 Prozent aller Kassenausgaben. Alle anderen Bereiche des Systems haben überdurchschnittliche Kostensteigerungen. Kliniken, versicherungsfremde Leistungen, neue Medikamente.

51 500 Hausärzte und die doppelte Anzahl von Fachärzten (!) und 34 000 Psychotherapeuten behandeln die Bevölkerung. Der ambulante Sektor ist also unschlagbar kostengünstig. Trotzdem sollen jetzt nochmal zwei Milliarden Euro bei den Fachärzten eingespart werden. Und wie?

Steuerung macht Termine?
Steuerung durch ein „verpflichtendes Primärarztsystem“. Dieses wird sicher nicht in der Lage sein, plötzlich mehr Termine in den Facharztpraxen herbeizuzaubern. Aber in Wirklichkeit geht es ja auch eigentlich nur darum, dass man dort, am falschen Ende, noch mehr sparen möchte. Und wie man das Wunder zustande bringen will, einen neuen Flaschenhals in den Hausarzt-Praxen bei jetzt schon 5181 unbesetzten Hausarztsitzen zu vermeiden, das bleibt auch das Geheimnis des neuen Koalitionsvertrags in Berlin.

Eine einzige Empfehlung würde reichen: Bezahlt die ambulant tätigen Ärztinnen, Ärzte und Psychotherapeuten anständig zu 100 Prozent wie jede andere Berufsgruppe auch. Und hört auf, nur auf Kliniken, möglichst große Einheiten, andere Berufsgruppen, Telemedizin und angestellte Ärztinnen und Ärzte zu setzen. Die hohe intrinsische Motivation der selbständigen Ärztinnen und Ärzte war und ist (noch) ein Schatz in unserem System. Lassen wir diesen Schatz nicht ganz verschwinden!

DR. SILKE LÜDER, Fachärztin für Allgemeinmedizin. Mitglied der Delegiertenversammlung der Ärztekammer Hamburg. Stellvertretende Bundesvorsitzende Freie Ärzteschaft e.V.

 

LESERBRIEF SCHREIBEN
redaktion@kvhh.de